Читать книгу BOHÈME - Jonas Zauels - Страница 10
DREI
ОглавлениеFrankreich. Nein, Paris. Das schöne Paris. Die Stadt der Liebe, der Einzigartigkeit, die Stadt der Künste! Arthur kann es gar nicht erwarten, aus dem Flieger zu steigen und endlich wieder in seine geliebte Stadt zu stürmen. Die herrlich, dick warme Luft, die Menschenmassen, die Autos, der Verkehr und das stetige Hupen und Rauchen. Zwei Jahre Grönland, Kälte und fremde Kultur liegen hinter ihm. Zwei Jahre ohne viel Kontakt zu seiner Heimat. Die langen zotteligen Haare gehen nahtlos in den dichten, langen Bart über und umhüllen das braune, sonnengegerbte Gesicht. Die Klamotten sind verwaschen, viel zu warm und passen ganz offensichtlich nicht zu dem schicken Pariser Sommer-Stil. Das einzige Gepäckstück ist ein großer Rucksack, an dem jede Menge Gegenstände herunterhängen. Wie der streunende Hund eines Penners wird er angeguckt, vielmehr auffällig angestrengt ignoriert. Bloß nicht hinsehen, bloß nicht in die Augen.
Die Pariser sind unhöflich, grüßen nicht, helfen nicht, machen sich keine Gedanken um ihren Nächsten. Es herrscht Anonymität. Endlich wieder ein Ort, an dem man alleine sein kann, an dem man seine Ruhe hat.
„Zur Rue Bonaparte, sechstes Arrondissement bitte.“
„Raus! Hier gibt es keine Freifahrten!“, feuert der Taxifahrer gleich mit hartem Akzent los und macht Anstalten, Arthur mit ungeschickten Bewegungen zum Gehen zu bringen. Dieser hält ihm schnell einen Schein entgegen, lächelt freundlich und genießt die bunten Lichter von Paris in der aufgehenden Nacht, während sich das Taxi quälend langsam durch den zähen, grauen Verkehr drängelt. Der schlechtgelaunte Fahrer schwatzt irgendetwas Unverständliches in sein Funkgerät. Irgendetwas Unverständlicheres kommt zurück und Arthur fühlt sich so zu Hause wie lange nicht mehr. Wie sehr hat er doch diese wunderbar kaputte Stadt vermisst!
„Hier ist es, hier können Sie mich rauslassen“, wendet er sich nach fast einer Stunde Fahrt an den Mann am Lenkrad, welcher noch gut zweihundert Meter weiterbraust, um dann plötzlich voll in die Eisen zu gehen.
„Herzlichen Dank, schönen Abend noch!“, wünscht der Junge halb ironisch, doch der Taxifahrer hört nicht hin und rast, sobald die Tür wieder zu ist, schon weiter. Arthur blickt sich um, schlendert entspannt an den schönen Häuserfassaden mit den eingefahrenen Markisen entlang, hin zu der Wohnung, die er vor fast genau zwei Jahren so erwartungsvoll verlassen hat.
Es ist dunkel im dritten Stock. Dunkel und warm. Die Luft ist stickig und ein Hauch von fremdem Parfum liegt in ihr. Arthur stellt seinen Rucksack ab und öffnet ein Fenster. Sofort dringt die Musik von der Straße herein. Motoren. Stimmen. Irgendwo bellt ein Hund. Dazu die warme Abendluft. Arthur bleibt im Dunklen am Fenster stehen und blickt fasziniert auf das Lichtermeer, das sich vor ihm in regelmäßigen Wellen ausbreitet, nie zur Ruhe kommt.
„Hände hoch und keine Faxen!“ Arthur erschrickt.
Unbemerkt ist jemand hinter ihn getreten und hält ihm einen harten Gegenstand an den Rücken. „Ich werde nicht zögern abzudrücken!“, ruft der Unbekannte laut und selbstsicher, während Arthur die Stimme trotz der Überraschung endlich zuordnen kann.
„Ferdinand, ich kann mir schlecht vorstellen, dass sich was an deinem Pazifismus geändert hat“, lacht Arthur gelassen und dreht sich um. Vor ihm steht der junge Mann sprachlos erstarrt mit erhobener Karotte in der Hand.
„Nicht möglich! Arthur! Bruderherz, wie siehst du denn aus?“
„Und du erst. Sieh dich an, kein Stück verändert, wie ist das nur möglich.“
Das Licht geht an, als die beiden sich drücken, und eine junge, schöne Frau betritt, in einen Bademantel gehüllt, verschlafen und entgeistert die Szene.
„Was ist hier los, Ferdinand? Komm wieder ins Bett.“
„Deine Freundin?“
„Was? Nein. Monique, das ist Arthur, mein Bruder. Wir haben viel zu besprechen, am besten gehst du jetzt. Ich rufe dich dann an, okay?“
„Monique, die Monique von Ricardo?“, wendet sich Arthur leise an Ferdinand, während das Mädchen wutschnaubend ihre Klamotten zusammenrafft.
„Lange Geschichte. Komm erst mal rein, willst du was trinken? Was essen? Oh Mann, ist das lange her!“
„Immer noch der Alte, was?“
Die beiden Brüder unterhalten sich, bis der Morgen langsam im dichten Nebel über der Stadt graut. Die verstaubten britischen Platten von den Kinks bis hin zu Supertramp rauschen fast ungehört an den beiden vorbei. Arthur redet von seiner Reise und versucht die zwei Jahre voller Erlebnisse zusammenzufassen. Ferdinand redet über seine Schauspielpläne, darüber, wie schwer es ist, einen Fuß in das Business zu bekommen und darüber, dass Ricardo ihm die Rolle geklaut und er sich daraufhin Monique vorgenommen hat.
Vor der Reise waren die beiden Brüder unzertrennlich, haben alles gemeinsam gemacht, zusammen gewohnt, hatten die gleichen Freunde und die gleichen Interessen. Bis eines Tages die Zusage für Arthurs Feldstudie über Schamanismus und Neo-Schamanismus im eisigen Grönland kam.
„Sozusagen auf den Spuren von Merete Demant Jakobsen“, lacht Arthur, nicht ohne Stolz. Ferdinand versteht kein Wort.
Zwei Jahre, die aus den beiden Brüdern eigenständige Menschen gemacht, sie dazu gezwungen hat, ihr individuelles Leben zu führen, ihren eigenen Wünschen und Träumen nachzujagen, ohne einander gleichermaßen zu stützen wie zu behindern.
Als Arthur am Nachmittag im weichen, für die Jahreszeit viel zu warmen Federbett aufwacht, ist Ferdinand schon weg. In der Küche liegt eine kleine Notiz:
Komm heute Abend in den Club!
Ferdinand hat die Wohnung umgestaltet. Überall hängen Bilder und Poster von Theaterstücken wie Molières Don Juan oder Sartres Les Jeux sont faits, die sich wohl nicht mehr widersprechen könnten. Es herrscht fahrlässige Unordnung. Klamotten, Bücher, Theater-Manuskripte, Schallplatten. Jeder Menge Kleinkram, den man nicht weiter zuordnen kann.
Arthur geht ins Bad, um zu duschen. Es ist lange her, dass er sich das letzte Mal richtig im Spiegel betrachtet hat. Sein Haar bedeckt einen Großteil seines Gesichts. Seine Haut ist braun, sieht um die jugendlich leuchtenden, grünen Augen unnatürlich alt aus. Als würde ein ganzes Leben hinter ihm liegen. Freude gleichermaßen wie Furcht, großes Glück gleichermaßen wie die schweren Rückschläge. Die Haut ist die ehrliche Leinwand des Lebens. Sie trägt eine Wahrheit, vor der sich Arthur mit aller Mühe zu verstecken sucht.
Er ist ein Leben älter als vor zwei Jahren. Er ist ein anderer geworden. Die Frage, ob er wirklich noch in seine geliebte Pariser Welt passt, verdrängt er, stutzt sich nach dem Duschen säuberlich den viel zu lang gewordenen, sich als Schutz vor der Kälte verdient gemachten Bart – nicht zu viel, sodass die blasse Haut darunter nicht zu sehr zum Vorschein kommt. Dann streift Arthur sich ein paar Klamotten seines Bruders über.
Er kramt aus seinem noch immer nicht entleerten Rucksack die Unterlagen und Notizen der letzten Monate heraus. Zuletzt war er bei einer kleinen Schamanen Gruppe im Westen Grönlands. Eine liebenswerte Gemeinschaft, auf der Suche nach Verbundenheit mit der Natur, der Welt, den Menschen, dem Übersinnlichen. Die Schamanen versuchen durch Ekstase, durch Sinneserweiterung eine Bindung zu einer übernatürlichen Welt herzustellen, wobei sie häufig auf Hilfsmittel wie Halluzinogene, rhythmische Musik, Gesang und Tanz zurückgreifen, um einen Tranceähnlichen-Zustand zu erreichen. Es hat lange gedauert, bis ich als Außenstehender an einer solchen Prozedur teilnehmen und sie beobachten durfte. Es war eine gleichermaßen faszinierende, wie auch beängstigende Erfahrung, den ekstatischen Schamanen in die milchig-grauen Augen zu blicken, während sie sangen, brabbelten, gar schrien, die Gliedmaßen in alle Richtungen streckten. In gewisser Hinsicht ist das dem Streben jugendlicher Hitzköpfe nach transzendentaler Erfahrung durch Exctasie, Speed oder LSD auf kommerzialisierten Goa-Partys gar nicht unähnlich. Ob man es Spiritualismus, Religion oder Rave nennt, spielt keine Rolle. Auch Traditionen und Bräuche stellen dabei keinen entscheidenden Unterschied dar. Nur der Zweck – der Rausch an sich bei den feiernden Jugendlichen und, im Gegensatz dazu, die erstrebte Harmonie und Balance mit der Welt und sich selbst bei den Schamanen – bilden einen grundlegenden Kontrast.
Arthur vergisst über seine Notizen und seine aufkommenden Erinnerungen ganz die Zeit, und so ist es schon spät, als er beschließt, noch in den Club zu gehen, um ein paar alte Gesichter wiederzusehen. Als er gerade seine Schlüssel zusammensucht, klopft es an der Tür. Verwundert über den späten Besuch, öffnet er vorsichtig. Im Türrahmen lehnt, mit einem großen Lächeln auf dem Gesicht und ebenso großen Pupillen, Laetitia.