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ZWEI

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Ein schriller Wecker klingelt. Ich drehe mich träge um, drücke mir ein samtweiches Kissen auf den Kopf. Das Klingeln will nicht aufhören. Genervt richte ich mich auf und schmeiße den Wecker auf den Boden. Ein letzter Klang, ein verstummender Schrei – dann ist es ruhig. Was soll das auch? Es sind Ferien. Weshalb aufstehen?

Ich versuche an meinen Traum anzuknüpfen. Eine große Villa. Ein Pferd. Ein Whirlpool voller Schaum. Wie schnell man so etwas doch wieder vergisst! Ein großes Frühstück. Ich bekomme unfreiwillig Hunger.

Wann habe ich das letzte Mal etwas Richtiges gegessen? Mein Bauch kämpft gegen meine Müdigkeit. Frühstück. Irgendetwas habe ich übersehen. Es kommt mir vor, als habe ich etwas wichtiges geträumt, und umso mehr ich versuche, daran zu denken, desto weiter rückt es in die Ferne.

Ich erschrecke. Senkrecht stehe, nein, senkrecht sitze ich im Bett. Frühstück. Um acht. Ich gucke mich um. Ein großes, hell erleuchtetes Zimmer liegt vor mir und ich in einem purpurfarbenen Bett. Durch die kreisrunden Fenster scheint grell die Morgensonne. Die Erinnerungen kehren langsamer zurück als mir lieb ist. Irreal wirkt alles um mich herum. Ich blicke verstört auf den Wecker am Boden, bin mir nicht sicher, ob ich ihn selbst gestellt habe oder jemand anderes.

Halb acht. Ich schäle mich mühselig aus dem Bett und gucke mich in dem großzügigen Zimmer um. Auf dem Boden liegt mein Bademantel; instinktiv ziehe ich ihn über, um nicht nackt in einem fremden Haus zu stehen. Er ist noch feucht von dem nächtlichen Bad. Die frische Kälte bringt mir Klarheit. Florence. Familie Dupont. Ich muss meine Rolle spielen, um nicht aufzufallen. Ich fühle mir über den Kopf. Kurze Stoppel begrüßen mich prompt. Richtig, die Haare sind ja ab. Im Kleiderschrank, sofern man das Schrank nennen kann, greife ich nach meiner weißen Bluse und schwarzen, engen Hose, in der Hoffnung, ins Bild zu passen.

Es ist fast Acht, als ich aus dem kleinen Appartement trete und einen langen Gang mit verschiedenen Türen vor mir finde. Angestrengt versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, auf welchem Weg ich hier hingekommen bin und taste mich vorsichtig durch den Flur. Ich erkenne ein Bild wieder, welches eine halb nackte, dickliche Frau abbildet, folge einem Weg, der nach rechts abgeht. Nach ein paar Metern biege ich links ab, gehe eine Treppe hinunter, dann geradeaus vorbei an einer schimmernden Ritterrüstung, die mir leider gar nicht bekannt vorkommt, bis ich schließlich in einem Innenhof lande. Um mich herum blüht es in hundert Farben; ein leises Plätschern verrät den kleinen Brunnen in der Mitte. Die Luft ist herrlich frisch und warm.

„Natürlich braucht man auch einen Innenhof“, murmele ich gedankenverloren vor mich hin.

„Mademoiselle Fontaine, wo bleiben Sie denn?“

Ich drehe mich erschrocken um. Vor mir steht die Haushälterin, deren Name ich vergessen habe. Ich bin mir im ersten Moment nicht sicher, ob sie wirklich mich meint.

„Ach, ich – ich, ähm, ich hab mich hier irgendwie verlaufen.“

„Nun los! Kommen Sie schon, die Herrschaften warten bereits! Haben Sie denn Ihre Sonntagsgarderobe nicht an?“

Ich folge nervös, ohne auf die rhetorische Frage einzugehen. Jetzt gleich wird es soweit sein. Ich werde meine falschen Gasteltern kennenlernen. Was ist, wenn sie wissen, wie Florence, die echte Florence, aussieht? Ich stelle mich darauf ein, gleich wieder hinauszufliegen. Das Missverständnis wird man auf Verständigungsprobleme schieben können, auf ein falsches Schild vom Taxifahrer oder Ähnliches. Die Haushälterin geht mit bestimmtem Schritt durch die verzweigten Flure, als wäre sie in ihrem Leben nie woanders gewesen. Ich folge ihr scheu und staune nicht schlecht, als wir plötzlich in einem prächtigen Saal mit ungreifbar hohen Decken stehen. In der Mitte ist eine Tafel angerichtet; an ihr sitzen ein Mann, eine Frau und ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter sein wird und überraschenderweise genauso wenig ins Bild passt wie ich. Alles ist prunkvoll und prächtig gestaltet. Die bemalten Fenster erinnern an Kirchenfenster, lassen dennoch genug Licht hinein, um den Saal hell erstrahlen zu lassen. An den Wänden hängen weitere goldgerahmte Bilder. In der Ecke steht eine meterhohe Standuhr, die ein gemächliches Ticken von sich gibt, während das Pendel unbeirrt von Seite zu Seite schwingt.

„Florence! Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen!“ Der bleiche Mann steht eilig auf, schmeißt dabei fast seinen großen Holzstuhl um. Er küsst mich energisch auf die Wangen; die Knochen unter der Haut treffen unangenehm aufeinander. Dann geleitet er mich zu einem leeren Stuhl und bittet freundlich darum, dass ich mich setze. „Ich bin Gabriel Dupont, und das ist meine liebe Frau Camille. Camille Dupont, quasi das Herz dieser schönen Einrichtung.“

„Es freut mich sehr …“, bringe ich gerade noch über die Lippen, als der munter gestimmte Mann schon fortfährt: „Und das ist unsere entzückende Tochter Laetitia. Sie ist einundzwanzig, also genau so alt wie du, nicht wahr?“

„Ja klar, genau“, stimme ich zögernd zu und habe damit zu meinem neuen Namen auch noch ein neues Alter. Neunzehn oder einundzwanzig – macht auch keinen großen Unterschied mehr. Das Mädchen sieht viel jünger aus. Außer einem flüchtigen Blick – womöglich Ausdruck ihres Erstaunens – scheint sie gelangweilt und desinteressiert.

„Aber Kind, was hast du denn nur mit deinen Haaren angestellt? Wir werden dir eine Perücke besorgen müssen“, platzt es aus Madame Dupont heraus, die mich abschätzig begutachtet. Im Kontrast zu ihrem Mann wirkt sie sehr jung und im Gegensatz zu seinen weichen Gesichtszügen, beinahe wie versteinert.

„Nicht doch, aber nein, meine liebe Frau. Du weißt doch wie die Jugend ist, das ist sicher gerade so im Trend bei euch, richtig Florence?“, wendet sich der gutmütige Mann wieder an mich.

„Richtig“, stammle ich und muss mir unwillkürlich meine Freunde aus der Heimat mit kurzgeschorenen Haaren vorstellen.

„Ich finde das nicht so komisch“, antwortet die Hausherrin auf mein unfreiwilliges Lächeln. „Die Jugend muss auf die Eltern hören. Und dazu gehört es auch, anständig herumzulaufen. Nicht wahr, Laetitia?“

„Ja, Mama. Ich werde später mit Florence ein paar feine Klamotten besorgen.“

Laetitia ist ein hübsches Mädchen in grauen, fürchterlich charakterlosen Klamotten. Die dunklen Haare sind sorgfältig zurückgekämmt und mit einem farblosen Haarreif fixiert. Sie scheint, wie alle hier, in vergangener Zeit stecken geblieben zu sein. Nur die schwarzen, frechen Augen passen nicht zu der biederen Erscheinung.

„Sehr gut“, fällt wieder der Vater ein. „Lasst uns frühstücken, es ist schon spät.“

Ich weiß nicht genau, ob die Tochter naiv und dumm oder doch gerissen ist, vergesse den Gedankenzug jedoch schnell wieder, als ich das großzügige, büffetartige Frühstück auf dem Tisch realisiere.

„Nun Florence, hattest du eine angenehme Reise?“, wendet sich Monsieur Dupont wieder an mich und mustert mich etwas zu intensiv für meinen Geschmack.

„Aber ja, sie war erträglich.“ Ich fühle mich unwohl in dieser fremden Umgebung, unter einem falschen Namen. Bei jeder Frage erwarte ich, aufzufliegen und gleich wieder weggeschickt zu werden. Doch das restliche Frühstück verläuft, zu meiner Beruhigung, eher schweigsam. Nachdem die Mutter Laetitia und mich für den Nachmittag verabredet hat, werde ich von der Haushälterin wieder in mein Zimmer geleitet.

Ich richte mich ein bisschen ein. Nicht zu sehr, damit ich, wenn nötig, schnell wieder packen und abreisen kann. Viel habe ich ja ohnehin nicht dabei. Eine heimliche Abreise schwebt mir schon seit dem Morgen im Kopf herum. Bevor ich mich hier verzettele, werde ich schon irgendetwas anderes finden. Doch das Bett mit den weichen Kissen zieht mich in seinen Bann, ehe ich einen Plan fassen kann. Überhaupt – wie sollte ich jemals den Weg aus diesem Labyrinth finden?

Schläfrig wälze ich mich in den purpurfarbenen Laken. Florence. Ja, vielleicht ist das ja genau der richtige Weg, um mich hier einzuleben. Ein paar Tage in dem prächtigen Haus, dann werde ich mir etwas Neues suchen. Man muss Kontakte knüpfen. Die Stadt kennenlernen. Pariser Luft schnuppern.

Um Punkt drei klopft es. Ich muss eingeschlafen sein. Zumindest weiß ich nicht, wie die letzten Stunden so schnell vergehen konnten. Ich schlürfe zur Tür und öffne sie, bemüht einen weniger verschlafenen Eindruck zu machen. Laetitia steht ungeduldig vor mir. Ganz in elegantem Schwarz gekleidet, sieht sie plötzlich gar nicht mehr so mäuschenhaft aus, sondern – ganz im Gegenteil – wie eine geschmackvolle Dame. In gleicher Weise erwachsen und jugendlich. Eine schwarze Bluse mit dezenten Spitzen geht fast nahtlos in eine breite, tiefschwarze Schlaghose über, worunter hochhackige Schuhe in derselben Farbe hervorragen und Laetitia die Möglichkeit geben, von oben auf mich herabzublicken.

„Na guck nicht so verdutzt, die Eltern sind aus dem Haus.“

Als sich auf meinem Gesicht wohl immer noch keine Besserung zeigt, fügt sie hinzu: „Wie siehst du eigentlich aus?“

Mir wird bewusst, dass ich völlig zerknittert im Bademantel vor ihr stehe und es mir tatsächlich unangenehm ist.

„Komm doch rein, ich mache mich schnell frisch“, sage ich und realisiere schon im Sprechen, dass das ja eigentlich nicht mein Zimmer ist. „Oder, keine Ahnung, ist das angebracht? Immerhin wohnst du hier und nicht ich.“

„Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, ich hab dir was mitgebracht, zieh ich eh nicht mehr an. Das Geld von Mama können wir besser nutzen als es für deine Klamotten auszugeben.“

Sie reicht mir eine schwarze Stoffhose, die mir bis zum Bauchnabel reicht und wohl bei jeder beliebigen Figur die Hüfte unvorteilhaft betonen würde. Darüber ein weißes Hemd und ein schwarzer Cardigan, der für das Wetter eigentlich ein bisschen zu warm ist.

Ich finde, ich sehe knabenhaft aus. Laetitia bezeichnet es als burschikos und meint, das wäre gerade voll im Trend oder so. Ob sie das ernst meint oder mich bloß vorführen will, weiß ich nicht genau, ist mir letztendlich aber auch gleichgültig.

„Sag mal, wegen deiner Eltern, bist du –?“, frage ich vorsichtig.

„Was denkst du denn?“, handelt Laetitia das offensichtliche gleich ab.

„Also gut, wo gehen wir hin?“, frage ich, als ich mich so gut wie möglich zurechtgezupft habe und das Mädchen schon ihre dritte Zigarette in einem Blumentopf ausdrückt. Bei der ersten habe ich mir gedacht, ist ja nicht mein Zimmer, bei der zweiten, ich schlafe hier, also könnte ich eigentlich auch was sagen und bei der dritten, jetzt ist es eh zu spät. Sie sieht sehr elegant aus, wenn sie raucht.

„Ach, du schminkst dich gar nicht?“, antwortet sie und geht, ohne eine Antwort abzuwarten an mir vorbei durch die Tür.

„Okay, hör zu“, beginnt Laetitia, als wir aus der prächtigen Haustür heraustreten und ein Taxi schon auf uns wartet, „ich habe echt keine Lust, Kindermädchen zu spielen. Ich nehme dich mit, damit Mama zufrieden ist, aber halte dich zurück. Das hier ist meine Welt.“

Auch, wenn ich sie wohl nicht mögen sollte, bin ich ziemlich angetan von diesem Mädchen. Die perfekte Tochter. Und sobald die Eltern das Haus verlassen, plötzlich ein ganz anderer Mensch.

Ich blicke gedankenverloren durch das Fenster und die vorbeifliegende Stadt zieht mich unmittelbar in ihren Bann. Alte, hohe Gebäude aus graubraunem Stein mit abgerundeten Ecken und einem Balkon mit Stein- oder Metallbrüstung an jedem einzelnen Fenster. Im Erdgeschoss eine nicht enden wollende Reihe Geschäfte, eine Boutique nach der nächsten und dazwischen – immer mal wieder – eine kleine Bäckerei oder ein edles Restaurant. Männer im Anzug und Frauen in feinen Kleidern. Dazu der Lärm von Motoren und Hupen und das endlose französisch Gequassel aus dem Radio.

Wir stehen falsch herum in einer Einbahnstraße, als der Taxifahrer uns aussteigen lässt, weil ihm ein Auto entgegenkommt.

„Ist gleich da vorne“, sagt Laetitia mehr zum Taxifahrer als zu mir und zeigt auf eine kleine, vornehm gekleidete Menschentraube, die vor einem Hauseingang mit großen Schaufenstern steht.

Kaum sind wir bei dem Grüppchen angekommen, begrüßt Laetitia alle um sie herum, und mich befällt das Gefühl, skeptisch gemustert zu werden. So oder so fühle ich mich hier nicht sehr wohl. Alle sind fein gekleidet, dank der hohen Schuhe mindestens zwei Köpfe größer und auf den ersten Blick ziemlich hochnäsig. Ich habe den Eindruck, der Mode-Elite von Paris ausgeliefert zu sein und statt unauffällig und ungesehen am Rande zu stehen, wie es Felicia wohl ergangen wäre, stehe ich, Florence, mittendrin und werde betrachtet, wie ein Hummer im Restaurant-Aquarium.

„Laetitia, da bist du ja endlich!“, drängt sich ein junger Mann in meine Gedanken und drückt dem Mädchen einen Kuss auf jede Wange und ein Glas Sekt in die Hand. Er ist groß und schlank, hat braune ungezähmte Locken und einen ebenso ungezähmten Ausdruck in seinen Augen.

„Und Hallo! Wen haben wir denn hier? Deine Augen, Wahnsinn!“, wendet er sich in verunsichernder Direktheit an mich, schnippt sogleich einen Kellner mit einem Tablett zu sich herüber und reicht auch mir ein Glas, nicht, ohne sich mit zahlreichen Wangenküssen vorzustellen: „Ferdinand Cantalloube, Schauspieler, Künstler und ein guter Freund der Ausstellerin.“

„Florence, einfach nur Florence.“

„Wie kommst du zu so einem Schmuckstück“, wendet er sich wieder an Laetitia und vertieft sich mit ihr gleich in ein Gespräch über neueste Ereignisse, mit denen ich nichts anfangen kann.

„Ich war also bei der Audition, habe mir den Arsch aufgerissen, um diesen Bösewicht von Théo zu spielen. Verdammt, mir sind sogar fast die Tränen gekommen, weil ich so überzeugend war! Na jedenfalls taucht dann dieser Schnösel auf, Ricardo, und der –“

„Ricardo? Der Ricardo? Der Freund von Monique?“

Auf der Suche nach einem neuen Glas Sekt oder einer anderen Beschäftigung als neben zwei Fremden zu stehen und zusammenhangslosen Geschichten zu lauschen, mache ich mich auf den Weg in die kleine Galerie. Große Leinwände mit teils bunten, teils schwarz-weißen Motiven zieren die Wände. Abgebildet sind reale Gegenstände oder Personen, die aber meist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt sind. Von einem kleinen Tisch nehme ich mir ein volles Glas und streife langsam an den Werken vorbei. Die Galerie ist fast leer, alle stehen draußen und scheinen eher für das Event als für die Kunst hier zu sein. Vor einem Clown am Kreuz bleibe ich verstört stehen. Ich blicke auf das kleine Schild, um mehr zu erfahren.

Audrey Chevalier, ‚Clown am Kreuz‘ – 9500,-

Sehr hilfreich. Der Clown blutet Konfetti und trägt sein falsches Grinsen breit im Gesicht, während eine kleine, von der Schminke bunte Träne über sein Gesicht rollt. Auf dem Kopf trägt er statt einer Dornenkrone ein Luftballongebilde mit ähnlicher Form.

„Gefällt es dir?“ Eine junge Frau ist neben mich getreten. Sie lächelt mir freundlich zu, als ich sie kurz anblicke und dann gleich wieder den Clown, um ihn nicht aus den Augen zu lassen.

„Es ist, ähm, speziell. Ehrlich gesagt, mag ich keine Clowns.“

„Ja, es hat schon etwas Skurriles. Aber auch eine mächtige Anziehung, findest du nicht?“

„Wenn man die Verkörperung von Gott in einem toten Clown anziehend findet, dann sicherlich, ja. Es ist schön gemalt, keine Frage, die klar abgetrennten Konturen, die subtile und doch so reale Farbgebung, der sichere Pinselstrich, wirklich nicht von schlechter Hand. Doch thematisch irgendwie leicht verstörend. Ein Jesus-Clown, jetzt mal im Ernst, wer kommt auf so was?“

„Du weißt nicht, wer ich bin, oder?“ Ihre Stimme klingt gar nicht mehr freundlich. Eher gekränkt. Ich wende mich ihr langsam zu. Sie trägt mit Abstand das schönste und auffälligste Kleid und die aufwendigste Frisur, auf jeden Fall. Ihr hochgestecktes Haar wird durch unzählige Nadeln mit kleinen Perlen zusammengehalten.

„Du, ähm, ich meine, Sie sind die Künstlerin, nehme ich an?“ Verwundert bin ich nicht darüber, dass gerade ich in das erstbeste Fettnäpfchen gestapft bin.

„Audrey Chevalier“, stellt sie sich vor und zwinkert mir zu. „Immerhin mal eine ehrliche Meinung. Die oberflächlichen Kritiken von den üblichen“, sie zeigt mit dem Kopf auf die Straße in Richtung Laetitia, „kann man ja auch nur begrenzt ernst nehmen. Zu viel Angst um den eigenen Stand, dass man sich lieber der Meinung der Masse anpasst und stattdessen hinter vorgehaltener Hand lästert. Spätestens im Club gibt es die ehrlichen Kritiken. Aber die richten sich natürlich nie direkt an mich.“

Sie ist diese Art von Frau, der auf der Straße wohl jeder hinterherblicken würde. Ein Juwel an Eleganz und Schönheit, gepaart mit souveränem, selbstbewusstem Auftreten, das jeden in ihrer Umgebung klein erscheinen lässt. So geht es zumindest mir.

„Florence. Eine Freundin von Laetitia“, stelle ich mich vor.

„Oh, Laetitia, sie ist da sicher eine Ausnahme.“

„Sicher nicht“, zwinkere ich jetzt ihr zu und fühle mich im selben Moment wie ein naives Kind. Als hätte sie mir den Ball extra so zugespielt, dass ich mich nicht schlecht fühlen muss. Umso kleiner fühle ich mich jetzt, und umso überlegener wirkt nun sie.

„Du verstehst also was von Kunst?“ Wie kann nur eine freundliche Frage so verlegen machen?

„Ich, ähm, ich male selbst ein wenig.“

„Tatsächlich, dann musst du mir mal etwas von dir zeigen.“

Ich nicke schüchtern. Abgesehen davon, dass ich nicht einmal ein Bild hier in Paris habe.

„Also Florence, willst du später mit in den Club?“, greift Audrey die kurze Stille gleich wieder auf.

„Ich weiß nicht genau, was der Plan ist. Aber ja klar, warum nicht.“

„Nimm deine Freundin ruhig mit.“

Sie macht es einem schwer, ihr irgendetwas abzuschlagen.

Audrey hat noch andere interessierte Gäste, also gehe ich mit zwei neuen Gläsern Sekt wieder zu den anderen auf die Straße. Alle rauchen. Ich glaube, das ist hier eine Mode-Erscheinung, die jeder bereitwillig mitmacht.

„Sekt?“, biete ich dem schönen Ferdinand das Glas an, der es überrascht, aber dankend annimmt.

„Santé! Die fantastische Audrey hast du schon kennengelernt, wie ich gesehen habe?“

„Ja, sie ist wirklich beeindruckend.“

„Nicht wahr? Genau wie ihre Kunst. So neoavantgardistisch.“ Ich nicke beiläufig und nippe an meinem Glas. Eigentlich vertrage ich nicht viel, doch der Sekt schmeckt zu gut.

„Geht ihr denn gleich in den Club?“, frage ich Ferdinand und Laetitia.

„Der Club ist exklusiv“, erwidert das Mädchen gleich und kann sich ein abschätziges Schmunzeln nicht verkneifen.

„Da kommen nur geladene Gäste rein.“ „Nimm es nicht persönlich Schätzchen, der Club gehört den Chevaliers“, redet mir Ferdinand indes freundlich zu. „Audrey kann damit also machen, was sie möchte. Und die ist schon sehr speziell, wenn es darum geht, wer reinkommt.“

„Und wenn sie mich eingeladen hat?“

„Nicht möglich!“, lacht Laetitia. „Audrey Chevalier würde einen Neuling wie dich im Leben nicht einladen! Nicht einmal ich war dort drin, und ich bin seit zwei Jahren auf jeder Veranstaltung von ihr.“

„Sie meinte, ich kann dich mitbringen.“

„Sie meinte was?!“ Laetitia ist komplett entgeistert und wird wohl nie wieder mit mir reden. – Was eigentlich nicht allzu schlimm ist. Dass sie natürlich mitkommt, um auf mich aufzupassen, ist das einzige, das sie noch in meine Richtung fallen lässt.

Der Club, der kreativerweise Le Club heißt, ist ein wahrer Wanderzirkus. Wo man auch hinguckt, sind bunte Gestalten mit aufwendigen Kleidern oder feinen Maßanzügen, mit bunten Frisuren und skurrilen Accessoires. Musik, die sich anhört wie beatunterlegter Chanson, säuselt angenehm laut durch die dunklen Boxen, während das Publikum nur vornehm zurückhaltend mitwippt und sich an bunte Cocktailgläser und an lange, dünne Zigaretten klammert. Laetitia macht den Eindruck, im siebten Himmel zu sein. Aufgeregt wedelt sie mit ihrem feinen Stil durch die steingemauerte Lokation von Gast zu Gast und scheint jeden zu kennen und zu achten. Mich wundert es sehr, dass sie nicht früher schon einmal hier gewesen ist.

Auf einer mit rotem Kunstleder bezogenen Couch mache ich es mir bequem und versuche mich von dem Alkohol auszuruhen. Mir ist nicht schlecht, aber ich merke, wie mein Kopf matt und langsam wird. Nach nicht einmal zwei Minuten kommt allerdings Ferdinand schon wieder mit zwei Martini Gläsern an und setzt sich zu mir.

„Wir müssen damit aufhören, sonst komme ich heute nicht mehr nach Hause“, sage ich streng und nehme das Getränk an mich.

„Warum hängst du denn so in den Seilen? Willst du was nachlegen?“

„Nachlegen?“

„Koks, Schätzchen“

„Oh nein, nein, so etwas mache ich nicht.“

„Was du nicht sagst. Jeder macht das.“

„Jeder? Laetitia und du etwa auch?“

„Guck doch nicht so schockiert, was meinst du, warum alle so aufgedreht, fröhlich-wach hier herumstolzieren?“

Vor meinen Augen verwandeln sich die jungen, schönen Gäste von jetzt auf gleich in abgewrackte, aufgesetzte Junkies. Tote Blicke, ausdruckslose Masken, wie eine Geistergesellschaft wackeln sie zum Takt der Musik. Ferdinand erscheint normal. Sofern man einem exzentrischen Schauspieler, der wohl in irgendeiner Rolle hängengeblieben ist, als normal bezeichnen kann.

„Das ist das Geheimnis hinter all dem Glanz? Drogen?“

„Du kommst wohl ganz eindeutig nicht von hier. Und doch lässt du dich darauf ein. Weil du selbst weißt, dass mehr dahintersteckt. Es ist die Kunst. Die freie Kunst, die man im Stillen für sich produziert und dann mit den Gleichdenkern, den Gleichgesinnten teilen kann. Es sind alles Kreative, die du hier siehst. Musiker, Modedesigner, Tänzer, Schriftsteller, Maler – und natürlich und ganz besonders; Schauspieler. Deswegen war Laetitia hier noch nie. Sie ist nur reich und schön. Aber entgegen der allgemeinen Vorstellung, reicht das nicht immer aus. Was mich zu der Frage bringt: Wie hast du dein Ticket ergattert?“

„Ich male.“

„Natürlich tust du das. Aber bist du auch gut?“

„Die Frage sollte ich wohl kaum selbst beantworten.“

„Na fein, dann zeig mir was.“

„Warum will unbedingt jeder gleich was sehen?“

„Siehst du, das ist es, was uns ausmacht. Es geht nur um die Kunst. Wenn dich hier jemand nach einer Kostprobe fragt, dann kannst du dir sicher sein, dass er die auch wirklich will. Die Kunst steht im Fokus; die sagt so viel mehr über dich, als jedes Gespräch.“

Das wirkt für mich, als sei ich auf einen Haufen gelangweilter Reicher gestoßen, die sich verzweifelten Idealismus einreden, damit ihr Leben spannender wird, ein Gedanke, den ich natürlich nicht offen äußern kann. Immerhin ist Ferdinand ein lustiger Bursche.

Wenn ich trinke, werde ich zum Kleptomanen und lasse jeden Mist mitgehen. Einen Löffel, schlecht riechendes Männerparfum, ja, sogar mal eine Zitrone. Als ich mehr schwankend als gehend, Ferdinand hinterher, den Club verlasse, trage ich eine Flasche Fusel unterm Arm. Mies versteckt und gefährlich nah am Herunterfallen, sodass jeder sich umdrehen würde, während ich noch auf die Scherben und die Pfütze auf der Straße blicken würde. Klar, gehört sich nicht. Weiß ich.

Ferdinand freut sich trotzdem und fragt auch nicht weiter nach. Der Fusel ist Tequila, schmeckt fürchterlich und ich wünschte mir, auch diesmal eine Zitrone geklaut zu haben. Wir hängen uns irgendwo auf die Straße und trinken und lachen und reden. Meist über ihn und sein Theater. Über mich, mein neues Ich, gibt es ja noch nicht viel zu erzählen. Ferdinand sollte einmal in New York am Broadway auftreten, hat die ganze Nacht gefeiert und am nächsten Tag den Flieger verpasst. Bevor er sich entschuldigen konnte, war er dann schon raus aus dem Projekt und ersetzt. Ob die Geschichte stimmt, weiß ich nicht. Er redet und raucht. Macht er eigentlich immer. Auch noch, als sich hinter den Dächern langsam das pure Morgenrot durch den Dunst über Paris erhebt und langsam die ganze Stadt in ein goldenes Glitzern färbt. Den Sonnenaufgang sieht man viel zu selten. Früher habe ich an jedem einzelnen meiner Geburtstage, in aller Früh meine Mutter aus dem Bett geschmissen, weil ich den Tag nicht erwarten konnte. In jedem Jahr aufs Neue hat sie mich auf den kleinen Hügel hinter unserem Haus gebracht, und wir haben einfach nur dort oben gesessen und auf den sich erhebenden Sonnenball gewartet. Sie hat immer gesagt: „Wenn der erste Lichtstrahl durchbricht, darfst du dir etwas wünschen.“ Es ist der schönste Start in mein neues Jahr gewesen, den ich mir hätte wünschen können. Also habe ich ihn mir immer wieder aufs Neue gewünscht, für das nächste Jahr und das nächste, bis in alle naiv kindliche Unendlichkeit. Bis meine Mutter mich irgendwann nicht mehr hat begleiten können.

„Weißt du, wo Laetitia ist?“, frage ich den Jungen.

„Die ist schon vor Stunden weg.“

Ich habe Hunger und kein Geld. Trotzdem steige ich in das nächste Taxi, zu benebelt, um mir um irgendetwas Sorgen zu machen. Es ist, als wären alle Sorgen weg. Als wäre ich nun wirklich Florence. Was soll mir da schon passieren?

Als wir endlich ankommen, ist mir schlecht und ich versuche dem Taxifahrer zu erklären, dass ich kein Geld dabei habe, weshalb ich mir in der Stadt auch nichts zu essen kaufen konnte, obwohl ich echt Hunger hätte. Der Taxifahrer antwortet irgendwas, das ich nicht verstehe und reicht mir ein Snickers. Ich steige aus; er fährt weg, und ich stehe ein weiteres Mal draußen vor der mächtigen Tür, während alle anderen drinnen schon schlafen. Ich klingel, wahrscheinlich aus alkoholisierter Gleichgültigkeit vor den Konsequenzen.

Wie ich reingekommen bin, weiß ich nicht mehr. Wie ich durch das Labyrinth in mein Zimmer gekommen bin, noch viel weniger. Das Einzige, das mir durch den Kopf geht, ist das grelle Klingeln des Weckers, die damit verbundenen Schmerzen und der Wunsch, dass sich das alles vielleicht doch noch um einen Traum handelt. Tut es nicht. Der Wecker klingelt weiter, und meine Kopfschmerzen werden nicht weniger, als ich ihn ausmache. Halb acht. So wie ich mich fühle, habe ich ungefähr zehn Minuten geschlafen. Ich liege komplett bekleidet im viel zu weichen Bett und denke darüber nach, ob ich duschen oder lieber noch liegen bleiben soll. Am Ende gewinnt der Anstand oder vielleicht auch die Angst vor einem abwertenden Kommentar der Madame Dupont und ich schleife mich unter die Dusche. Meine Haut ist trocken und gereizt. Mein Kopf dröhnt, und meine Zunge fühlt sich an wie Schleifpapier.

Laetitia kommt gerade herein, als ich aus dem Bad trete. Ich habe nur ein Handtuch um und würde mich wahrscheinlich bloßgestellt fühlen, wenn ich nicht so sehr von meinem körperlichen Befinden abgelenkt wäre. Das Mädchen sieht zu meiner Überraschung fast ebenso verkatert und müde aus wie ich.

„Was machst du denn hier?“

„Ich bringe dir Klamotten. Mama denkt, wir waren Shoppen, also zieh das hier an. Ach und kein Wort zu der Party.“

Ich bin zu müde, um ihr zu widersprechen und wüsste ohnehin nicht, was ich sagen soll, füge mich also und gehe mit ihr gemeinsam, fein gekleidet, in den Frühstückssaal. Der Herr des Hauses sitzt bereits am Tisch und begrüßt uns freundlich, aber ernst hinter der aufgeschlagenen Zeitung. Camille Dupont ist außer Haus. Zum Glück. Sie löst in mir ein ungutes Gefühl aus. Irgendwann kommt die Haushälterin herein, deren Namen ich mir noch immer nicht merken kann, und blickt mich böse an. Ich gucke gleich wieder auf meinen Teller, esse weiter, während Laetitia unruhig auf ihrem Stuhl herumrutscht und kaum ein halbes Stück Brot anrührt.

Gabriel Dupont ist ein uriger Typ. Den Kopf in der Zeitung und das Croissant unberührt auf dem Teller, murmelt er Unverständliches in seinen dichten Bart, während er sich immerzu die Kaffeetasse an den Mund führt, sodass die Haushälterin Schwierigkeiten hat, mit dem Nachfüllen hinterherzukommen. Irgendwann wendet er sich wie aus dem Nichts an seine Tochter und fragt, ob wir einen schönen Abend hatten. Diese bejaht höflich; ich nicke zustimmend. Er steckt sich eine Pfeife an, blättert eine Seite weiter in seiner großen Tageszeitung und ist sogleich wieder in sie vertieft.

Als er die Zeitung weggelegt hat und auch mit dem Croissant fertig ist, schlägt die alte Standuhr neun, und eine große Holztüre öffnet sich prompt, durch welche Camille Dupont mit großen, bestimmten Schritten eintritt und mit reichlich ernster Stimme einen guten Morgen wünscht.

„Wir müssen mit euch reden“, spricht Gabriel Dupont mit langen, schwerwiegenden Worten, während seine Frau neben ihm Platz nimmt.

Ich blicke Laetitia an. Sie blickt mit großer Anstrengung an mir vorbei und wird unruhig. Das wars, denke ich mir und packe in Gedanken meine sieben Sachen wieder zusammen. Nach einem Tag schon wieder hinauszufliegen, stört mich weniger, nur hätte ich zuvor lieber ausgeschlafen.

„Also es gibt natürlich einen Grund, warum du, Florence hier zu Gast bist“, beginnt Gabriel mit seiner tiefen, weichen Stimme und verunsichert mich damit nur noch mehr.

„Florence, deine Eltern wären auch gerne dabei gewesen, aber du weißt ja am besten, warum sie gerade nicht können“, ergänzt die Mutter. Ich nicke langsam, weil mir nichts Besseres einfällt und blicke fragend von einem Gesicht zum anderen.

„Kinder“, setzt der Hausherr wieder an, zögert und sieht uns beiden abwechselnd ernst und freundlich in die Augen, „Kinder, ihr beide wart im Waisenhaus und wurdet schon in frühen Jahren adoptiert. Darüber haben wir ja ausgiebig gesprochen, Laetitia, und Florence, auch Monsieur und Madame Fontaine haben mit dir darüber viele lange Gespräche geführt, wie sie berichten.“

Ich blicke Laetitia fragend an und zucke fast zusammen, als ich ihre tränengefüllten Augen sehe. Ich weiß nicht, ob es am Kater liegt, an meiner falschen Vergangenheit – und der Tatsache, dass ich ganz bestimmt nicht adoptiert wurde – oder einfach nur an meiner fehlenden Auffassungsgabe. Jedenfalls verstehe ich nicht, wohin das Gespräch führen soll.

„Laetitia, Florence, vielleicht ist es euch selbst schon ein bisschen aufgefallen, die Ähnlichkeit. Nun ja, ihr seid Schwestern. Mädchen –“, der Mann macht eine enorm lange Pause, zumindest kommt mir das so vor, bis er endlich hinzufügt: „Ihr seid Zwillinge.“

Ich muss unverhofft lachen, aus Verzweiflung, aus Absurdität, aus Panik und natürlich wegen meines Katers. Durch die Übermüdung kommt man in die post-alkoholisierte Phase der Albernheit, in der alles lustig ist, in der man absolut dämlich und kindisch und albern ist, schlechte Witze macht, über alles lacht und nichts so richtig aufnehmen kann. In der Phase stecke ich gerade, außerdem, um die Absurdität auf die Spitze zu treiben, in einer falschen Identität fest und stehle jemandem das erste, einmalige und niemals nachzuholende Aufeinandertreffen zweier, von Geburt an getrennter Schwestern. Zwillingsschwestern. Dabei finde ich Zwillinge absolut schräg. Die meisten zumindest. Bei näherer Betrachtung sind das zwei Menschen, bei denen jeweils eine Hälfte fehlt. Das Zwillingsprinzip von zwei sich ergänzenden Menschen, wirkt also andersherum. Ich lache. Laetitia blickt stumm lächelnd zu mir herüber, mit einem Ausdruck fröhlicher Verwunderung, während die Eltern, vielmehr Adoptiveltern, ernst dreinblicken.

Nach dem Frühstück lege ich mich hin und schlafe fünf Stunden durch. Als ich aufwache, steht Laetitia vor meinem Bett und blickt auf mich hinunter. Ich erschrecke. Ihre dunklen, frechen Augen blinzeln fröhlich verliebt auf.

„Guten Morgen, Schwester.“

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