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VIER

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Das Mädchen steht freudestrahlend neben meinem Bett, reicht mir einen starken, schwarzen Kaffee und mustert mich ununterbrochen aus ihren dunklen Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit ihr reden, ihr die Wahrheit sagen kann oder mich doch lieber auf das falsche Spiel einlasse, bis ich irgendwann ungesehen verschwinde.

„Hör zu, Laetitia“, setze ich an und blicke in ihr aufgewecktes Gesicht.

„Ja?“

Ich will sie nicht verletzen.

„Danke für den Kaffee.“

Sie strahlt, wie im Club, wie auf Koks und zündet sich nervös eine Zigarette an.

„Auch eine?“

Ich winke ab.

„Ich bin so aufgeregt, dich kennenzulernen, Florence, Schwester. Du musst mir alles über dich erzählen!“

„Florence, einfach nur Florence.“ Das Schwestern-Ding ist mir unangenehm.

„Natürlich, Florence. Ich muss dir unbedingt ein paar Leute vorstellen, du wirst sie lieben. Ich muss unbedingt jedem von dir erzählen. Florence, mein Zwilling, wer hätte das gedacht!“

Sie ist so entzückt, dass sie weder still sitzen noch stehen kann und unaufhörlich durch das Zimmer geht und springt und wild mit den Händen und der Zigarette herumfuchtelt. Absurderweise sehen wir uns tatsächlich ähnlich. Wir haben beide schwarze Haare, den gleichen Hautton und in etwa die gleiche Größe. Ich überlege für einen Sekundenbruchteil, ob ich hier vielleicht doch richtig bin, verwerfe diesen abwegigen Gedanken jedoch gleich wieder. In allen anderen Punkten sind wir ja grundverschieden. Charakterlich liegen schon hundertfünfzehn Familien zwischen uns.

„Florence, hast du nicht auch immer das Gefühl gehabt, nicht vollständig zu sein? Das Gefühl, dass da jemand fehlt in deinem Leben?“

„Ja, nein, keine Ahnung, hab ich mir nicht so Gedanken drüber gemacht.“

„Ich dachte wirklich, nach gestern Abend kann ich gar nicht mehr glücklicher werden. Oh man, wir werden so eine tolle Zeit zusammen haben. Ich zeige dir hier meine Welt, und dann komme ich dich mal besuchen, und du zeigst mir deine. Bei euch da unten, das ist bestimmt ganz aufregend!“

„Klar“, nicke ich und ringe mir ein Lächeln ab. Ich sitze noch immer im Bett und blicke dem aufgescheuchten Huhn hinterher, das verzweifelt versucht die neuen Verwandtschaftsverhältnisse zu verarbeiten.

Am Nachmittag schleppt mich Laetitia zu ihrer Freundin Caroline. Caroline ist so dünn und schneeweiß, wie die unbemalte Leinwand die hinter ihr auf einer Staffelei steht. Sie hat feuerrotes, wildes Haar und ihr dürres, eingefallenes Gesicht ist gänzlich bedeckt mit Sommersprossen, die nur durch die hellroten, nahezu weißen Augenbrauen, die blauen großen Augen und die blassen, doch vollen Lippen unterbrochen werden. Ich glaube, ich habe mich augenblicklich in sie verliebt. Sie ist wie mein Negativ auf einem Kodak-Film. Die Haare, die Haut, nur die Augen in annähernd gleichem Blau. Caroline ist natürlich Künstlerin und lebt in einer übertrieben großen Wohnung in Saint-Germain, in unmittelbarer Nähe der Seine und umgeben von Designerboutiquen und Galerien. Mächtige Holzbalken des alten Gebäudes stehen im direkten Kontrast zu der modernen, aufwendig renovierten Wohnung.

„Kommt hoch, da ist die Galerie“, lädt uns die Gastgeberin ein, nachdem Laetitia ihr überschwänglich unsere Verwandtschaft unterbreitet hat.

Sie zeigt uns einige Werke von sich, die sehr schön anzusehen sind und hauptsächlich naturalistische Motive abbilden.

„Du malst doch auch, Schwesterchen, stimmt doch, oder?“, wendet sich Laetitia wie ein aufgedrehtes Kind an mich. „Ferdinand hat es mir verraten.“

„Ja, ein wenig“, gebe ich schüchtern zurück. Zuhause war Kunst nie ein besonderes Thema. Ich habe gemalt; und keiner hat danach gefragt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was mir lieber ist.

„Hast du Lust?“ Caroline hält mir einen langen, feinen Pinsel hin.

„Jetzt? Hier?“

„Klar, warum denn nicht? Ich habe alles da. Leinwände in allen Größen, sämtliche Farben …“ Sie beginnt in der Wohnung herumzulaufen und alles zusammenzuraufen. „Lass es einfach geschehen. Lass dich vom Pinsel leiten, und füge dich der Kunst. Gibt es was Schöneres?“

Warum sind hier alle so exzentrisch, frage ich mich und nehme eine Palette Farben entgegen.

„Das ist jetzt dein Reich. Wir gehen runter und quatschen was. Laetitia? Ein bisschen Jazz, einen Martini?“

Ich nicke. Laetitia nickt. Caroline nickt. Die beiden strahlen fröhlich und lassen mich alleine.

Als Caroline nach zehn Minuten mit einem Drink und ruhigem Jazz, der von der Treppe hinaufklingt, zu mir herüberweht, weiß ich endlich, was ich malen soll und rühre ein kräftiges Rot-Orange an.

Caroline wird etwa in unserem Alter sein, doch sieht sie auf seltsam verbrauchte Weise sehr viel jünger aus. Ich ziehe die Umrisse ihres mageren Gesichtes großzügig auf eine sechzig mal vierzig Zentimeter Leinwand. Ihr feines Kinn, die eingefallenen Wangen, die halb verdeckten Ohren. In der Mitte die kleine, feine Nase, die freundlich bescheiden emporragt, die ausgeprägte Mulde hin zu den vollen Lippen, hinter denen leicht die Zähne hervorblitzen, die blauen, runden Augen mit den dünnen, nahezu durchsichtigen Wimpern, die hellen Augenbrauen, nicht zuletzt die Haare, die goldrote Mähne.

Aus dem Wohnzimmer höre ich Laetitia, wie sie ihrer Freundin die magische Geschichte ihrer lange verschollenen Zwillingsschwester noch einmal in Ruhe, lauwarm und mit jeder Menge Details ausgeschmückt serviert, die ich selbst zum ersten Mal höre. Der Abend bei Audrey Chevaliers Ausstellung ist beispielsweise unser erster gemeinsamer Zwillingsausflug gewesen, worüber die Gastgeberin so begeistert war, dass sie uns bereitwillig in den Club eingeladen hat.

Haare, Augenbrauen und Sommersprossen bekommen dieselbe Grundierung, wobei das Haar in verschiedenen Nuancen von Hell nach Dunkel im einfallenden Licht strahlt. Die Sommersprossen sind über das gesamte Gesicht verteilt, jedoch besonders dicht auf der linken Nasenhälfte, der linken Wange oben, gleich unter dem Auge und der rechten Wange etwas weiter unten. Die Lippen sind hell beige-rot, die makellose, feine Haut fast weiß. Caroline scheint ganz begeistert von der Geschichte und hält sich mit ihren Glückwünschen nicht zurück. Nach einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass die beiden mich komplett vergessen haben und langsam aber sicher betrunken werden. Sie albern herum, sind unheimlich laut und wechseln bald vom Jazz zum Beat, während ich mir mit aller Mühe Carolines blaue, durchdringende Augen ins Gedächtnis rufe, um sie auf die Leinwand zu bringen.

Es dauert ungefähr zwei Stunden, bis mich das wunderschöne Gesicht von Caroline in Überlebensgröße ansieht und wohl ebenso lange, bis die beiden Mädchen im Erdgeschoss endgültig betrunken sind. Ich gehe zögernd die breite Holztreppe hinunter und räuspere mich, um sie nicht zu erschrecken. Sie blicken, wie aus einer Trance erwachend, mit fahlen Augen aus ihrem innigen Gespräch auf und es dauert einige Zeit, bis sich ihre Gesichter aufhellen, lebendig werden, sie laut strahlend meinen Namen rufen. Meinen gestohlenen Namen.

„Scheiße, man, Florence, ich hab dich ganz vergessen!“, lallt Laetitia amüsiert.

„Zeig her, zeig schon her, ich will wissen, was du gemacht hast!“ Caroline springt überschwänglich auf und blickt mich erwartungsvoll an.

„Es ist oben“, antworte ich schüchtern. Caroline und Laetitia leisten sich ein betrunkenes Wettrennen nach oben und stehen stumm vor der Leinwand, als auch ich endlich ankomme.

„Du hast mich gemalt?“, findet Caroline die Worte wieder.

„Ich habe dich gemalt“, antworte ich resigniert, als würde ich das Bild selbst zum ersten Mal sehen. Jetzt ist es mir unangenehm. Es erscheint mir auf unterschiedlichste Weise unangebracht.

Tränen haben sich in Carolines Augen gesammelt, als sie sich langsam zu mir umdreht. Wie aus dem Nichts, presst sie mich so feste an sich, dass sie mehr sich selbst, als mich zu zerdrücken droht. Sie ist so dünn und zart.

„Es ist wunderschön“, sagt sie fast stimmlos.

„Sieh nur die Details, der Ausdruck, das Leben in den Augen, der Wind in den Haaren …“ Laetitia steht ganz nah vor dem großen Leinwandgesicht und schaut sich jede Farbe und jede Form genau an. Aus ihr spricht der Alkohol, da bin ich mir sicher. „Sieh nur, deine Sommersprossen …“ Laetitia wirkt auf mich immer mehr wie ein kleines Kind im Süßigkeitenladen.

Wir trinken noch etwas und reden mehr. Die beiden behandeln mich so, als wäre ich schon immer Teil ihrer kleinen Gruppe gewesen, als würden wir uns ewig kennen. Und auch ich fühle mich in Paris willkommener als je zuvor.

BOHÈME

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