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Eine Finca in Cala Pi

1. Mai 2017, zur gleichen Zeit

Der alte Mann tauchte seinen Pinsel in den Eimer und zog ihn vorsichtig heraus. Ganz sorgfältig strich er ihn am Rand ab, damit kein Tropfen vergeudet wurde. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Menge nicht ausreichen würde, um die Wände zu streichen. Langsam und gleichmäßig strich er unter dem diffusen Leuchten einer Camping-Gaslaterne die Natursteinwand. Das Licht waberte hin und her, wenn die Laterne an ihrer Aufhängung im Gebälk von einem leichten Luftzug ins Schaukeln gebracht wurde. Trotz des hellen Vormittags schien kaum Tageslicht in das Zimmer. Damit er bei seiner wichtigen Arbeit keinen Fehler beging, hatte er zusätzlich die Laterne aufgehängt. Gelegentlich zerdrückte er ein paar Farbklümpchen am Pinsel, warf sie aber nicht fort, sondern strich solange mit dem fast trockenen Pinsel darüber, bis auch das letzte Quäntchen verarbeitet war. „Der Herr soll zufrieden sein mit dem Anstrich, oh ja. Der Herr soll ganz und gar zufrieden sein, oh ja“, murmelte er wirr vor sich hin. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, perlte ab und rann seine Wange hinunter. Sein altes, vergilbtes Unterhemd war verschwitzt, aber blitzsauber. Ungewöhnlich für einen Mann, der gerade mit Malerarbeiten beschäftigt war. Sein Gesichtsausdruck war konzentriert und fokussiert. Als bestünde die Welt nur noch aus ihm und der Wand. Strich an Strich setzte er aneinander. Und achtete mit höchster Präzision darauf, dass nicht ein Millimeter unbedeckt war, dass jede grob verputze Ritze zwischen den rauen Natursteinen etwas Farbe abbekam. Gott möge verhüten, dass noch etwas von dem uralten Mörtel dazwischen ungestrichen blieb. Oder gar noch etwas von dem dunkelbraunen Anstrich der letzten Farbschicht zu sehen wäre. „Der Herr muss unbedingt zufrieden mit mir sein, oh ja. Ohne Zweifel, oh ja.“ So abgedunkelt, wie der braune Anstrich war, musste der letzte Maler hier vor Jahrzehnten gestanden haben. Die Wände des kleinen Zimmers hatten den Anstrich bitter nötig. An den anderen, ungestrichenen Wänden, bröckelte die Farbe stellenweise schon von der Wand ab, darunter offenbarten sich noch dunklere, ältere Farbschichten. Immer wieder tauchte der alte Mann seinen Pinsel mit gleichbleibender Hingabe in den Topf, als hinge sein Leben davon ab. Eine Stimme hallte durch den Raum und wisperte: „Streiche die Wände.“ Sie schien durch den Raum zu wandern und verklang leise im Ohr des alten Mannes. „Ich streiche doch, Herr. Ich streiche so schnell und gut ich kann, oh ja.“ Er krümmte sich zusammen und tauchte flugs den Pinsel wieder ein. Etwas Spucke bildete sich in seinem Mundwinkel und ein hauchdünner Faden rann aus seinem Mund. Er hatte Angst davor, dass die Farbe nicht ausreichen würde. Eine Höllenangst davor, dass ein Stück Wand ungestrichen blieb. Er bemühte sich noch mehr als zuvor, aber der Druck ließ seine Hand unsicher werden. Er rutschte ab. Schrie entsetzt auf. Schaute sich hektisch um, als würde er von irgendwoher eine Strafe erwarten. Als diese ausblieb, begutachtete er den Schaden. Mit zusammengebissenen Zähnen strich er ruhig über die betreffende Stelle. Betrachtete sie. Bewegte den Pinsel an einem Punkt etwas hin und her. Hielt dann inne, um sich den Schweiß abzuwischen. Dann nickte er vorsichtig. Der Schaden war behoben. Mittlerweile sah er seine Arbeit als einen Kampf, jede überwundene Ritze als einen besiegten Gegner und jeden Stein als eine gewonnene Schlacht. Er schaute auf die Uhr. Schaute auf die Wand hinter sich. Die dritte Wand war geschafft. Müdigkeit überfiel ihn, er arbeitete schon seit Stunden ohne Pause. Eigentlich seit gestern. Noch knapp vier Stunden und noch eine Wand. Ängstlich schaute er in den Eimer, wie viel Farbe noch darin war. Es war noch genug da. Ein warmes Glücksgefühl breitete sich in dem alten Mann aus. „Die Farbe reicht, die Farbe reicht, die Farbe reicht“, murmelte er in einem hohl klingenden Singsang vor sich hin. Und er strich vergnügt, aber weiterhin konzentriert, die verbleibende Wand. Einige Stunden später war es soweit. „Es ist vollbracht“, sagte er und kicherte. Und musterte zufrieden sein Meisterwerk.

Er schaute auf seine Uhr und sah, dass es 10.30 Uhr war. Es wurde höchste Zeit, zur Arbeit zu gehen. Sein Chef hatte heute seine üblichen Vorbereitungen übernommen, aber den letzten Schliff wollte er selbst vornehmen. Bevor es richtig losging.

Er schaute in den Eimer. Er war leer. Der Pinsel trocken. Er hatte absolut alles getan, um keinen Milliliter Farbe zu verschwenden. Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Da ertönte in seinen Ohren wieder die Stimme: „Streich die Wände!“ Der alte Mann wurde bleich. „Nein, oh nein. Alles ist gestrichen. Nein, nein, nein.“

„Streich die Wände!“

„Sie sind gestrichen. Sie sind perfekt gestrichen, oh ja. Oh ja.“

„Streich die Wände!“

„Sie sind makellos, Herr. Makellos, oh ja.“

„Streich die Wände!“, donnerte es. Das Licht flackerte. Der Luftzug im Raum verstärkte sich.

„Herr, ich bitte euch ...“

„Streich die Wände!“, dröhnte es in seinen Ohren. Der alte Mann krümmte sich und wand sich, als litte er entsetzliche Schmerzen.

„Streich die Wände!“

„Ja, Herr.“ Er beugte sich widerstrebend dem Befehl.

Die Blutfinca

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