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Ritual und Ritualspezialisten
ОглавлениеOhne eine verlässliche literarische Überlieferung – die nichtfiktiven Quellen der späten Republik und der augusteischen Autoren, auf die wir unsere Rekonstruktionen stützen müssen, sind kaum Beleg für das zweite Jahrhundert oder, im Falle von Fabius Pictor, für das dritte Jahrhundert – sind die Rituale noch schwieriger zu rekonstruieren als ihre materiellen Bestandteile. Erzählungen aus dem ersten Jahrhundert über die Einrichtung von Kulten durch Romulus und Numa sind unzuverlässig. Gleiches gilt für Spekulationen des zwanzigsten Jahrhunderts über die Religion der Königszeit mit Hilfe des Festkalenders (fasti). Tatsächlich war eine Liste von Festen erst in dem erstmals im ausgehenden vierten Jahrhundert verschriftlichten Kalender festgehalten, die wir jedoch nur in Kopien des ersten Jahrhunderts kennen.37 Funde in etruskischen Gräbern, zum Beispiel von der Tomba delle Bighe in Tarquinia oder der Tomba della Scimmia in Chiusi, lassen die Vermutung zu, dass es athletische Wettbewerbe und Prozessionsriten in (zumindest einigen) etruskischen Städten schon seit dem sechsten oder sogar siebten vorchristlichen Jahrhundert gab.38 Reliefs und Vasenzeichnungen aus dem sechsten und siebten Jahrhundert, zum Beispiel eine Amphore aus Ponte di Micali, datiert auf den Zeitraum von 520–510 v. Chr.39, belegen die Existenz von Spielen, die verschiedene Arten von Wettbewerben beinhalteten und, mindestens bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts, auch Prozessionen umfassten. Dementsprechend scheinen die späteren römischen Erzählungen über die Einführung von Spielen durch die Tarquinier40, also die etruskischen Könige Roms, und die der ludi scaenici in der Mitte des vierten Jahrhunderts, ebenfalls von Etrurien her41, eine wichtige Realität widerzuspiegeln, egal wie verzerrt ätiologische Sagen von einmaligen kulturellen Transfers zweifellos sind.42 Dazu kommt, dass diese Narrative ein Echo im Bild des frühen Roms finden, welches der Grieche Dionysios von Halikarnass zeichnet, der die Circus-Prozessionen in Rom auf den Beginn des fünften Jahrhunderts datiert.43 Mit Sicherheit wird der Nachbarstadt Veii die Einführung von vergleichbaren Wettbewerben im sechsten Jahrhundert zugeschrieben.44 Es kann keine Zweifel am „internationalen“ Charakter solcher Spiele geben, die die griechische Institution widerspiegeln und mittelitalienische Eliten als Teilnehmer haben. Es muss hinzugefügt werden, dass Gladiatorenwettkämpfe, in Etrurien wahrscheinlich schon jahrhundertelang verbreitet, erst 264 v. Chr. bei römischen Begräbnisfeierlichkeiten eingeführt wurden.45
In der römischen Überlieferung wird die Einrichtung zahlreicher Priesterschaften den ersten Königen zugeschrieben. In dieser Tradition, die intensive Aufnahme in der modernen Forschung fand, wird der römische Staat als vergrößertes Abbild des königlichen Haushalts betrachtet. So wie der Familienkult auf die Feuerstelle bezogen ist, so sagt es die Geschichte, so kümmert sich die Königstochter (vorverweisend auf die Priesterschaft der Vestalinnen) um die Feuerstelle der Stadt (z.B. das Feuer im „Haus der Vesta“).46 Nach diesem Modell wurden Ritualaufgaben, die eigentlich Aufgabe des Königs gewesen waren, nun – ungeachtet des Fehlens von Belegen hierfür – im nachmonarchischen Staat vom höchsten Priester (pontifex maximus) und dem „König der Opfer“ (rex sacrorum) ausgeführt. Es gibt bisher keine Einmütigkeit darüber, ob der rex sacrorum die sakralen Pflichten des Königs übernahm47 und später vom pontifex maximus verdrängt wurde, oder ob das Amt des rex sacrorum bereits während der Königszeit existierte, um zumindest teilweise die religiösen Pflichten des Königs zu übernehmen, dessen Kompetenzen später den Priestern ganz zufielen (die ihrerseits ebenfalls auch älter als die Republik gewesen sein könnten). Römische Ausarbeitungen dieser Theorie, was so viel heißt wie: die emische Tradition, folgten deutlich der ersten Variante.48 Dies zeigt, dass Versuche, die römische Staatsreligion in ihren Ursprüngen im königlichen Haushalt zu verorten, sich nicht als fruchtbar erwiesen haben.
Es gibt keine vertrauenswürdigen Belege für römische Priester vor dem fünften und selbst noch dem vierten vorchristlichen Jahrhundert.49 Hier sind auch italische Quellen nicht hilfreich. Weder Belege für weissagende Spezialisten, in lateinischen Quellen haruspices genannt und in etruskischen Texten netsvis,50 noch Belege für die von Magistraten übernommene priesterliche Rolle von cipen oder cepen51 lassen sich vor das fünfte Jahrhundert datieren. Priesterschaften aus italischen Gemeinden, die zeitweise eine große Ähnlichkeit mit römischen Institutionen hatten, gehören in die späte Republik und Kaiserzeit. Es ist möglich, dass sie das Ergebnis eines frühen Austauschprozesses waren, in dem Rom sowohl Geber als auch Nehmer gewesen sein könnte. Die Belege zeigen jedoch keine Hinweise dafür, welcher Chronologie solche Austauschprozesse unterlagen. Da die differenzierte römische Priesterschaft der späten Republik für die archaische Zeit nicht postuliert werden muss, lässt sich die Frage, wie man sich Priester in der Königszeit vorzustellen hat, auf eine bestimmte Anzahl von Problemen herunterbrechen.
Spezialisten für Divination („Seher“ mit verschiedenen Techniken) sind für zahlreiche mediterrane Gesellschaften nachgewiesen. Die lateinische Literatur entwickelte das Bild eines charismatischen Sehers, verkörpert durch den Auguren Attus Navius, in strukturellem Gegensatz zur Formen der politischen Macht durch König Tarquinius.52 Solche Figuren, ob sie nun attackiert (Marcius oder Marcii des dritten Jahrhunderts) oder verspottet (die harioli, „Scharlatane“ des ersten Jahrhunderts v. Chr.) wurden, gab es in der gesamten römischen Geschichte. Das hohe Ansehen der Augurenkollegien in der frühen Republik lässt die starke Vermutung zu, dass sie bereits während der Königszeit institutionalisiert waren. Eine so frühe Institutionalisierung macht es auch möglich, dass das Amt zum Ende der Monarchie nur noch Patriziern zugänglich war. Mit Sicherheit war das Ausüben der Auspizien ein Kernpunkt des patrizischen Selbstverständnisses.53
Die Existenz einer unbekannten Anzahl religiöser Spezialisten (nicht notwendigerweise alle männlich), die sich um die individuellen Kulte und wahrscheinlich auch Kultplätze kümmerten, kann wahrscheinlich angenommen werden. Ihr Name, flamen, verwandt mit dem indischen brahman, weist auf ein viel älteres institutionelles Muster hin. Im Gegensatz zu den Auguren oder Pontifices wurden flamines bereits in jungem Alter bestimmt, wenn man die Belege des dritten und zweiten Jahrhunderts extrapoliert. Gruppen aristokratischer Jugend, also Mitglieder einer Elite, die dem König nahestand, mögen die Aufgabe gehabt haben, für sehr wichtige Kulte zu sorgen. Die vestalischen Jungfrauen würden in ein solches Muster passen, genauso wie die Salii und die nur schlecht bezeugten salischen Jungfrauen in den Kulten von Vesta und Mars.54 Zudem könnte die Initiation zur Teilnahme am feierlichen Bankett, wie sie die Salier in republikanischer Zeit boten, tatsächlich für junge Adlige als eine organisierte „öffentliche“ Zielgruppe gedacht gewesen sein.55 Dies könnte dann mit dem „Verschwinden von Terrakottafriesen mit Bankettszenen zum Ende des sechsten Jahrhunderts hin“ verknüpft sein, das, wie vorgeschlagen wurde, „auch das Verschwinden von privaten Banketten als Teil der Neuordnung sozialer Gefüge nach dem Fall des letzten Königs belegt“.56
Gruppierungen, die sich um andere Kulte kümmerten, entstanden wahrscheinlich ebenso oft wie sie anschließend wieder eingingen. Wir haben keine Vorstellung, woher Gruppen wie die Mercuriales, die Arvalbrüder oder die Sodales Titii stammten, die für das Ende der Republik gut belegt sind.57 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Letztere bis in die Königszeit zurückgehen, wie es in der Augusteischen Zeit imaginiert wurde.58 Über eine lange Zeit hinweg aktiv, wurden diese Gruppen anscheinend bereits in der späten Republik als „öffentliche Priester“ (sacerdotes publici) angesehen. Allerdings blieben die meisten vor der Augusteischen Restauration sozial und politisch unbedeutend. Es ist zu betonen, dass die Gruppierungen, die in den Quellen am häufigsten vertreten sind, also die Salii und die Virgines Vestales, aufgrund des Geschlechts und des Alters nur außerhalb der politischen Bühne existierten.
Viel Ansehen besaßen die Pontifices. Es gibt beachtliche Belege für Interaktionsmuster zwischen ihnen und anderen Priesterschaften, die sogar eine begrenzte Aufsichtsfunktion einschloss. Dies beinhaltet nicht nur die Ernennung oder Bestrafung der Flamines oder Vestalinnen durch den pontifex maximus, sondern auch rituelle Interaktionen mit den Salii59 und Luperci60. Es gab zudem zahlreiche Anlässe, bei denen sie zusammen mit den flamines und den Vestalinnen agierten.61 Die Pontifices, repräsentiert durch den pontifex maximus62, hatten den Vorsitz über eine archaische Art der Kurienversammlung, die sogenannte comitia calata, die mit dem Erhalt von Familien und ihren Kulten betraut war.63 In seiner wichtigen Rolle bei der Ordnung des Kalenders agierte der rex sacrorum gemeinsam mit einem „kleineren“ Pontifex an den Kalenden,64 also am Monatsersten, gemeinsam mit den Pontifices jedoch am „Tubilustrium“ in der zweiten Monatshälfte.65 Die Pontifices als prominente öffentliche Priesterschaft waren damit ein Ergebnis der Bemühungen um eine religiöse Zentralisierung, unter Annahme der Existenz von sowohl comitia centuriata (um die comitia (curiata) calata für den pontifikalen Vorsitz freizustellen) als auch des rex sacrorum, was auch bereits ein Amt sein konnte, das parallel zum (politischen) König während der späten Monarchiezeit vorhanden war. Die einfachste Hypothese wäre, einen solch großen Schritt der Neuordnung der Gesellschaft eher mit der Beendigung einer Monarchie in Verbindung zu bringen.66 Wenn es bereits zuvor Personen gab, die den Titel „Pontifices“, „Brückenbauer“, trugen, müssen wir nicht automatisch annehmen, dass ihre Aufgaben vergleichbar waren. Es sollte hervorgehoben werden, dass alle anderen Kollegien an der Form des Pontifikalkollegiums ausgerichtet wurden, ohne dass sie damit auch die Autoritätsstrukturen im Inneren mit übernehmen mussten. Im Fall des Augurenkollegs war beispielsweise der Älteste der augur maximus, hatte aber keine spezifische Autorität; und jegliche institutionelle Rolle des Kollegs war historisch gesehen weit unwichtiger als die Rolle, die einzelne Auguren innehatten.67
Kalender strukturieren ökonomische, politische und rituelle Aktivitäten. Vergleichsmaterial bietet die etruskische Tabula Capuana, ein Text mit rund viertausend Buchstaben, der auf den Beginn des fünften vorchristlichen Jahrhunderts datiert wird.68 Diese fragmentarische Liste von Ritualen, sehr gerafft beschrieben, untermauert die Annahme römischer Antiquare, dass die Strukturierung des Monats durch Iden eine etruskische Erfindung war. Die Tafel zeigt ein System von wochenähnlichen Einheiten (die nicht notwendigerweise immer die gleiche Länge haben mussten) von Vollmond zu Vollmond: iśveita – celuta – tiniana – aperta (in der lateinischen Entsprechung Idus – Tubilustrium – Kalendae – Nonae). In Rom konzentrierten sich an diesen Tagen die kultischen Aktivitäten des rex und der regina sacrorum, des Flamen Dialis (Priester des Iuppiter), der Pontifices und der Tubicines (Trompeter), indem sie teilnahmen an Ritualen zu Ehren von Iuppiter, Iuno und des Mondes und so den zivilen Rhythmus an den Mondphasen ausrichteten, wie es für einen Mondkalender üblich ist. Erst mit den Reformen des Appius Claudius Caecus und Gnaeus Flavius in den letzten Jahren des vierten Jahrhunderts v. Chr. und mit der Kodifizierung des Kalender wurden Monate mit festgelegter Dauer eingeführt. In der Folge passten die Monatslängen nicht mehr zu den jeweiligen Mondphasen. Das Resultat war ein reiner Sonnenkalender, der die Basis für den heutigen Julianisch-Gregorianischen Kalender bildet.69