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Erster Tag
9. Kapitel.
Ein unerwarteter Freund
ОглавлениеWährend des kurzen Alleinseins Marcelles gingen ihr tausend Gedanken durch den Kopf und bald ward sie sich bewusst, dass die Liebe sie mit einer Energie ausrüste, deren sie vielleicht ohne diese allmächtige Inspiration nicht fähig gewesen wäre. Beim ersten Anblick hatte ihr das traurige Herrenhaus, welches jetzt die einzige Behausung war, die noch ihr gehörte, beinahe Schrecken eingeflößt. Als sie aber dann bedachte, dass sogar diese Ruine ihr nicht mehr lange zu eigen sein werde, musste sie lächeln, indem sie das Gemach mit einer sehr uneigennützigen Neugierde untersuchte. Das baronliche Wappen ihrer Familie prangte noch unberührt auf dem Mantel des gewaltigen Kamins.
»So ist also alle Verbindung zwischen mir und der Vergangenheit abgebrochen«, sagte sie. »Reichtum und Adel verlöschen heutzutage, wie Herr Bricolin zu sagen pflegt, miteinander. O mein Gott, wie gut bist Du, dass Du für allzeit die Liebe geschaffen, die da unsterblich ist, wie Du selber!«
Susette trat ein und brachte das Reisenecessaire, welches ihre Gebieterin verlangt hatte, um zu schreiben. Indem Marcelle dasselbe öffnete, warf sie zufällig einen Blick auf ihre Zofe und fand das Gesicht derselben, während sie die kahlen Mauern der alten Burg betrachtete, von so seltsamem Ausdruck, dass sie sich des Lachens nicht enthalten konnte. Die Züge Susettes verdüsterten sich und ihre Stimme klang sehr widerwillig, als sie sagte:
»Die gnädige Frau ist also entschlossen, hier zu schlafen?«
»Sie sehen es wohl«, versetzte Marcelle, »und Sie haben da ein Kabinett nebenan mit einer prächtigen Aussicht.«
»Ich bin der gnädigen Frau sehr verbunden, aber die gnädige Frau kann versichert sein, dass ich nicht hier schlafen werde. Ich fürchte mich schon bei Tage entsetzlich, wie würde es erst bei Nacht sein. Man sagt, es geiste hier, und ich glaube es gerne.«
»Sie sind närrisch, Susette. Ich werde Sie gegen die Gespenster verteidigen.«
»Die gnädige Frau wird wohl die Güte haben, eine der Pächtersmägde hier neben sich schlafen zulassen, denn ich wollte lieber dieses abscheuliche Land zu Fuße verlassen —«
»Sie nehmen die Sache also tragisch, Susette? Nun, ich will Sie zu nichts zwingen, Sie mögen schlafen, wo Sie wollen. Indessen muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich, wenn Sie die Gewohnheit annehmen, mir Ihre Dienste verweigern, mich genötigt sehe, mich von Ihnen zu trennen.«
»Wenn die gnädige Frau wirklich längere Zeit in diesem Lande zu bleiben und dieses Haus zu bewohnen gedenkt so —«
»Ich bin in der Tat genötigt, einen Monat und vielleicht noch länger hier zu bleiben. Was wollten Sie sagen?«
»Dass ich die gnädige Frau bitte, mich nach Paris zurückgehen zu lassen oder auf ein anderes Ihrer Güter zu schicken: denn ich würde hier gewiss sterben müssen, ehe drei Tage um.«
»Liebe Susette«, entgegnete Marcelle sehr sanft, »ich besitze kein anderes Gut mehr und werde wohl nie mehr nach Paris zurückkehren, um dort zu wohnen. Ich bin nicht mehr reich, mein Kind, und kann Sie wahrscheinlich nicht mehr lange in meinem Dienste behalten. Da der hiesige Aufenthalt Ihnen verhasst ist, so wäre es unnütz, denselben für einige Tage zu verlängern. Ich will Ihnen Ihren Lohn ausbezahlen und die Reisekosten vergüten. Die Patache, welche uns hergebracht hat, ist noch nicht weggefahren. Ich werde Ihnen gute Empfehlungen mitgeben und meine Schwiegereltern werden Ihnen einen Platz verschaffen.«
»Aber gnädige Frau, wie soll ich allein aus diesem Lande fortkommen! In der Tat, es lohnte sich wohl der Mühe, mich so weit in eine Wildnis mitzunehmen!«
»Ich wusste nicht, dass ich zugrundegerichtet sei, und habe es eben erst erfahren«, erwiderte Marcelle ruhig. »Machen Sie mir also keine Vorwürfe, ich brachte Sie nicht mit Willen in diese schlimme Lage. Übrigens werden Sie nicht allein reisen, sondern Lapierre wird Sie nach Paris begleiten.«
»Die gnädige Frau entlassen Lapierre ebenfalls?« fragte Susette bestürzt.
»Nein, ich gebe ihn bloß meiner Schwiegermutter zurück, welche mir ihn geliehen und welche diesen alten, treuen Diener mit Vergnügen wieder um sich haben wird. Gehen Sie Susette. Essen Sie zu Mittag und bereiten Sie sich zur Abreise.«
Von der Kaltblütigkeit und der ruhigen Sanftmut ihrer Gebieterin betroffen, brach Susette in Tränen aus, und von ihrer unwirklich wiederkehrenden Anhänglichkeit erfasst, bat sie Marcelle, ihr zu verzeihen und sie bei sich zu behalten.
»Nein, liebes Kind«, entgegnete Marcelle, »Ihr Lohn übersteigt jetzt meine Kräfte. Wir werden zwar einander wohl vermissen, allein es ist dies ein unausweichliches Opfer und wir dürfen uns keiner Schwäche hingeben.«
»Aber was soll aus der gnädigen Frau werden ohne Vermögen, ohne Dienerschaft, mit einem kleinen Kind auf dem Arm in einer solchen Einöde? Der arme kleine Eduard!«
»Betrüben Sie sich nicht. Susette. Sie werden gewiss bei einem meiner Bekannten unterkommen, wir werden uns wiedersehen und Sie werden auch Eduard wiedersehen. Weinen Sie also nicht vor dem Kinde, ich bitte Sie inständig.«
Susette ging hinaus, allein Marcelle hatte kaum die Feder zum Schreiben angesetzt, als der große Mehlhändler hereintrat, Eduard auf dem einen, einen Nachtsack auf dem andern Arm.
»Ah«, sagte Marcelle zu ihm, indem sie ihm den Kleinen abnahm und auf ihren Schoß, setzte, »Sie wollen mich also noch mehr verpflichten, Herr Louis? Recht lieb ist’s mir, dass Sie noch nicht weggegangen, denn ich habe Ihnen meinen Dank noch nicht abgestattet und würde es sehr bedauert haben, wenn ich Ihnen nicht Lebewohl hätte sagen können.«
»Nein, ich bin noch nicht weggegangen«, versetzte der Müller, »und, die Wahrheit zu sagen, es pressiert mir eigentlich nicht sehr mit meinem Weggehen. Aber, gnädige Frau, wenn es Ihnen nichts verschlägt, möchte ich Sie bitten, mich nicht mehr ›Herr‹ zu nennen. Ich bin kein Herr und dieser Titel macht mich verwirrt. Nennen Sie mich Louis glattweg oder großer Louis, wie jedermann.«
»Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass dies sehr gegen die Gleichheit verstieße, und nach Ihren Äußerungen von heute Morgen.«
»Heute Morgen war ich ein Dummkopf, ein Pferd und, was noch schlimmer, ein Mühlpferd. Ich hatte Vorurteile, indem ich an den Adel und an Ihren Mann und an was weiß ich dachte. Hätten Sie mich Louis genannt, ich glaube, ich hätte Sie…, wie heißen Sie?«
»Marcelle.«
»Ich habe diesen Namen gern, gnädige Frau Marcelle! Wohl, ich werde Sie jetzt so nennen, das wird mich nicht mehr an den Herrn Baron erinnern.«
»Aber wenn ich Sie nicht mehr Herr tituliere, werden Sie mich denn auch glattweg Marcelle nennen?« fragte Frau von Blanchemont lächelnd.
»Nein, nein, Sie sind eine Frau und .... hol’ mich der Teufel! .... eine Frau, wie es wenige gibt, sehen Sie, ich kann’s gar nicht verbergen, dass ich Sie recht im Herzen trage, besonders seit einem Augenblick.«
»Warum seit einem Augenblick, großer Louis?« fragte Marcelle, welche zu lachen begann und dem Müller nur noch halb zuhörte.
»Weil ich vorhin hörte, was Sie mit Ihrem Mädchen sprachen. Ich befand mich mit Ihrem Knaben gerade auf der Treppe, der kleine Schlingel spielte mir tausend Possen, um mich am Vorwärtsgehen zu verhindern, und so hörte ich wider Willen alles, was Sie sagten. Ich bitte Sie um Verzeihung.«
»Das ist überflüssig«, versetzte Marcelle, »meine Lage ist kein Geheimnis, da ich ja Susette damit bekannt machte, und überdies bin ich gewiss, dass ein Geheimnis in Ihren Händen gut aufgehoben sein würde.«
»Ein Geheimnis von Ihnen würde in meinem Herzen ruhen«, sagte der Müller gerührt. »Aber wie, Sie wussten vor Ihrem Hieherkommen nicht, dass Sie zugrundegerichtet seien?«
»Nein, ich wusste es nicht. Herr Bricolin hat mich zuerst davon in Kenntnis gesetzt. Ich erwartete allerdings Verluste, aber keineswegs einen derartigen Ruin.«
»Und Sie sind nicht außer sich darüber?«
Marcelle, welche angefangen hatte, zu schreiben, dachte nicht daran, zu antworten. Nach einer Weile aber erhob sie ihre Augen und sah den großen Louis mit gekreuzten Armen vor sich stehen und sie mit einer Art naiver Begeisterung und leisem Erstaunen betrachten.
»Ist es denn so wundersam«, sagte sie, »jemand zu sehen, der mit seinem Vermögen nicht auch zugleich den Verstand verliert? Zudem bleibt mir ja so viel, dass ich zu leben haben werde.«
»Ich weiß beiläufig, was Ihnen bleibt. Ich kenne Ihre Angelegenheiten vielleicht besser als Sie selbst, denn wenn der Vater Bricolin ein Gläschen getrunken hat, schwatzt er gerne und er hat mir oft den Kopf von dieser Sache vollgemacht, bevor sie mich noch interessierte. Das ist aber einerlei, sehen Sie; ich habe noch nie eine Person gesehen, welche, ohne mit den Augen zu blinzen, ohne außer sich zu kommen in einem Augenblick, ratsch! eine Million da, eine halbe Million dort springen sieht … nein, das hab’ ich noch nie gesehen, und ich kann’s noch nicht recht fassen.«
»Sie werden es noch weniger fassen, wenn ich Ihnen sage, dass es mich, soweit es mich persönlich angeht, äußerst freut.«
»Ah, aber gewiss nicht insoferne es Ihr Kind angeht!« bemerkte der Müller, seine Stimme dämpfend, damit der Kleine, welcher in dem anstoßenden Zimmer spielte, seine Worte nicht vernehmen könne.
»Im ersten Augenblick war ich ein wenig erschrocken«, fuhr Marcelle fort, »dann aber tröstete ich mich bald. Ich sagte mir schon lange, dass es ein Unglück sei, reich geboren und zum Müßiggang, zum Hass der Armen, zum Egoismus und zu der Straflosigkeit, welche der Reichtum sichert, bestimmt zu sein. Ich bedauerte oft, dass ich nicht die Tochter und die Mutter eines Arbeiters sei. Jetzt, Louis, werde ich zum Volk gehören und Männer, wie sie, werden mich nicht mehr mit misstrauischen Augen ansehen.«
»Sie gehören noch nicht zum Volke«, entgegnete der Müller, »denn es bleibt Ihnen noch ein Vermögen, welches einem Mann aus dem Volke als ein unermessliches vorkommen muss. Und überdies hat Ihr Kleiner Großeltern, welche ihn nicht wie ein Kind der Armen erziehen lassen werden. All’ dies ist also bloß ein Roman, den Sie sich vormalen, gnädige Frau Marcelle. Aber, wo zum Teufel haben Sie denn diese Ideen her? Sie müssen wohl eine Heilige sein, hol’ mich der Teufel! Es macht einen eigentümlichen Eindruck auf mich, Sie so sprechen zu hören, da alle andern reichen Leute an nichts denken, als noch reicher zu werden. Sie sind die Erste dieser Art, die ich gesehen. Oder denken die übrigen Reichen und Adeligen zu Paris ebenso, wie Sie?«
»Nein, sie denken anders, ich muss es gestehen. Aber machen Sie mir aus meiner Denkungsart kein Verdienst, großer Louis. Es wird wohl ein Tag kommen, wo ich Ihnen werde zeigen können, warum ich so bin.«
»Verzeihen Sie, ich muss das bezweifeln.«
»Durchaus nicht.«
»Das sind heikle Geschichten und Sie werden mich für unverschämt halten, dass ich Sie darüber ausfrage. Wenn Sie aber wüssten, dass ich gerade in diesem Kapitel übel daran und also fähig bin, die Leiden anderer zu verstehen, wie denn? Ich werde Ihnen meinen Kummer mitteilen, ich! Ja, der Donner erschlage mich! Nur Sie und meine Mutter werden davon wissen und Sie werden mir ein gütiges Wort sagen und mich wieder zu Verstand bringen.«
»Und wenn ich Ihnen nun sage, dass ich meinerseits es bezweifeln müsse.«
»Sie müssen es bezweifeln? Was gilt die Wette, dass auf der einen Seite die Liebe, auf der andern das Geld bei all’ diesem im Spiele ist?«
»Ich will Ihre Bekenntnisse anhören, großer Louis, aber da kommt der alte Lapierre die Treppe heraufgegangen. Wir werden uns noch sehen, nicht wahr?«
»Ja, es ist nötig«, antwortete der Müller leise, »denn ich habe bezugs Ihrer Geschäfte mit Bricolin noch vieles mit Ihnen zu reden. Ich fürchte, der alte Schelm nimmt Sie ein wenig zu hart mit und, wer weiß? Obgleich ich nur ein Bauer bin, kann ich Ihnen doch vielleicht einigermaßen von Nutzen sein. Wollen Sie mich zum Freunde haben?«
»Gewiss.«
»Und wollen Sie nichts beginnen, ohne es mir zuvor mitzuteilen?«
»Ich verspreche es Ihnen, mein Freund.«
Hier trat der alte Lapierre ein.
»Soll ich gehen?« fragte der Müller.
»Gehen Sie ein wenig mit Eduard beiseite. Ich muss Sie vielleicht noch um Rat fragen, wenn Sie noch einige Minuten Zeit für mich übrig haben.«
»‘S ist ja Sonntag, und überdies verschlüge es nichts, wenn es auch Werktag wäre.«