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Einleitung
1. Kapitel

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Da Marcelle ihres Vaters Brudersohn geheiratet hatte, so trug sie vor, wie nach ihrer Verehelichung, den Namen Blanchemont. Das Gut und das Schloss Blanchemont machten einen Teil ihrer Erbschaft aus. Die Besitzung war sehr bedeutend, allein das Schloss, schon seit mehr als hundert Jahren den Pächtern überlassen, wurde nicht einmal mehr von diesen bewohnt, weil es einzustürzen drohte und seine Wiederherstellung als zu kostspielig erschien. Früh verwaist, zu Paris in einem Kloster erzogen, sehr jung verheiratet und von ihrem Gatten nicht in die Verwaltung ihres Vermögens eingeweiht, hatte Frau von Blanchemont diese Besitzung ihrer Ahnen nie gesehen. Jetzt, da sie entschlossen war, Paris zu verlassen und auf dem Lande ein den von ihr gefassten Entschlüssen zuständiges Leben zu führen, wollte sie ihre Pilgerschaft mit einem Besuch auf Blanchemont beginnen, um sich, wenn ihr der Aufenthalt gefiele, später dort niederzulassen. Sie wusste um den Verfall ihres Schlosses und es war dies ein Grund mehr für sie, ihre Blicke auf diesen Ort zu richten. Die Verwirrung, in welcher ihr Mann ihre Angelegenheiten hinterlassen, und die Unordnung, in welcher sich nach seinem Tode seine eigenen vorfanden, dienten ihr zum Vorwand, diese Reise zu unternehmen, deren Dauer, wie sie sagte, sich auf wenige Wochen beschränken sollte, während sie in ihren Gedanken weder einen bestimmten Zweck, noch eine bestimmte Frist festsetzte. Ihre wahre Absicht war, Paris zu verlassen und die Lebensweise zu beginnen, welche sie sich vorgesetzt. Zum Glück für ihre Absichten, hatte sie niemand in ihrer Familie, welcher sich’s in den Kopf setzen konnte, sie begleiten zu wollen. Als einzige Tochter brauchte sie sich nicht gegen den unerwünschten Schutz einer Schwester oder eines älteren Bruders zu verteidigen. Die Eltern ihres Mannes waren sehr betagt und, nicht wenig erschrocken über die Schulden des Verstorbenen, welche nur durch kluge Anordnungen getilgt werden konnten, waren sie zugleich erstaunt und erfreut, als sie eine Frau von zweiundzwanzig Jahren, welche bisher wenig Geschick und Geschmack für Geschäfte verraten, den Entschluss fassen sahen, ihre Angelegenheiten selbst zu führen und sich mit eigenen Augen von dem Zustand ihrer Besitzungen zu überzeugen. Indessen erhoben sich dennoch einige Besorgnisse, sie so allein mit ihrem Kinde reisen zu lassen, und man wollte, dass ihr Geschäftsträger sie begleiten sollte. Man fürchtete auch, das Kind möchte eine in der heißesten Jahreszeit unternommene Reise nicht ertragen können. Marcelle hielt ihren Schwiegereltern entgegen, dass ein so verlängertes Tête-à-tête mit einem alten Mann nicht eben ein annehmliches Mittel gegen die Langeweile sei, welcher sie sich unterziehen wolle, dass sie bei den Notaren und Sachwaltern der Provinz genauere Nachweisungen und der Örtlichkeit mehr angepasste Ratschläge finden könnte und dass es endlich keine so gar schwierige Aufgabe sein werde, mit den Pächtern abzurechnen und die sonst nötigen Anordnungen zu treffen. Was das Kind betreffe, so werde es in der Pariser Luft immer schwächlicher. Der Aufenthalt auf dem Lande, Bewegung und Sonne würden ihm gewiss wohltun. Kurz, die junge Witwe wusste gegenüber den Bedenklichkeiten ihrer Schwiegereltern das ihr zugesicherte Recht der Vormundschaft über ihren Sohn geltend zu machen, wusste so kenntnisvoll über Schulden- und Hypothekenwesen, sowie über die hiemit in Verbindung stehenden Pachtverhältnisse sich zu verbreiten, verstand so geschickt den Umstand hervorzuheben, dass sie sich notwendig mit eigenen Augen von ihren Vermögensverhältnissen Wissenschaft verschaffen müsse, um zu erfahren, auf welchem Fuß sie künftig leben dürfe, ohne die Zukunft ihres Sohnes zu beeinträchtigen – dass sie den Sieg über alle Einwürfe davontrug und ihre ganze Familie dahin brachte, ihren Entschluss nicht nur zu billigen, sondern auch zu loben, umso mehr, da ihr Verhältnis zu Heinrich so geheim geblieben war, dass nicht der geringste Verdacht das Zutrauen ihrer Schwiegereltern schwächte.

Aufgeregt durch ungewohnte Tätigkeit, sowie durch enthusiastische Hoffnung, schlief Marcelle in der folgenden Nacht nicht viel besser, als in der ihrer Zusammenkunft mit Lemor. Sie versenkte sich in die seltsamsten, ebenso lachenden, als peinlichen Träumereien. Sie erwachte schon mit der Morgendämmerung und einen träumerischen Blick über ihr Gemach hinwerfend, wurde sie zum ersten Mal von dem unnützen, verschwenderisch um sie her verstreuten Luxus betroffen, von all’ den Atlastapeten, den Vergoldungen, den Möbeln von äußerster Üppigkeit und äußerster Pracht, von den zahllosen Putzsachen, von all’ dem Porzellan, den Skulpturen und andern glänzenden Spielereien, welche heutzutage das Zimmer einer eleganten Frau anfüllen. ›Ich möchte wohl wissen‹, dachte sie, ›warum wir die unterhaltenen Weiber so sehr verachten. Sie verschaffen sich, was wir selbst uns nicht verschaffen können; sie opfern ihre Unschuld hin, um in den Besitz derartiger Spielereien zu kommen, welche in den Augen ernsthafter und gebildeter Frauen gar keinen Wert haben sollten und ohne welche wir dennoch nicht existieren zu können vermeinen, Sie haben den nämlichen Geschmack, wie wir, und würdigen sich nur herab, um ebenso reich und glücklich, wie wir, zu erscheinen. Bevor wir sie verdammen, sollten wir ihnen das Beispiel eines einfachen und redlich angewandten Lebens geben. Würde man wohl, wenn man unsere unauflöslichen Ehen mit ihren vorübergehenden Verbindungen vergleicht, bei den jungen Mädchen unseres Standes eine größere Uneigennützigkeit finden? Würde man nicht auch bei uns, ganz wie bei den Prostituierten, oftmals ein Kind an einen Greis gefesselt sehen, die Schönheit entweiht durch die Hässlichkeit des Lagers, den Geist der Borniertheit unterworfen, und das alles aus Begierde nach einem Kopfputz von Diamanten, nach einer Karosse, nach einer Loge in der Italienischen Oper? Arme Mädchen! Man sagt, ihr verachtet eurerseits uns ebenfalls, ihr habt völlig das Recht dazu!‹

Der jetzt blau und rein durch die Vorhänge dringende Tag ließ das Gemach, in dessen mit ausgesuchtem Geschmack bewerkstelligter Ausschmückung Frau von Blanchemont sich sonst gefallen hatte, wahrhaft bezaubernd erscheinen, Sie hatte fast immer abgesondert von ihrem Manne gelebt und dieses so keusche, so mädchenhaft frische Kloset, welches Heinrich niemals zu betreten gewagt, rief ihr nur schwermütig süße Erinnerungen zurück. Hier hatte sie, die Gesellschaft fliehend, gelesen und geträumt unter dem Dufthauch der unvergleichlich schönen Blumen, wie man sie nur in Paris findet und wie sie heutzutage einen Teil des Lebens vornehmer Frauen ausfüllen. Sie hatte sich in diese poetische Einsamkeit geflüchtet, so oft sie immer konnte, und das mit eigener Hand verzierte und verschönerte Gemach gleichsam als ein geheimnisvolles Asyl betrachten gelernt, wo das Weh ihres Lebens und die Stürme ihrer Gefühle sich jederzeit sänftigten in der Sammlung des Gebetes.

Jetzt ging sie, mit Blicken der Zuneigung umhersehend, in diesem Kloset auf und ab, bis sie unwillkürlich die Formel eines Lebewohl für immer an diese stummen Zeugen ihres geheimen Lebens richtete, eines Lebens, das sie so verborgen verbracht, wie die Blume, welche nicht versucht, sich zur Sonne emporzurichten, sondern aus Liebe zum Schatten und zur Frische ihr Haupt unter den Blättern birgt.

›Aufenthaltsort meiner Wahl, all’ ihr prächtigen, meinem Geschmack zusagenden Gegenstände‹, dachte sie, ›ich habe euch geliebt; aber fürder kann ich euch nicht mehr lieben, denn ihr seid die Begleiter und Genossen des Reichtums und des Müßiggangs. Ihr stellt in meinen Augen jetzt nur noch das vor, was mich von Heinrich trennt, und ich vermag euch nicht mehr ohne Widerwillen und Bitterkeit anzusehen. Verlassen wir uns also, bevor wir einander gehässig werden. Du, ernstliebliche Madonna, wirst aufhören, mich zu beschützen, ihr, helle und reine Spiegel, könntet mich mein eigenes Bild verabscheuen machen, ihr, prächtige Blumenvasen, habt hinfort für mich weder Schönheit noch Duft mehr!‹ – Hierauf schlich sie, bevor sie, wie sie zu tun beschlossen hatte, an Heinrich schrieb, auf den Fußspitzen zu der Wiege ihres Sohnes, um seinen Schlaf zu betrachten und zu benedeien. Der Anblick des bleichen Kindes, dessen geistige Entwicklung die Entfaltung seiner körperlichen Kräfte weit überflügelt hatte, flößte ihr eine leidenschaftliche Rührung ein. Sie sprach in ihrem Herzen mit ihm, als ob es in seinem Schlafe die mütterlichen Gedanken hätte hören und verstehen können.

»Sei ruhig«, sagte sie, »ich liebe ihn nicht inniger als dich. Sei nicht eifersüchtig auf ihn! Wäre er nicht der bravste und würdigste der Männer, so gäbe ich ihn dir nicht zum Vater. Geh’, kleiner Engel, du bist heiß und treu geliebt. Schlaf’ wohl, wir werden uns niemals verlassen!«

In süße Muttertränen aufgelöst, kehrte Marcelle in ihr Zimmer zurück und schrieb an Lemor folgende wenige Zeilen:

›Sie haben Recht und ich verstehe Sie jetzt. Ich bin Ihrer nicht wert; aber ich werde es werden, denn ich will es. Ich werde eine weite Reise unternehmen. Beunruhigen sie sich meiner wegen nicht und lieben Sie mich! Binnen Jahresfrist werden Sie am nämlichen Tag einen Brief erhalten. Richten Sie sich so ein, dass Sie dann zu mir dahin kommen können, wohin ich Sie rufe. Wenn Sie dann meinen, ich hätte mich noch nicht genugsam umgewandelt, so werden Sie mir noch ein Jahr zugeben.... ein Jahr, zwei Jahre mit Hoffnung – die ist ja fast schon Glück für zwei Wesen, welche sich so lange ohne Hoffnung geliebt haben.‹

Sie sandte dieses Billett noch vormittags weg, allein man fand Lemor nicht. Er war am vergangenen Abend abgereist, man wusste nicht wohin und auf wie lange. Die Miete seiner bescheidenen Wohnung hatte er gekündigt. Indessen versicherte man, der Brief werde ihm dessen ungeachtet zukommen, indem einer seiner Freunde beauftragt sei, jeden Tag die etwa für ihn eingelaufenen Briefe abzuholen, um ihm dieselben nachzusenden.

Der Müller von Angibault

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