Читать книгу Fanfan von der Tulpe - José-André Lacour - Страница 5
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ОглавлениеTag für Tag um acht Uhr früh fuhr nun die von einem schweigsamen Kutscher gelenkte kleine graue Kalesche mit ihren friedlichen Rosinanten, die es sich schnell zur Gewohnheit gemacht hatten, von selbst anzuhalten, vor dem Hause vor. Und um acht Uhr abends brachte sie Jeanne zurück.
Jeanne sagte allen freundlich guten Abend und ging dann auf ihr Zimmer, denn sie hatte schon gegessen. Die Familie verhielt sich lautlos, um sie nur ja nicht zu stören, denn ihre Tage waren sicherlich anstrengend. Man war allgemein der Überzeugung, sie ginge zur Schule, da sie ja regelmäßig pünktlich abfuhr und ankam.
In der ersten Zeit empfand ihre Mutter doch so etwas wie eine leichte Beklommenheit, wenn sie sie davonfahren sah. Sie war so zart, so artig und schon immer lange vor Ankunft des Kutschers ausgehfertig. Letztlich war sie ja noch blutjung, dachte Anne, und manchmal fragte sie sich sogar, ob sie das einem anderen als dem Herzog — und dem König natürlich — überhaupt erlaubt hätte. Abends, wenn Jeanne zurückkam, brannte sie darauf, ihr Fragen zu stellen, aber sie wagte es nicht; sie fühlte sich neuerdings irgendwie eingeschüchtert von ihrer Tochter und fürchtete, aus verschiedenen Gründen, diese könne es übelnehmen oder sie gar hochmütig zurückweisen.
Sie könnte ihr beispielsweise entgegnen, dies alles sei eine Art «Staatsgeheimnis»; man kann ja nie wissen. Manchmal entführte ihre lebhafte Phantasie sie auch in jenes «Münzkabinett» — so nannte Jeanne den Ort, zu dem sie sich begab — und gaukelte ihr derart pikante Szenen vor, dass ihr die Röte ins Gesicht schoss. Denn inzwischen glaubte sie schon längst nicht mehr — wenn sie es überhaupt je geglaubt hatte —, dass dort nur Mathematik- und Anstandsunterricht erteilt wurde. Sie wäre sehr erstaunt gewesen, ebenso wie besagte Herren, zu erfahren, dass nach mehr als einem Monat, der seit dem Beginn dieser Affäre verstrichen war, noch nichts «Schlimmes» vorgefallen war. Ein Erstaunen, das auch Jeanne in höchstem Maße teilte, die sich, schaudernd, bereits das «Schlimmste» vorgestellt hatte und mittlerweile etwas unruhig wurde, ja, sich gedemütigt fühlte, dass es nicht eintrat. Was eine Szene beweist, die sie Monseigneur am Tage ihrer zweiunddreißigsten Zusammenkunft im Münzkabinett machte.
Es war Mitte Juni und sehr warm. Jeanne schmolz in Sehnsucht dahin. Die feuchte Hand des Herzogs, der ihr gerade Geometrieunterricht erteilte, ruhte auf ihrem Nacken und erregte sie so, dass sie plötzlich sagte: «Monseigneur, das alles langweilt mich.» Und schon sprang sie auf und machte einen Satz zum Fenster, das den Blick auf Rasen und Bäume freigab.
«Nun gut, lassen wir es für heute», sagte der Herzog, der neben sie getreten war. «Möchtet Ihr vielleicht ein Gläschen Jerez oder Weißwein?»
Sie vollführte eine Drehung auf dem Absatz, eine Bewegung, die ihr noch aus der Zeit des Kästchenhüpfens verblieben war, und sah ihm finster in die Augen.
«Oh, oh!» sagte er. «Mein kleiner Liebling wird mich schelten, ich spüre es.»
«Monsieur», begann sie, sanft, aber entschieden seine streichelnde Hand auf ihrem nackten Arm zurückdrängend, die sie, ohne dass sie es gewollt hätte, eben doch erregt hatte. «Monsieur, jetzt komme ich schon über einen Monat hierher; Ihr lehrt mich unzählige Dinge, um meinen Geist heranzubilden, Ihr verbessert meine Sprachkenntnisse, lehrt mich gehen, tanzen, singen, von der Geometrie ganz zu schweigen; Ihr macht hübsche Spazierfahrten mit mir in den Wald von Meudon — dies alles sind Wohltaten, für die ich Euch dankbar bin ...»
«Aber?» fragte er. «Denn ich höre das aber schon ...»
«Ich hatte gedacht...»
«Sagt es nur.»
«Oh!» rief sie aus, mit einer Stimme, die sich mal wieder überschlug, obwohl er ihr diese Untugend doch schon abgewöhnt hatte. «Ihr wisst sehr wohl, was ich meine. Früher bezeigtet Ihr mir mehr Wärme. Doch je mehr Tage vergehen, desto stärker muss ich fürchten, mich getäuscht zu haben, als ich hoffte, Euch zu gefallen ...»
«Mein kleines Mädchen», sagte er, sie fest an sich drückend, von ihrem Kummer gerührt. Sie wollte schon wieder empört aufschreien, als sie die Worte «kleines Mädchen» hörte, doch blieb ihr der Schrei plötzlich im Halse stecken. Sie errötete leicht, nahm den Kopf zurück, um den Herzog besser ansehen zu können, ohne sich jedoch aus seiner Umarmung zu befreien, und lächelte, während ihre Augen Flammen zu sprühen schienen.
«Oh! Jetzt gefalle ich Euch ja wieder», sagte sie mit einem verzückten Stimmchen.
«Na, siehst du . . .» keuchte er.
«Sehen ist nicht das richtige Wort», begann sie, nun auch selbst heftiger atmend. Doch schon pressten die Lippen des Herzogs sich auf die ihren, während seine Hände sie streichelten.
«O nein, nein ...» stammelte sie, während sie von sich aus Kleid, Unterrock und Strümpfe herunterriss und ihre Schnallenschuhe mit kühnem Schwung ans andere Ende des Zimmers beförderte. «Nein . . .Monseigneur ...»
«Nenn mich doch Louis», keuchte er, während auch er sich, ohne die Kleine loszulassen, seiner Kleidung entledigte.
«Louis . . .Mein Louis seid Ihr.»
«Sag du zu mir.»
«Du . . . du . . .du.»
Das große rosenfarbene Baldachinbett mit den geschnitzten Engelsfiguren, das sich im Raum neben dem Münzkabinett befand und in dem vor Jahren Ludwig der Fromme, der Vater des jetzigen Herzogs, fast im Gerüche der Heiligkeit verstorben war, dieses Bett fing sie auf wie zwei Kanonenkugeln und musste quietschend, ächzend und bedrohlich krachend zwei Stunden lang der Bombardierung durch ihre beiden Körper standhalten.
Ein hölzerner Engel löste sich vom Baldachin, fiel herunter und zerbrach.
Als es Mittag schlug, lagen sie Seite an Seite auf dem Rücken.
Starren Blicks betrachtete der Herzog ein großes, düsteres Porträt in einem schweren Goldrahmen, das dem Bett gegen über hing und eine höchst griesgrämige Person darstellte.
«Mein Vater», sagte er spöttisch kichernd. «Dieser bigotte Heuchler! Er hat mir das Leben schon sauer genug gemacht mit seiner Frömmelei. Hast du gesehen, wie er uns zugeschaut hat? Mir hat es richtig Spaß gemacht. Ich bin sicher, er war's, der den Engel zu Fall gebracht hat, vom Himmel aus.»
Er lachte schmetternd, sprang mit einem Satz hoch, schrie schmerzlich auf, sich mit beiden Händen den Rücken haltend, und sagte schließlich, ins Kabinett hinübergehend, er wolle eine Stärkung servieren lassen, denn man hatte sie verdient.
Jeanne hörte ihn ungeduldig klingeln. Ein Diener würde kommen, sie wusste nicht woher, und kurz darauf wieder verschwunden sein. Sie hatte ihn noch nie gesehen.
Louis war tatsächlich allein, als sie eine halbe Stunde später auf sein Rufen hin das Kabinett betrat, nackt wie Eva. Er hatte einen Morgenrock aus grüner golddurchwirkter Seide übergezogen. Auf dem rosenfarbenen Marmortisch standen eine Poularde in Gelee, drei Rebhühner im eigenen Saft, Rinderbouillon, eine Schale Erdbeeren und zwei Champagnerkelche.
«Oho! Habe ich einen Hunger, mein dicker Tauberich!»
Sie riss der Poularde einen Schenkel aus und verschlang ihn gierig.
Sie verspeisten die Rebhühner, machten der Poularde den Garaus, ließen die Erdbeeren verschwinden und tranken eine Karaffe Champagner. Dann nahm Louis Jeanne bei der Hand und führte sie in ein angrenzendes Zimmer, wo eine Kupferwanne stand, die der unsichtbare Diener mit warmem Wasser gefüllt hatte.
«Ich glaube, so etwas nennt man tub», sagte Louis. «Mein Sohn, der Herzog von Chartres, ist versessen auf alles Englische und hat mir dieses Ding da schicken lassen.»
Während er sprach, hatte er Jeanne hochgehoben. Er setzte sie behutsam ins Wasser, seifte sie ein und rieb sie, ohne auch nur ein Winkelchen zu vergessen, mit bloßen Händen ab, woraufhin Jeanne, heftig erregt von den Aufmerksamkeiten, die er ihr erwies, eine neue Audienz erbat.
Nachdem die hölzernen Engel wiederum eine Stunde lang hatten erzittern müssen, ließ sich der Herzog in das nun eintretende Schweigen gähnend vernehmen: «Chahh . . .Choohhh ...»
«Sollen wir nicht ein Weilchen schlafen, mein Louis?» fragte Jeanne mit erlöschender Stimme.
«Ja, Liebste. Wo hast du das alles nur gelernt?»
Sie schlief schon halb und vermochte nur mehr zu hauchen: «Ich weiß nicht. . . das ist angeboren ...»
Als sie sich gegen sieben Uhr abends beim letzten Vogelgezwitscher in dem von schräg und golden einfallenden Sonnenstrahlen durchfluteten Schlafzimmer wieder anzog, fragte sie den Herzog, der für einen in Versailles anberaumten Botschafterempfang Galakleidung anlegte, warum er mehr als einen Monat gewartet habe, bevor . . .
«Ehrlich gesagt», antwortete er, «dir bei den Chorproben zuzuschauen, deine Formen unter der weißen Kutte zu erahnen und mich daran zu weiden, das war die eine Seite. Dich zu entführen — denn letztlich habe ich dich ja entführt —, das war schon schlimmer. Aber dich zu meiner Geliebten zu machen . . . sagen wir, da hatte ich gewisse Skrupel. Plötzlich traute ich mich nicht mehr . . . Ich fürchtete . . . wie soll ich das sagen . . . plötzlich über dich herzufallen . . . Und siehst du, je mehr ich mich zurückhalten musste, desto mehr liebte und begehrte ich dich. Doch fürchte ich, du hast daran gezweifelt.»
Sie lachte unbekümmert. «Ich zweifle nicht mehr, Monseigneur. Ihr habt meine Zweifel mit Kanonen ausgeräumt.»
«Nach gutem militärischen Brauch», sagte er lachend. Und dann, nach einem Moment des Schweigens wieder ernst werdend, erwog er fast gravitätisch: «Vielleicht war da auch noch etwas anderes.»
Er blickte ihr fest in die Augen, ernst, ja sogar melancholisch: «Ich muss dir etwas erklären, Jeanne. Wir Herzöge, Fürsten und Könige sind eine begehrte Beute. Unser Vermögen und unsere Macht kennzeichnen uns als ein gutes Geschäft, wie die Kaufleute sagen. Aber wenn wir auch Herzöge, Fürsten oder Könige sind, so sind wir doch auch Menschen und möchten nur um unser selbst willen geliebt werden.»
«Ihr habt also geglaubt...» rief sie entrüstet dazwischen.
Er schnitt ihr das Wort ab, indem er ihr behutsam seine Finger auf die Lippen legte. «Ich habe nichts geglaubt . . .aber du bist ein aufgewecktes, intelligentes und schlaues Mädchen, ungemein verführerisch und von einer Schönheit, die selbst Heilige zu Fall bringen würde. Warst du ehrlich an jenem Tag im Kloster, als du so zärtlich zu mir warst? Ich habe nicht daran gezweifelt. Und doch musste ich zweifeln. Denn ich bin nun mal Herzog und außerdem nicht mehr der Jüngste.»
«Und jetzt?»
«Ich habe dich diese ganzen Wochen über beobachtet, dir zugehört, ja, dich gleichsam ausgeforscht. Doch dein zärtliches und leidenschaftliches Verhalten mir gegenüber blieb immer gleich; dein Blick, dein Lächeln, deine Aufrichtigkeit haben mich schließlich vollends von deinem Vertrauen und deiner Zuneigung überzeugt.»
«Und den letzten Beweis hast du heute bekommen, mein Liebster», sagte sie mit betörendem Charme und jenem Lächeln, das nur ihr eigen war. Er nickte bejahend und schloss sie nochmals in die Arme.
«Und außerdem hast du nie etwas von mir verlangt», sagte er gütig lächelnd.
«Verlangt? Was hätte ich denn verlangen sollen?» Sie schien völlig entgeistert.
«Oh, wie süß das klingt!» rief er, vor Wohlbehagen lachend, aus.
«Ich habe nichts von dir zu verlangen, Louis.»
«Nach diesem Satz sollt Ihr alles von mir bekommen, Mademoiselle, mon amour.»
So vergingen einige wunderbare Monate ungetrübter Liebeswonnen. Es wurde etwa Mitte September, und Jeanne hatte noch einen weiteren Grund, glücklich zu sein. Sie erforschte nicht nur die Geheimnisse der Liebe, die ihr inzwischen schon wohlvertraut waren, sondern übte sich bereits auch auf gesellschaftlichem Parkett. Seit einiger Zeit verbrachte sie dreimal wöchentlich einen Teil ihres Nachmittags im eleganten Palais einer Madame de Delay, der reichen Witwe eines Steuereintreibers, die einen schöngeistigen Kreis bei sich zu versammeln pflegte. Der Herzog, der sie ein wenig kannte und vor allem um ihren Ruf als Dame von Geschmack und Anstand wusste, hatte ihr bei einem flüchtigen Zusammentreffen in Versailles zu verstehen gegeben, dass er ihr äußerst verbunden wäre, wenn sie eine junge Dame, deren Wohl ihm am Herzen liege, in die Regeln des gesellschaftlichen Lebens einzuführen die Güte haben wolle.
«Ich verfolge dabei die lautersten Absichten», hatte er hinzugefügt. Sie sei eine Waise, und ihr Vater, der unter seinem Kommando gedient habe, sei im Jahr zuvor an seiner Seite gefallen. Er fand es reizvoll, zu sagen, sie hieße Mademoiselle L'Ange. Denn «Ange», Engel, nannte er sie.
Madame de Delay hatte dem Herzog natürlich nicht ein Wort geglaubt. Doch war dieser herben, sittenstrengen Frau nichts anderes übriggeblieben, als sich seinen Wünschen zu beugen, wenn sie auch innerlich raste, zum Vergnügen dieses alten Lüstlings irgend so einer hergelaufenen Dirne, die in ihrem erlesenen Zirkel vielleicht nur Unfrieden stiften würde, nun auch noch Sitte und Anstand beibringen zu müssen. Doch kaum hatte sie Mademoiselle L'Ange gesehen, da wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte.
Mein Gott, dachte sie, als sie das eingeschüchterte Kind zum ersten Mal bei sich empfing. Mein Gott, wie sie ihren Namen verdient! Wirklich ein kleiner Engel! Diese Sanftmut, diese Bescheidenheit, dieses keusche Auftreten! Und ein frommer Engel noch obendrein! Und wie verhalten sie sprach! Schon nach wenigen diskreten Fragen wurde der scharfsinnigen und seelenkundigen Madame de Delay offenbar, dass man nicht nur bescheiden, keusch und scheu war, sondern auch rein gar nichts vom Leben wusste. So kam es, dass Jeanne auch der kleine Engel von Madame de Delay wurde und der Herzog in deren Achtung gleich um zwanzig Punkte stieg und sie von nun an zu jenen zählen konnte, die Gutes über ihn sagten.
In Madame de Delays Salon traf Jeanne mit Damen zusammen, die den guten Ton, vor allem den literarischen, über alles schätzten und über Dichter, Denker und andere unsterbliche Größen dieser Zeit zu sprechen pflegten. Sie lernte, über wen man nur Gutes sagen und über wen man nur Schlechtes denken durfte; dass man sich in einem Salon so zu bewegen hat, als habe man Röllchen unter den Füßen; dass man nie laut und nur hinter vorgehaltener Hand lacht, sowie andere Regeln des guten Tons. Dies alles langweilte sie keineswegs, ganz im Gegenteil: Sie war glücklich. Glücklich, Schritt für Schritt in die Geheimnisse einer erlauchten Gesellschaft einzudringen, für die sie, wie ihr mehr und mehr klar wurde, geschaffen zu sein schien. Wie sie ja auch für das Vergnügen geschaffen war, was sie allerdings schon seit langem wusste, nachdem sie es im Damenstift von Sainte-Aure recht früh erfahren durfte, als sie einmal im Krankensaal das Bett mit Antoinette de la Feraudiere geteilt hatte. Geschaffen war sie ja auch, um in Luxus und Überfluss zu leben; und dies war inzwischen auch in ihren Augen einer der nicht unwesentlichen Reize ihres Louis. Wenn sie morgens von Mama fortging oder abends zurückkehrte, trug sie zwar stets ihr kleines schwarzes Kleid, und zu den Nachmittagsgesellschaften bei Madame de Delay kleidete sie sich völlig neutral, ganz Unschuld vom Lande. Doch im Münzkabinett harrte ihrer ein eigens für sie angefertigter Schrank mit fünfzig Gewändern, eines prachtvoller und kostbarer als das andere. Und eine große Ebenholzschatuelle mit silbernen Beschlägen enthielt Schmuck, Halsketten, Ringe, Ohrgehänge, Diademe, mit denen sie sich, bar jeder weiteren Kleidung, zu behängen pflegte — ein in Gold und Edelsteinfunkelnder und lieblich klingelnder Engel, der den Herzog in Sekundenschnelle in einen Teufel zu verwandeln vermochte.
In diesem Schmuck schritt sie auch eines Abends gegen Ende Sep-tember im Schlafzimmer auf und ab; das Kerzenlicht, das sich in ihrem Geschmeide spiegelte, hüllte sie in funkelnden Glanz, während Louis, der splitternackt auf dem Bett ausgestreckt lag, sie schweigend, doch mit sichtbarem Entzücken betrachtete. Plötzlich hielt sie inne und starrte gebannt auf die Füße ihres Geliebten.
Sie trat näher, bückte sich und fragte, seine linke Fußsohle betastend: «Was hast du denn da, Cheri? Ist das eine Zeichnung?»
«Eine Tätowierung», entgegnete er. «Aber entziffern kannst du sie nur andersherum, in einem Spiegel.»
Neugierig und zugleich erregt, weil Louis plötzlich geheimnisumwittert wirkte, nahm sie einen kleinen Spiegel von ihrer Frisierkommode und hielt ihn unter seine Fußsohle.
«Ein Winkelmaß», stellte sie fest. «Und was noch? A ja: das Wort Egalite — Gleichheit. Was soll das bedeuten?»
«Ach», sagte er beiläufig, «ein Freimaurerzeichen.»
«Wieso das?»
«Nur so.»
«Es muss doch etwas bedeuten, wenn du es dir hast einbrennen lassen. Ein besonderes Zeichen?»
Er lachte ausweichend. «Das ist zu kompliziert, um es dir zu erklären. Und außerdem ist es ein Geheimnis zwischen Brüdern der gleichen Loge.»
«Ach so.»
Doch sie sah sehr wohl, dass er nicht übel Lust hatte, zu lachen und ihr etwas zu sagen. Daher ließ sie sich neben ihn aufs Bett gleiten, einen bestimmten Körperteil des Herzogs nicht aus den Augen lassend, und sagte ernsthaft: «Hättest du das Zeichen weggelassen, hätten noch viel mehr Wörter Platz gehabt.» Und, sich an ihn kuschelnd: «Cheri, sag mir doch, was es bedeutet.»
«Nein», entgegnete er, «aber ein anderes Geheimnis kann ich dir anvertrauen. Das darf ich verraten, denn es gehört mir allein. Weißt du, wer diese gleiche Tätowierung trägt?»
«Natürlich nicht, aber ich werde es ja gleich erfahren, mein Liebster.»
«Die Kinder meines Blutes.»
«Deine Kinder . . . Also der Herzog von Chartres und die Herzogin von Bourbon?»
«Ich sagte: die Kinder meines Blutes.»
«Na ja! Der Herzog von Chartres und die Herzogin von Bourbon.»
«Mein Engel, hör mal zu . . . Diese beiden haben als einzige Tätowierung ein Brandzeichen am rechten Arm. Aber das hat keinerlei wirkliche Bedeutung. Es ist nichts weiter als der Beweis, dass sie gegen Windpocken geimpft sind.»
«Soll das heißen, dass sie nicht Kinder deines Blutes sind?»
«Ach, weißt du, meine Frau hat mit vielen Besen gekehrt», seufzte er melancholisch.
« Oh!»
«Tätowieren lasse ich nur die, bei denen ich sicher bin.»
«Das ist aber komisch», rief sie lachend. «Und sind das viele?»
«Psst!», machte er, «psst! Ich kenne dich; gleich wirst du mich noch nach ihren Namen fragen.»
«Natürlich!»
«Unmöglich, mein Engel. Das würde ja jene kompromittieren, die mit meinem Besen gekehrt haben. Doch, wie mein Sohn Chartres sagen würde: Ich bin ein Gentleman. Das ist ein Staatsgeheimnis.»
«Sag lieber, es ist ein Stabsgeheimnis», rief sie, lauthals lachend; und schon hatte sie ergriffen, was eigentlich der Aufhänger dieses Gesprächs gewesen war, und zwei Minuten später zerschellte der inzwischen geleimte Baldachinengel ein zweites Mal am Boden.