Читать книгу Fanfan von der Tulpe - José-André Lacour - Страница 9
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ОглавлениеEtwa zehn Jahre vor den hier berichteten Geschehnissen saß eine wohl achtundzwanzigjährige Frau an einem Maiabend über ihrer Näharbeit am Fenster ihrer kleinen, spärlich möblierten Mietwohnung im dritten Stock des Hauses Rue Greneta Nr. 20. Es war eine eintönige Arbeit, und um sich zu zerstreuen, betrachtete sie von Zeit zu Zeit versonnen all die Kutschen, die von den nahegelegenen Fuhrunternehmen der Rue Saint-Denis aus teils in Richtung Normandie, teils nach dem Norden hin ausschwärmten, wobei das Rattern der Räder auf dem Pflaster widerhallte.
Sie war eigentlich recht hübsch, klein, aber gut gewachsen. Doch, um ehrlich zu sein, die Heimnäherei ermöglichte ihr nur ein kärgliches Dasein. Ihr Name: Felicite Donnadieu. Wichtigstes Kennzeichen: Seit vier Jahren Witwe eines Victor Donnadieu, Grenadier, der im Kanadafeldzug ums Leben gekommen war.
Soeben wollte Felicite sich, allein wie immer, zu ihrem nur aus einer Suppe bestehenden Abendessen niedersetzen, als sie ein leises Klopfen an der Tür vernahm. Es verschlug ihr die Sprache, als sie den Besucher erkannte. Zehn Jahre lang hatte sie ihn nicht mehr gesehen, seit damals, als er sie in einem Kleefeld in der Nähe der armseligen Bauernkate ihrer Eltern mit List und Tücke ihrer Jungfräulichkeit beraubt hatte.
«Du?» stammelte sie mit weit aufgerissenen Augen. «Mein Gott! Und das, was ist denn das?»
Der Besucher war Frere Ange, und das, das war Francis, drei Monate alt, in eine Decke eingewickelt.
«Ja, ich bin's, wie du siehst», sagte Frere Ange mit weltmännischem Gruß. «Darf ich eintreten?»
«Natürlich. Möchtest du mein bescheidenes Mahl mit mir teilen?»
«Mit Vergnügen; ich habe auch Wein mitgebracht», sagte er und zog aus der das schlafende Kind umhüllenden Decke ein Fläschchen Burgunder hervor. Dann setzte er die Flasche auf den Tisch und legte das Kind aufs Bett, küsste Felicite auf beide Wangen und sagte, sie habe sich gar nicht verändert.
«Du dich auch nicht. So eine Überraschung! Ich kann's noch gar nicht glauben. Nach all den Jahren! Aber wie hast du mich nur gefunden?»
«Mein Gott...» sagte er, indem er sich setzte und seine langen Beine von sich streckte. «Vor ein paar Jahren habe ich - ich weiß nicht mehr wie - erfahren, dass du, die Gattin eines Grenadiers des 3. Dragonerregiments, Witwe geworden warst. Dieses Regiment gehörte dem Grafen Balzac, der den Witwen seiner Unteroffiziere eine kleine Pension zu zahlen pflegt. Durch einen meiner Freunde, einen Heereslieferanten, bekam ich Einblick in diese Pensionsregister, und so habe ich dich eben wiedergefunden, meine Felicite.»
Als er zwei Gläser gefüllt hatte, die er eigenhändig, als wäre er hier zu Hause, dem Büffet entnommen hatte, betrachtete er die Frau.
«Du bist hoffentlich immer noch Witwe, oder?»
«Aber ja.»
«Ich meine ... du hast keinen Liebhaber, der mich plötzlich überraschen und fragen könnte, was ich hier treibe?»
«O nein», entgegnete sie fast melancholisch. «In meinem Alter gefällt man so leicht keinem mehr.»
«Mir gefällst du immer noch», sagte er schalkhaft. «Ich bin sicher, dass du wieder einen guten Mann finden wirst.»
«Dein Wort in Gottes Ohr! Aber . . . was verschafft mir denn das Vergnügen eines so unerwarteten Besuches?» fragte sie, neuerlich erstaunt.
«Das da», antwortete er, auf das Bett weisend, wo der Säugling inzwischen aufgewacht war.
«Wie süß er ist», sagte Felicite, die zu ihm gegangen war. «Und was für Augen! Wie Edelsteine! Schau nur, wie er mich ansieht, dieser kleine Cherub! Aber ich verstehe immer noch nicht...»
«Ich werde es dir erklären», sagte Frere Ange.
Und das tat er denn auch, während sie ihre Suppe aßen.
«Dieser Quälgeist heißt Franc,ois L'Ange. Er ist drei Monate alt und das uneheliche Kind einer hochgestellten Persönlichkeit. Meine Frage ist nun folgende: Wärest du bereit, ihn aufzuziehen, ihm eine Amme hier aus der Gegend zu besorgen, kurz, dich um seine Erziehung zu kümmern, so lange ich es wünsche! Du wirst es nicht zu bereuen haben. Jeden Monat bekommst du als Entschädigung die gleiche Summe, die deine Pension dir einbringt. Und später vielleicht eine noch höhere Belohnung.»
«Wie geheimnisvoll das alles ist», rief Felicite aus, ganz betäubt von solch einem Anerbieten. Sie betrachtete den Säugling von neuem und verharrte einen Moment in Schweigen.
«Ist er nicht hübsch?» fragte Frere Ange.
«Sehr.»
«Und vollendet gewachsen. Einen Kopf, als wäre er schon acht Monate alt.» Das hat er von mir, hätte er beinahe hinzugefügt, aber da ihr der Verwandtschaftsgrad ein Geheimnis bleiben sollte, schwieg er, wenn auch nicht ohne Bedauern.
«Ich war auch einmal in Hoffnung», sagte sie traurig. «Doch dann habe ich es verloren. Und wie die Hebammen sagen, kann ich keine Kinder mehr kriegen.»
«Na, siehst du! Da habe ich ja an die richtige Tür geklopft!»
«Lass mich wenigstens nachdenken!» rief sie lachend. «Es ist doch eine wichtige Entscheidung!»
«Wir haben ja auch noch den ganzen Abend, meine Schöne», erwiderte er gelassen und schenkte erneut Burgunder ein.
So also hielt Francis, der bald schon Fanfan werden sollte (denn so nannte er sich, als er zu sprechen begann), seinen Einzug in die Vorstadt Saint-Denis, die bald das Reich seiner Bubenstreiche werden sollte.
Aufgrund eines merkwürdigen Zufalls fand an eben jenem Abend, da Fanfan zu Felicite gebracht wurde, ganz in der Nähe von deren Wohnung ein großes Kinderfest statt, das die alte Gräfin Ambrogiani für ihre Enkelkinder gab. Der in ihrem Palais mit Spannung erwartete Ehrengast war ein zehnjähriger Knabe, der Herzog von Chartres. So fügte es sich, dass zu eben jener Stunde, da sozusagen nebenan über Fanfans weiteres Leben verhandelt wurde, sein Halbbruder, der andere Sohn des Herzogs von Orleans, Gavotte tanzte.
Monat für Monat kam nun Frere Ange, um die versprochene Summe abzuliefern und die Fortschritte seines «Schützlings» zu begutachten. Von Zeit zu Zeit teilte er diese Fortschritte auch der Mutter des Knaben mit.
Nach ihrer Rückkehr aus Vaucouleurs hatte Jeanne eine Zeitlang bei ihrer Mutter gelebt, bis sie bei Labille, in dessen Modesalon La Toilette, Kost und Logis sowie eine Anstellung als Verkäuferin erhielt. Der Salon lag in der Rue Neuvedes-Petits-Champs, eigentlich gar nicht so weit entfernt von der Rue Greneta.
Labille galt als der Modekönig. In seinem Salon herrschte stets fröhliches Treiben. Edelleute, Börsenspekulanten, Gardeoffiziere gingen hier aus und ein, und diese reichen, goldbetressten Schmetterlinge umschwirrten Jeanne, die in diesem Trubel allmählich vergaß, dass sie einmal todunglücklich gewesen war. An Fanfan dachte sie nur an den Tagen, da ihr Vater sie aufsuchte, um ihr von ihm zu erzählen.
Zum Glück hatte Felicite Fanfan schnell liebgewonnen. Sie war ihm eine richtige Mutter geworden. Für die Nachbarschaft war er ihr Neffe, der Sohn ihrer plötzlich verstorbenen Schwester, und wenn es auch anfangs zu Anspielungen und Klatsch gekommen war, so hatte sich das alles schnell gelegt.
Abends tauchte manchmal ein gewisser Piganiol bei ihr auf, Alceste Piganiol. Die ersten Eindrücke, die Fanfan von ihm bekommen haben dürfte, waren wohl die eines verweichlichten Herkules, der weibisch lachte und ihn fast bis zur Zimmerdecke schwenkte. Piganiol brachte ihm immer ein Dragee mit, und das dürfte wohl die Ursache für Fanfans spätere Dragee-Leidenschaft gewesen sein. Piganiol hatte auch als Grenadier in Kanada Dienst getan, Waffengefährte also von Donnadieu. Er war es gewesen, der vor einigen Jahren Felicite vom Heldentod ihres Gatten in Kenntnis gesetzt hatte: Donnadieu war in einen Hinterhalt des Irokesen-Stammes geraten! Fanfan mochte Piganiol gern. Daher glaubte er an jenem Tag, als Felicite ihn auf den Schoß nahm und ihm erzählte, er bekäme jetzt auch einen Papa, das könne nur Piganiol sein.
Doch er irrte sich.
Die Rede war von Tronche. Fanfan war drei Jahre alt, als Felicite sich in zweiter Ehe mit Philibert Tronche verheiratete und damit ihrer beider Unglück besiegelte.
Philibert Tronche war nicht schön, nicht reich, nicht gut gebaut, nicht jung (schon fünfundvierzig!) — aber ein Mann! Felicite hatte begonnen, ihre Abende recht lang und ihre Enthaltsamkeit recht anstrengend zu finden. Richtig ist aber auch, dass sie sich des Kindes wegen einen Mann ins Haus wünschte.
Sie kannte den Mann zwar kaum, der in einer düsteren und verrauchten Werkstatt anderer Leute Waffen reparierte. Sie hatten einander nur immer flüchtig gegrüßt. Tronche hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, aus seiner Werkstatt herauszutreten, sobald er Felicite mit ihrer Flickwäsche unter dem Arm vorbeikommen sah. Auch er war Witwer und hatte ebenso wie Felicite gewisse Hitzewallungen. Und so kam es eines Tages, als er sie heimbegleitet hatte, um ihr das schwere Wäschebündel zu tragen, dass sie es beide nicht mehr aushielten und alle Zügel fahren ließen. Das hatten sie zumindest vor. Aber Fanfan, den man aus dem Raum der geplanten Sünde verbannt hatte, stieß sich den Kopf an der Tischkante, brüllte wie am Spieß und hämmerte mit einem dicken Holzklotz gegen die Tür. Auf schändliche Weise fühlte Monsieur Tronche sich plötzlich wieder gezügelt, was der Grund dafür sein dürfte, warum er von diesem Tage an Fanfan hasste.
Eine der ersten Konsequenzen dieses Gefühls, das sich trotz Felicites heftiger Proteste in grundlosen Schimpfkanonaden, wenn nicht gar Backpfeifen äußerte, war die Tatsache, dass Piganiol sich nie mehr in der Rue Greneta sehen ließ.
Er war Trauzeuge gewesen bei Felicites zweiter Eheschließung und auch kurz danach noch ab und zu vorbeigekommen. Doch als er eines Abends mitansehen musste, wie Tronche mit einer Ohrfeige den kleinen Fanfan ans andere Ende des Zimmers beförderte, weil dieser - er hatte draußen mit Goujon gespielt und doch keine Zeit verlieren wollen! - in die Hosen gemacht hatte, da hielt es den braven Piganiol nicht mehr:
«Na, hör mal! Bist du verrückt geworden? So kannst du doch nicht auf ein Kind einschlagen!»
«Rohling», schrie ihrerseits Felicite, «abscheulicher Rohling!»
«Wer ist denn hier wohl der Herr und Meister?» brüllte der andere. Kurzum, Piganiol erhob sich und verließ türknallend das Haus. Felicite und Fanfan, den sie mit einer Hand an sich presste, während in der anderen drohend der Schürhaken funkelte, schluchzten herzzerreißend.
«Siehst du, Tante», schrie plötzlich Fanfan, «Piganiol hättest du heiraten sollen, ich hab's dir doch gesagt.»
Dieser Satz war nicht dazu angetan, die Stimmung zu bessern. Philibert Tronche verließ ebenfalls das Haus, um sich in der Schenke gegenüber zu betrinken, doch nicht ohne vorher gedroht zu haben, eines Tages werde er sie alle umbringen.
Und in dieses «sie alle» waren nicht nur Piganiol, Felicite und Fanfan, sondern auch Frere Ange einbeschlossen.
Tronche war nämlich nach und nach zu der Überzeugung gelangt, Fanfan sei nicht Felicites Neffe, sondern ihr Sohn. Und der Vater konnte niemand anders sein als jenes ihm gegenüber unverschämt auftretende Subjekt, das jeden Monat Geld ablieferte. Daher hasste er Frere Ange ebenfalls. Ihre erstmalige Begegnung war allerdings auch nicht dazu angetan gewesen, Sympathie herzustellen. Damals hatte Tronche sich gerade, mit einem Blumenstrauß bewaffnet, Felicites Tür genähert, als er Frere Ange dort drinnen ausrufen hörte:
«Tronche? Der Kerl, der die alten Pistolen repariert? Du wirst doch nicht so einen ungehobelten Klotz heiraten! Der stinkt doch aus dem Maul; das weiß ich aus eigener Erfahrung, weil ich ihm letztes Jahr eine alte Muskete gebracht habe.»
Und als zweite Entschuldigung für Tronche sollte man vielleicht erwähnen, dass er zwar einmal Hitzewallungen gehabt hatte, dass es damit jedoch längst vorbei war. Das war nur eine kurze Gefühlsanwandlung gewesen, während seine junge, nun wieder aufgelebte, doch schnell enttäuschte Gattin bedenkliche Anzeichen von Liebesbereitschaft, schmachtender Hingabe und gleichzeitiger Frustration, die sich in Seufzern äußerte, erkennen ließ. Daher sah Tronche in jedem anderen Mann einen Todfeind.
Lange genug hatte er nun über seinem nagenden Verdacht bezüglich des Verwandtschaftsverhältnisses Frere Ange-Felicite-Fanfan gebrütet. Eines Abends — er hatte wieder einmal getrunken - war das Maß voll; er musste seine Männlichkeit unter Beweis stellen und es ihr ins Gesicht schleudern.
«Aber du bist ja total verrückt!» schrie ihm seine Frau entgegen. «Und hör endlich auf, wie ein Idiot auf dem Tisch herumzutrommeln! Geh doch zur alten Lachaume, die wird dir schon sagen, dass ich nicht Mutter werden kann!» Das stimmte. «Und Frere Ange - der hat mich übers Taufbecken gehalten!» Das war gelogen.
Tronche hätte vermutlich mit der den Eifersüchtigen – auch den dummen - eigenen dialektischen Geschicklichkeit weiter argumentiert, doch der Tag war schlecht gewählt. Es war ja, er hatte es ganz vergessen, der Besuchstag von Frere Ange!
Und Frere Ange hatte die Diskussion hinter der Tür mit angehört. Ohne anzuklopfen trat er ins Zimmer, beeindruckender denn je mit seiner Hakennase, seinem ätzenden Blick, seiner metallischen Stimme und seinen schwarzen Gewändern, die ihm das Aussehen eines Staatsanwalts verliehen.
«Ich habe sie übers Taufbecken gehalten», sagte er. «Das dürfte Euch beruhigen, wie auch mein priesterlicher Stand. Aber da Euch ein unwürdiger Verdacht verzehrt, Eure Phantasie mit Euch durchgeht und meine Christenpflicht mich lehrt, mit Euren Qualen Mitleid zu haben, sollt Ihr das Geheimnis, das zu enthüllen ich Eurer Gattin untersagt habe, erfahren. Dieses Kind ist weder ihr noch mein Sohn, noch ist es ihr Neffe. Eine höhere Macht versagt es mir, Euch noch mehr zu sagen, denn es ist ein Geheimnis. Aber da Ihr nun eingeweiht seid, vergrabt es in Eurem Herzen wie ein Ehrenmann, der Ihr ja seid, und leidet nicht mehr unter einer Situation, die nur in Eurem überhitzten Gehirn besteht. Bewahrt das Geheimnis, das selbst Eure Frau nicht kennt, darum ersuche ich Euch! Doch obwohl sie lange gezögert hat, sich mir anzuvertrauen, weiß ich seit vorigen Monat von Eurer Frau, dass Ihr aufgrund Eures schändlichen Verdachtes Euch Fanfan gegenüber nicht wie ein Vater benehmt. Das muss sich ändern, Monsieur, sonst könnten Euch Unannehmlichkeiten erwachsen!»
Potzblitz! Eine stolze Rede!
War es, weil er als Ehrenmann angesprochen worden war? Weil man ihn in ein Geheimnis eingeweiht hatte, das man ihm - aber um das zu merken, war er zu dumm - gar nicht enthüllt hatte? Aus Angst vor Frere Ange? Weil diese geheimnisvolle Aureole, die von nun an über Fanfan schwebte, ihn beeindruckte? Jedenfalls ließ Philibert Tronche es sich gesagt sein.
Er schlug Fanfan nur noch, wenn er stockbetrunken war, und auch nicht ärger, als es damals, wo man die Kinder ja streng erzog, üblich war. Nur die unglückliche Felicite wurde von jetzt an Opfer seines aufbrausenden Temperaments. Sie hatte öfter als gerechtfertigt ein blaues Auge oder einen wackelnden Zahn. Und da Philibert Tronche Sorge trug, Frere Ange zu gefallen zu sein, damit dieser ihm keine «Unannehmlichkeiten» bescherte, machte er ihm gegenüber den Vorschlag, Fanfan in die Kunst der Handhabung und der Reparatur von Feuerwaffen einzuweihen, worauf er sich ja verstand. Frere Ange hieß diesen Gedanken gut.
In den folgenden Jahren verbrachte Fanfan daher seine ihm nach dem Herumstreunen auf den Straßen verbleibende Zeit teils in der Werkstatt von Philibert Tronche, teils im Arbeitszimmer des Lehrers Volle, den Frere Ange zusätzlich bezahlte.
Sehr schnell lernte Fanfan Schreiben, Lesen und Rechnen. Es machte ihm Spaß, wenn auch weniger als das Auseinandernehmen, Zusammensetzen und Reparieren der Feuerwaffen, worin er bald Monsieur Tronche ebenbürtig war. Seine größte Freude war das Scheibenschießen im Hinterhof der Werkstatt, um zu prüfen, ob die Waffen auch exakt funktionierten.
Fanfan hatte Mühe, die klobigen Kriegswaffen zu handhaben, ohne den Lauf auf einer Stuhllehne aufzustützen; denn diese Pistolen waren entsetzlich lang. Da waren ihm die kürzeren und leichteren Faust- oder Reisewaffen schon lieber, und auf diese kleinen Pistolen hatte sich Tronche spezialisiert.
Eines Morgens, als Frere Ange auf dem Wege zu Felicite, der er wie jeden Monat die Pension des Kindes zahlen wollte, an der Werkstatt vorbeikam, entdeckte er hinter den rußgeschwärzten Fensterscheiben Fanfan. Er trat ein. Fanfan hockte auf einer Pritsche und reinigte hingebungsvoll den Abzug einer Waffe. Es war Februar und schneidend kalt.
«Bist du allein?»
«Ja, Monsieur», sagte Fanfan aufspringend, denn Frere Ange war die einzige Person, der er echte Hochachtung entgegenbrachte, vielleicht, weil er ihm immer geheimnisumwoben schien, von allen «Monsieur» genannt wurde und einen schwarzen Dreispitz trug.
«Was machst du denn da?»
«Ich richte einen Abzug. Seht selbst, er klemmt.»
«Hast du hier geschlafen?»
«Ich bin diese Nacht hergekommen.»
«Machst du das öfters?»
«Manchmal.» Er schien verdrossen und abweisend.
«Ist dein Onkel nicht da?»
«Der muss erst seinen Rausch ausschlafen. Deswegen bin ich hier.»
«Hat er dich geschlagen?» fragte Frere Ange mit strenger Miene.
«Mich nicht. Aber Tante Felicite. Wenn ich das sehe, haue ich immer ab und komme hierher. Sonst würde ich ihn umbringen.»
«Na, du bist ja ein Hitzkopf», sagte Frere Ange, nicht ohne mit Stolz festzustellen, dass das Bürschchen Ehrgefühl im Leib hatte.
«Er macht sie zur unglücklichsten Frau der Welt, Monsieur. »
«Warum sagt sie mir nichts davon?»
«Ich glaube, sie schämt sich.»
«Ich muss diesem Schurken wohl wieder mal Angst einjagen», bemerkte Frere Ange.
«Er wird es immer wieder tun», entgegnete Fanfan. «Ich muss ihn abknallen. So! Seht Ihr?» Und mit einer Handfeuerwaffe, die er während des Gesprächs geladen hatte, zielte er durch die zum Hinterhof offenstehende Tür, drückte ab, woraufhin eine in zehn Meter Entfernung auf einer Bank stehende Tasse in tausend Splitter zersprang.
«Mein Kompliment!» sagte Frere Ange und ließ sein trockenes Lachen vernehmen. «Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Fanfan. Heute wirst du acht Jahre alt. Hier hast du drei Pfund. Kauf dir, was dir Freude macht.»
«Einen Haufen Dragees!» jubilierte Fanfan. «Tausend Dank, Monsieur.» Doch plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht, während er starr auf eine kleine Pistole, die er sich angeeignet hatte, hinunterblickte.
«Bitte, sagt mir, Monsieur, in welchem Alter darf man einen Mann töten?»
«So spät wie möglich, mein Kleiner, so spät wie möglich», erwiderte Frere Ange.
Doch das Leben selbst sollte Fanfan daran hindern, jetzt oder später Philibert Tronche ins Jenseits zu befördern. Dieser starb ohne jegliche fremde Hilfe zwei Wochen später an Unterkühlung, obwohl er sich kurz zuvor erst in seinem Stammlokal gründlich eingeheizt hatte.
«Es stimmt schon, Kälte tut manchmal gut», bemerkte Frere Ange beim Begräbnis, und das sollte die einzige Totenrede für das Scheusal sein.
Auf dem Heimweg vom Friedhof erstand Fanfan mit dem Geld, das er zum Geburtstag bekommen hatte, ein Kilo Dragees, die er mit Felicite teilte. Davon, dass es auf diesem Planeten einmal einen Philibert Tronche gegeben hatte, zeugten nur mehr die blauen Flecken, von denen die Augen seiner Witwe eingerahmt waren.
«Jetzt werden wir endlich Ruhe haben», stellte Fanfan fest.
Das folgende Jahr verlief tatsächlich friedlich. Fanfan besuchte weiterhin den Unterricht, aber auch die Werkstatt, wo er in göttlicher Einsamkeit sich in der Waffenkunde vervollkommnete, wenn er nicht gerade feilte oder hämmerte oder mit den Freunden Goujon, Nicolas Namenlos und Heiliger Vater durch das Viertel streifte. Kurzum, Fanfan war glücklich. Er fühlte sich königlich. Bestimmt ebenso wie sein Halbbruder, der Herzog von Chartres, der inzwischen neunzehn Jahre alt war und der in eben diesem Jahr im Bordell von Dame Brissault mit der entzückenden Rosalie Duthe seine Unschuld verlor. Monseigneur war über einen dreimaligen Potenzbeweis, der sein Debüt darstellte, höchst beglückt, wie man einem Polizeibericht entnehmen konnte, der Ludwig XV. vorgelegt wurde und diesen sehr ergötzte.
Doch zurück zu Fanfan. Wer tauchte denn da plötzlich in der Rue Greneta Nr. 20 auf?
Piganiol! Alceste Piganiol. Er wurde gleich zum Mittagessen eingeladen. Angeblich hatte er erst vor ein paar Tagen von dem grausamen Schicksalsschlag erfahren, und daher kam er fast ein Jahr später, um zu kondolieren. Was war dem unglücklichen Philibert Tronche denn zugestoßen? Er stellte all jene dümmlichen Fragen, die einem bei einem Todesfall einfallen.
«Was hat er denn gehabt?»
«Unterkühlung», entgegnete Fanfan. «Er hatte sich zu stark eingeheizt.»
«Fanfan!» rief Felicite. «Er ist tot, und Friede seiner Asche.»
«Diese Trauermiene können wir uns beide sparen», erwiderte Fanfan.
«Dieser Kerl war keinen rostigen Abzug wert. Das musste einmal gesagt werden, und nun: Friede seiner Asche.»
«Es stimmt allerdings . . .» sagte vorsichtig Piganiol. «Ich erinnere mich da noch an einen Abend, meinen letzten übrigens in diesem Hause ...»
«Wie er die da durch die Mangel gedreht hat», bemerkte Fanfan, auf Felicite zeigend. «Von meinen Hinterbacken gar nicht zu reden.»
«Ja, ja, er war kein Donnadieu! . . . Dieser gute, brave Donnadieu, tapfer und anständig, verschollen im kanadischen Schnee! Welch ein Unglück für Euch, Madame Felicite, dass er diesen Irokesenpfeil nicht überlebt hat!»
Felicite weinte, doch Fanfan zeigte sich sehr interessiert, was sich bei jedem Besuch Piganiols steigerte. Denn Piganiol kam wieder, erst alle vierzehn, dann alle acht Tage und schließlich zweimal pro Woche, wenn sein Dienst es ihm erlaubte. Er war nämlich Gefängnisschreiber im Fort l'Eveque.
Piganiol, mit seiner weichen, öligen, doch wohlklingenden Stimme berichtete nicht nur vom Leben und Sterben seines so grundanständigen Freundes, dem Grenadier Victor Donnadieu, sondern auch von dessen Zweikämpfen, Schlachten, Belagerungen, Angriffen mit geschwungenem Säbel und im Federschmuck der Indianer. Man fühlte sich mitten drin. Fanfan ballte die Fäuste, riss die Augen auf und ließ, wenn Kanonendonner vorkam in Piganiols Erzählung, ein bedrohliches PENG! BUMM! hören. Er brannte darauf, es seinem tollen Onkel Victor Donnadieu gleichzutun und seinen Skalp für Frankreich und den König zu opfern!
Doch der leidenschaftliche und zugleich naive Zuhörer, der er war, bemerkte nicht, dass Felicite Piganiol schmachtend ansah und dieser mit gurrender Stimme noch etwas ganz anderes erzählte als Kriegsgeschichten. Als er eines Abends unerwartet nach Hause kam, sah er nur vier Beine in der Luft. Er tat so, als habe er nichts gesehen, und kam erst eine Stunde später wieder. Von Piganiol keine Spur mehr!
«Weißt du noch», fragte Felicite nach langem, betretenem Schweigen, «dass du vor langer Zeit einmal gehofft hast, ich würde Alceste heiraten? Du hattest es mir sogar geraten.»
«Das hab ich vergessen», entgegnete Fanfan. «Aber es scheint mir, als wäre es schon geschehen, oder?»
Vierzig Tage später fand Felicites dritte Hochzeit statt. Während der feierlichen Minute, die aus ihr Madame Piganiol machte, flüsterte Frere Ange Fanfan ins Ohr:
«Dieser Hüne ist besser als Tronche. Nur ein bisschen ölig. Gefällt er dir?»
«Er kann gut erzählen», stellte Fanfan nüchtern fest.
«Begeistert siehst du ja nicht gerade aus.»
«Ich hoffe, dass diesmal alles klappt.»
«Was hast du denn?»
«Ach, nichts», sagte Fanfan. Doch seine gerunzelten Augenbrauen standen in deutlichem Kontrast zu seinem niedlichen Sonntagsanzug.
«Vielleicht brauchst du nicht mehr lange bei ihnen zu leben», sagte Frere Ange leise.
Fanfan sah ihn an. Frere Ange kam ihm plötzlich so zweideutig vor. Ein wissendes Lächeln lag über seinen schmalen Lippen. Aus flüchtig erhaschten Andeutungen, aus der Art, wie er ihn manchmal ansah, und vor allem seit jenem denkwürdigen Abend, wo Frere Ange dem alten Tronche die Leviten gelesen hatte, was er leider nicht ganz mitbekommen hatte, da er schon in seinem Zimmer und halb eingeschlafen war - aus all dem hatte Fanfan den Eindruck ge-wonnen, dass sein Leben durch irgendwelche wundersamen Umstände und durch Mitwirkung von Frere Ange sich eines Tages ändern würde und die Vorstadt Saint-Denis wohl nur eine vorübergehende Etappe sein sollte. Ob diese komische Tätowierung unter seinem Fuß etwas damit zu tun hatte? Und so fragte er sich auch jetzt, während er Frere Ange ansah, ob «seine Zeit wohl gekommen war», wie es in der Bibel heißt, aber er erhielt keine weiteren Auskünfte.
Dabei wäre ihm das sehr willkommen gewesen. Denn es «klappte» eben nicht; es wurde sogar täglich schlimmer, seitdem Piganiol in die Rue Greneta übersiedelt war.
Zunächst folgendes: Piganiol war nicht brutal, brüllte nicht, trank auch nicht, entpuppte sich aber als ein unglaublicher Faulpelz, was man an seinem salbungsvollen Gehabe schon hätte ablesen können, aber so etwas täuscht ja manchmal.
Nachdem er sich ein paar Wochen lang über seine mörderisch anstrengende Arbeit als Gefängnisschreiber beklagt hatte, ging er schließlich gar nicht mehr hin, eine Bronchitis vortäuschend. Später erfuhr man, dass er gekündigt hatte, um eine andere Stelle zu suchen, die er nie fand, da er seine Zeit damit verbrachte, in der Seine zu angeln. War er daheim, schlich er in der Wohnung umher und zeigte sich alle paar Minuten in der Küche, wo Felicite das Essen zubereitete, denn er war ein echter Vielfraß. Fanfan verging der Appetit, wenn er ihn so schlingen, wohlig grunzen und rülpsen sah. Und wenn man bedenkt, dass Fanfan den Kanada-Feldzug inzwischen auswendig kannte, wird man verstehen, dass der Grenadier Piganiol in seinen Augen jeglichen Reiz eingebüßt hatte.
Doch als er merkte, dass der Grenadier nie mehr eine Arbeit annehmen würde, wuchsen in ihm Verachtung und Empörung. Er verstand nicht, wie die tapfere Felicite dies alles hinnehmen konnte. Oder besser gesagt, er verstand es nur zu gut.
Am Tag der Hochzeit, als er auf Frere Ange einen so wenig begeisterten Eindruck gemacht hatte, war ihm ein höchst peinliches Bild vor Augen erschienen. Es war aus zwei Phasen zusammengesetzt. Die erste Phase war abgelaufen, als er seine Tante in jener schon erwähnten ungewöhnlichen Lage angetroffen hatte.
Aber darüber konnte man noch hinwegsehen, da die Erwachsenen so etwas nun mal tun. Die zweite Phase war erst vor kurzem hinzugekommen. Zwei Tage vor der Hochzeit hatte er, den Felicite in sein Zimmer geschickt hatte, weil sie angeblich mit ihrem Alceste den Ehevertrag durchsprechen wollte, merkwürdiges Gewimmer aus dem Nebenraum vernommen. Seine erste Reaktion war, seiner Tante zu Hilfe zu eilen. Sie musste krank sein! Doch dann wurde ihm plötzlich klar, dass dieses Gewimmer wohl einen Zusammenhang hatte mit der besonderen Lage, wenn jemand einen aufs Kreuz legt. Und den Beweis bekam er, als er vorsichtig durch den Türspalt spähte: Sie hatte tatsächlich wieder die Beine in der Luft!
Und dies geschah nun jeden Abend, seit Piganiol im Haus war! Piganiol war vielleicht in allen Dingen weichlich, hierbei jedoch nicht, und deswegen musste er wohl auch so viel essen und sich ausruhen. Mochte es ihm wohl bekommen! Doch am meisten schockierte und enttäuschte Fanfan, dass seine Tante, die ihm ja doch so etwas wie eine Mutter war, sich nur noch als Weibchen aufführte, von dem Mann nicht ein Fünkchen Anstand verlangte, das ganze Geld ihrer beider Renten für dessen Gefräßigkeit verschleuderte, und das alles wegen dieser «saublöden Fickerei»! (Diesen Ausdruck hatte er von Nicolas Namenlos, dem er seinen Kummer anvertraut hatte; und dieser hatte ihn von seiner Mutter.) Das waren düstere Aussichten! Doch Fanfan war erst zehn und konnte daher noch nicht erkennen, dass Felicite zum ersten Mal in ihrem Leben (und sie war inzwischen fast vierzig!) auf diese Art überfallen, entblößt, aufs Kreuz gelegt, im Sturm genommen wurde, denn Victor Donnadieu, der heroische Grenadier, neigte, was der Achtung, die man einem gefallenen Grenadier schuldet, keinerlei Abbruch tut, zu vorzeitiger Ejakulation.
Nach seinem so unheilvoll endenden Zusammentreffen mit Oberst Ramponeau hatte Fanfan fast alle Nächte in der Werkstatt zugebracht, denn er konnte das Keuchen von Piganiol, die verzückten Klagelaute von Felicite und ihr ewiges Gehabe, als lebten sie ständig in Trance, nicht mehr ertragen.
Er ging nur noch zum Essen nach Haus, hastig und verschreckt, und war überzeugt, jedermann könne an nichts anderes denken als an seine schmachvolle Prügelstrafe.
Um sich Bewegung zu verschaffen, schlich er nachts für ein oder zwei Stunden nach draußen; und auch zu seinem Lehrer ging er erst, wenn es dunkel war. Als Schutz gegen eventuelle üble Begegnungen trug er ständig die kleine englische Pistole bei sich, mit der er damals, als er noch die Absicht hatte, Philibert Tronche umzulegen, Frere Ange den Beweis seines Könnens geliefert hatte. Dem alten Tronche trauerte er sogar manchmal nach. Er war immer noch besser gewesen als dieser Piganiol! Diesen begann er zu hassen. Er sah ja schließlich, dass Felicite sich kaum mehr um ihn kümmerte, und auch das machte ihn traurig. Manchmal schickte sie ihn sogar fort, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen war.
Und so geschah es, dass Fanfan bei seinen einsamen und traurigen nächtlichen Streifzügen in Tränen ausbrach. Doch er fasste sich schnell, schluchzte ein paarmal und fluchte dann wie ein Dragoner. Goujon, der Heilige Vater oder Nicolas Namenlos besuchten ihn, einzeln oder gemeinsam, alle Tage, doch war er immer missgelaunt und wie leblos. Er dachte darüber nach - doch das hatte er ihnen noch nicht gesagt -, ob er dieses Viertel seiner Schmach und der verlorenen Liebe Felicites nicht verlassen sollte. Doch bevor er diese Entdeckungsreise in die weite Welt antreten konnte, ausgestattet mit den dreißig Pfund von Cartouche, die er verbissen zusammenhielt, musste er unbedingt noch mit einem Feind abrechnen. In welchem Winkel dieses weiten Paris er sich auch versteckt halten mochte, er würde ihn finden, diesen Doppelverräter Pastenague, den Urheber seiner Schmach, die Zielscheibe seiner Rache! Aber der Mensch denkt, und ... da geschah etwas, und Fanfan verschob seine Rache und seine Abreise auf einen späteren Zeitpunkt.