Читать книгу Fanfan von der Tulpe - José-André Lacour - Страница 6

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Drei Tage später wurde Anne Ranqon mitten in der Nacht von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Zunächst glaubte sie, es sei der Wind, der böig gegen die Fenster blies, doch als sie sich, um besser hören zu können, im Bett aufgesetzt hatte, sagte ihr ein Gefühl, dass dieses Geräusch aus Jeannes Zimmer kam. Sie rüttelte ihren Mann wach:

«Ranqon!»

«Hmm ...» brummte dieser.

«Hörst du's?»

«Was?»

«Das Geräusch . . . Drüben, bei Jeanne . . .Klingt wie ein Jammern . . .Ja! . . .»

Zwei Minuten später, nachdem sie Feuer geschlagen hatte, um eine Kerze anzuzünden, klopfte sie an die Tür ihrer Tochter. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Jeanne jammerte, stöhnte, würgte.

«Jeanne! Was ist denn los?»

«Geh doch rein», sagte Ranqon, der ihr gefolgt war.

Anne stieß die Tür auf. Auch hier war eine Kerze angezündet worden. Die Flamme erzitterte bei jedem Windstoß, der gegen die Läden fuhr.

Jeanne hing über ihrer Waschschüssel, mit der einen Hand sich die Stirn, mit der anderen das schwere Haar zurückhaltend, und übergab sich. Sie wandte ihrer Mutter tränenerfüllte Augen und ein schweißüberströmtes Gesicht zu.

«Jeanne, mein Püppchen!»

«Es hat schon im Wagen angefangen, als ich heimkam», stotterte Jeanne. «Oh, mir ist so elend!»

«Hast du zu viel gegessen? Zuviel Wein getrunken?»

Jeanne nickte, und obwohl schon wieder Übelkeit sie würgte, gelang es ihr noch, mit einem erbarmungswürdigen Lächeln hinzuzufügen, anschließend habe sie noch mit Monseigneur getanzt. In Wirklichkeit hatten sie sich vor allem damit vergnügt, einander von Zimmer zu Zimmer zu jagen und darum zu ringen, wer zuunterst und wer zuoberst liegen sollte.

Dabei hatten sie sogar Möbel umgeworfen.

«Geh runter und hol Wasser», sagte Anne zu ihrem Mann.

Und als sie mit ihrer Tochter allein war: «Du bist doch hoffentlich nicht in anderen Umständen?»

«Aber Mama . . . welche Respektlosigkeit gegenüber Monseigneur!»

Jeanne hatte immerhin noch die Kraft, kurz aufzulachen, aber Anne war keineswegs nach Scherzen zumute, und in einem ungeheuer geschraubten Satz bemerkte sie, gewiss, dies sei unmöglich, undenklich, außer Frage und dennoch durch aus möglich, wahrscheinlich und zwingend. Eine kurze und wirre Ansprache, die jedoch unterbrochen wurde, als Jeanne ihr sagte, sie sei noch in der vorigen Woche sehr unwohl gewesen.

«Ah, gut!» sagte Anne. Jetzt war sie beruhigt. Und gleichzeitig sehr enttäuscht. Ranqon, der mit einem Krug Wasser und einem Glas zurückkam, stellte verdutzt fest, dass sie aussah, als träumte sie, obwohl sie ihm äußerst wach vorkam.

«Na?» fragte er. «Geht's besser?»

«Jedenfalls ist sie nicht schwanger», entgegnete Anne, während sie mit mürrischer Miene ihrer Tochter zu trinken reichte.

«Ich werde ja schön aussehen morgen, wenn ich zu Madame de Delay gehe», wimmerte Jeanne, sich wieder niederlegend.

«Und dabei wird ein großer Dichter erwartet. Ich sollte ihm sogar eines seiner Gedichte vortragen.»

«Ich bin sicher, dass du Aufsehen erregen wirst», entgegnete ihre Mutter.

Wie recht sie hatte, erwies sich am folgenden Tag, als Jeanne um vier Uhr nachmittags, mit einem makellos weißen Kleid angetan, umringt von aufmerksam lauschenden Liebhabern der Poesie, mitten im schönen Salon von Madame de Delay einen Rülpser hören ließ, sich übergab und ohnmächtig zu Boden sank. Es war sechs Uhr und schon dunkel, als die kleine graue Kutsche, die, wie üblich, Jeanne bei Madame de Delay abholen sollte, in den Hof der Abtei Sainte-Genevieve einfuhr.

Monseigneur, der mit dem Ordnen von Münzen beschäftigt war, verspürte einen verfrühten Wonneschauer und trat ans Fenster. Der Kutscher war bereits vom Bock heruntergesprungen und öffnete soeben den Wagenschlag. Mit Erstaunen bemerkte der Herzog, dass dem Wagen eine Person entstieg, die er infolge der Dunkelheit nicht zu erkennen vermochte; aber es war eine Frau, das war eindeutig an ihrem Gebaren zu erkennen, und dann kam Jeanne. Aber was war denn das? Wer war diese Frau, und warum musste sie Jeanne stützen?

Er lief durch das Kabinett und riss die Tür auf. Schon hörte man Schritte auf der Treppe. Da kam zuerst der Kutscher, der mit der Laterne den Weg wies, und dann erkannte er zwei Frauen: die eine war Jeanne, aschfahl und völlig aufgelöst, sich mit beiden Händen den Leib haltend, und die andere, die sie stützend umfasst hielt und vor Anstrengung keuchte, war Madame de Delay.

«Großer Gott!» rief Monseigneur, ihnen entgegeneilend.

«Hat sie einen Unfall gehabt? Eine Übelkeit? Mein kleines Mädchen», sagte er, sie auf die Arme nehmend, um sie selbst ins Kabinett zu tragen und in einen Sessel zu setzen. «Mein kleines Mädchen, wie blass Ihr seid! Was ist geschehen, Madame?» fragte er, sich der gestrengen Witwe zuwendend.

«Meiner Meinung nach sollte sie besser liegen, Monseigneur», entgegnete diese. «Es dürfte hier doch wohl ein Bett geben? In der Tat, eine Übelkeit hat sie befallen.»

«Oje, oje!» jammerte das kleine Mädchen. «O weh! O weh! Ich will zu meiner Mama!»

«Wir werden sie holen lassen», sagte der Herzog. «Aber bis dahin . . .kommt Ihr erst einmal mit mir.»

Er nahm sie erneut auf die Arme, stieß mit dem Fuß die Tür zum Schlafzimmer auf und legte das leidende Kind behutsam aufs Bett nieder. Dann wandte er sich, Haltung annehmend, an Madame de Delay: «Es ist zwar mein Bett, Madame, aber da Ihr hier seid, dürfte die Schicklichkeit gewahrt sein.»

«Ich weiß, Herzog, die lautersten Absichten», ließ sich die Dame vernehmen, doch wirkte ihre Miene jetzt noch verkniffener als bei ihrem Eintritt.

Sie war zwar im Kabinett stehengeblieben, hatte aber ihren Blick von der Tür aus mindestens sechsmal durch das Schlafzimmer streifen lassen. Gott sei Dank, es war aufgeräumt, das Bett zugedeckt und kein Champagner in Sicht.

«Würdet Ihr mir jetzt sagen, was geschehen ist», fragte der Herzog, die Tür zu Jeanne schließend.

«Monseigneur, sie hat sich übergeben, sich um sich selbst gedreht und das Bewusstsein verloren. Ich konnte sie nicht allein fortgehen lassen. Ihr mögt es mir verzeihen, dass ich sie zu Euch gebracht habe.»

«Ich bin Euch äußerst verbunden, Madame, und danke Euch im Namen ihrer Eltern ...»

«Sie sind also nicht mehr tot?»

«Gewiss doch, Madame. Ich meinte ihre Großmutter. Sie nennt ihre Großmutter Mama.»

«Ihr werdet ihr sagen müssen, dass der kleine Engel in anderen Umständen ist, Monseigneur.»

«Ihr meint? ...»

«Ja, Monseigneur, das meine ich, genau das.»

«O Gott!» entfuhr es ihm. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen und errötete, da ihm nur allzu bewusst war, mit welcher Miene sein Gegenüber ihn betrachtete.

«Ich wage nicht zu bezweifeln, dass Ihr es nicht wusstet», sagte die finster dreinschauende Person. «Sie wusste es ja nicht einmal selbst!»

«Was Ihr nicht sagt», sagte der Herzog, der nichts mehr zu sagen wusste.

«Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und ich es ihr schonend beibrachte, sagte sie, es sei niemals ausgeblieben . . .Ihr versteht.»

«Das stimmt ja auch!» rief der Herzog dazwischen, und diese unglaublich tölpelhafte Bemerkung muss man wohl seinem außergewöhnlichen Erregungszustand zugutehalten.

«Ich meine . . .» verbesserte er sich hastig, «ich verstehe Euch sehr wohl. Aber wie, zum Teufel, kann dieser kleine Engel dann schwanger sein?»

«Das kommt vor, Monseigneur. Selten, aber es kommt vor. Die natürlichen Lebenssäfte fließen weiter, als sei nichts gewesen, aber — und da zeigt sich die Tücke der Natur — der Engel wird trotzdem dick. Gesagt hat es uns ein Arzt, einer meiner Gäste, der sie untersucht und jene unwiderrufliche Schlussfolgerung gezogen hat, die Euch mitzuteilen ich die Ehre hatte.»

«Ein guter Arzt?»

«Der beste von Paris.»

Sie nannte ihm den Namen. Es war in der Tat ein sehr guter Arzt, hatte er doch vor etwa vier Jahren Monseigneur von einem niedlichen Venustritt geheilt.

«Meine Verehrung, Monseigneur», sagte Madame de Delay, zur Tür schreitend. Man könnte meinen, der Schritt eines Gendarmen, bemerkte der Herzog für sich.

«Meine Verehrung, Madame», erwiderte er, indem er ihr gleichsam nachsprang, um sie nach draußen zu begleiten. Der Kutscher mit der Laterne stand immer noch wartend im Treppenhaus.

«Er wird Frau Baronin nach Hause fahren», sagte der Herzog.

«Baronin?» warf Madame de Delay ein, während ihr flammender Blick ihn zu zerschmettern suchte. «Ich bin nicht Baronin!»

«Das dürfte Euch jedoch bald widerfahren», entgegnete Monseigneur mit charmantem Lächeln. Und er fuhr fort, jetzt nur mehr demütig Vergebung heischend: «Verzeiht mir, Madame, Eurer Herde ein nicht mehr ganz weißes Lämmchen zugeführt zu haben.»

«O je, Monseigneur», erwiderte die Dame, die in ihrer Verwirrung jeden Unsinn geredet hätte und es auch tat. «O je, Monseigneur, die Jungfrau Maria war deswegen auch nicht weniger jungfräulich.»

Baronin! Madame de Delay wusste nicht mehr, ob sie diesem Liederjan nun für immer ihre Achtung entziehen oder Monseigneur vielmehr ewige Hochachtung entgegenbringen sollte.

«Ihr hättet diesem Inquisitor zumindest nicht meine Adresse anzugeben brauchen!» sagte der Herzog zu Jeanne, die inzwischen wieder zu Kräften gekommen war und, ein Glas Champagner in der Hand, aufrecht im Bett saß. «Wie stehe ich denn jetzt da?»

«Hätte ich vielleicht meine angeben sollen?» entgegnete sie.

«Damit sie daheim bei Mademoiselle L'Ange die ganze Familie Ranqon antrifft und all die Toten, die Ihr mir zugesprochen habt, lebendig vor Augen hat?»

Ich fürchte, dachte der Herzog bei sich, ich muss wahrhaftig den König bitten, sie zur Baronin zu machen, wenn ich meinen Ruf wahren will.

Es trat ein längeres Schweigen ein. Jeanne leerte nachdenklich ihr Glas, und auch der Herzog schien gedankenvoll. Sie sahen einander an.

«Drei Monate schon», sagte Jeanne. Und ihr Aussehen entsprach durchaus ihrem augenblicklichen Gemütszustand; Sie war ruhig, etwas verträumt, friedfertig und lauschte er staunt in sich hinein, jenem anderen Leben entgegen, das in ihr wuchs. Auch Monseigneur fühlte sich wohl. Er lächelte stolz und zärtlich.

«Noch einer, der tätowiert werden muss!» sagte er.

In den folgenden Monaten befiel Jeanne jedoch zunehmende Unruhe. Wenn auch ihr Unwohlsein, kurz nachdem sie als schwanger erklärt worden war, ausgesetzt hatte, so schien doch ihr Körper keinerlei Veränderungen zu zeigen. Noch im November, dem fünften Monat ihrer Schwangerschaft, wirkte sie — woran die Krinolinenröcke nicht ganz unschuldig waren — ebenso schlank wie eh und je. Und obwohl der Herzog sich erinnerte, dass man es einer seiner Cousinen bis zum sechsten Monat auch nicht angesehen hatte, fragte er von Zeit zu Zeit scherzhaft, ob er wohl je etwas zu tätowieren haben würde.

Jeanne selbst fürchtete, einen Winzling zur Welt zu bringen.

Und so begleitete ihre Mutter sie schließlich eines Morgens zu einer bekannten Hebamme, die im Bastille-Viertel wohnte.

Diese Schwatzbase, eine gewisse Madame Vannier, untersuchte Jeanne, bestätigte die Schwangerschaft und sagte, man brauche sich nicht zu beunruhigen. Sie habe schon ganz andere Fälle gesehen.

«Bist du nun zufrieden?» fragte Anne ihre Tochter, während sie in der kleinen grauen Kutsche nach Hause fuhren. «Weißt du, als ich dich erwartete, war es ähnlich. Und ich glaube mich zu erinnern, dass es meiner Mutter ebenso ergangen war. Familientradition!» sagte sie lachend. «Aber du, meine Tochter, übertriffst wirklich alle; unsichtbare Schwangerschaft und Unwohlsein bis zum dritten Monat.»

«Ich habe immer Angst, es zu verlieren», sagte Jeanne, die wie im Traum Paris vor den Kutschenfenstern vorbeiziehen sah.

«Na, na, na», sagte ihre Mutter, ihr die Hand tätschelnd.

Und dann, plötzlich beunruhigt: «Warum solltest du es denn verlieren? Du machst doch wohl keine ... ich meine . . . keine Dummheiten mehr? Will sagen. . .. schon gut. Es wäre besser, du verzichtetest auf. . . hmm! ...ein paar Monate, so schlimm ist das doch auch nicht! Und trink keinen Champagner mehr. Die sprudelnden Bläschen sollen dem Kind nicht guttun, habe ich immer gehört.»

Ein Schweigen trat ein, währenddessen Anne Ranqon die Sorge aus ihrem Kopf zu verscheuchen suchte, die der Gedanke an eine eventuelle Fehlgeburt hatte hochsteigen lassen. Ein Kind zu verlieren, war in jedem Fall eine unangenehme Sache. Aber erst einen kleinen Orleans-Bastard!

Seit sie wusste, dass Jeanne schwanger war — und das hatte sie am gleichen Tag erfahren wie Jeanne und der Herzog, und zwar aus dessen eigenem Munde, da er persönlich um Mitternacht Jeanne zurückgebracht hatte, um der gesamten Familie den feierlichen Eid abzunehmen, das Geheimnis dieser Geburt zu wahren, was die Familie auch geschworen hatte —, seit sie also wusste, dass Jeanne schwanger war, verstieg Anne Ranqon sich in die wahnwitzigsten Träumereien, und der Gedanke, sie könnten sich durch eine verbrecherische Laune der Natur in Luft auflösen, war ihr unerträglich. Sie sah im Geiste Jeanne schon vor sich, geschmückt mit einem Adelstitel, einem Schloss, zahllosen Domestiken, Gast bei den glanzvollsten Festlichkeiten, vielleicht gar Besitzerin eines Gemachs in Versailles und Bälle eröffnend mit Ludwig XV. persönlich. Ihrer Ansicht nach konnte der Herzog nicht weniger aufbieten, um einem so schönen Kind, das ihm seine Unschuld dargeboten und sich jetzt anschickte, ihn zum Vater zu machen, was angesichts seines Alters doch weiß Gott schmeichelhaft war, seine Liebe und Dankbarkeit zu beweisen. Und sich selbst sah sie schon mit Schmuck behängt, den sogar der Herr Heereslieferant ihr nie würde bezahlen können. Und sie würde die Hofmeisterin auf dem Schloss ihrer Tochter spielen, die ja nicht in der Lage sein dürfte, ein solch großes Hauswesen zu organisieren. Vielleicht würde auch sie geadelt werden? Sie hatte sich sogar schon diskret bei einem Genealogen erkundigt — doch, welche Enttäuschung! Es hatte nicht den Anschein, als könne sie selbst jemals in den Genuss eines noch so kleinen Adelsprädikats gelangen.

«Mama», sagte Jeanne, wodurch sie ihre Mutter einer lebhaften Zwiesprache, die diese soeben mit dem König von Frankreich führte, entriss.

«Ja, mein Püppchen?»

«Ob Louis mich noch lieben würde, wenn ich es verlöre?»

«Ha! Jetzt reicht's aber! Willst du wohl endlich von etwas anderem sprechen? Du wirst den Teufel noch beschwören, wenn du so weiter machst!»

Sie bekreuzigte sich hastig, und als sie zu Hause waren, ging sie gleich in ihr Zimmer, um in Ruhe niederzuknien und an die heilige Eleuthera ein glühendes Gebet zu richten, da ihre Nachbarin, Madame Capelin, die Gattin eines Notars, ihr versichert hatte, diese Heilige vollbringe Wunder, wenn es darum gehe, Schwangerschaften zu einem guten Ende zu führen.

Doch als sie hörte, dass Jeanne sich anschickte, zum Münzkabinett zu fahren, hastete sie, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter: «Erkälte dich nur nicht, das ist die Hauptsache!»

«Eingemummt, wie ich bin?» spöttelte Jeanne, sich in einen prachtvollen Zobel kuschelnd, den Louis ihr jüngst geschenkt hatte.

«Ich vermute, du bist nicht immer so eingemummt... Ist es wenigstens richtig warm dort?»

«Sehr.»

«Nimm das hier», sagte Anne halblaut und reichte ihr ein Lederbeutelchen.

«Was ist das?»

«Rhinozeroshornpulver, aus Afrika. Etwas Besseres gibt es nicht, um sich Treue zu bewahren.»

«Louis war noch nie so verliebt wie jetzt!»

«Umso besser, aber Rhinozeroshorn hat noch nie jemandem geschadet, du wirst schon sehen. Und treib nicht so viel Firlefanz, du verstehst mich?»

«Bis heute Abend, Mama.»

Doch der Herzog befand sich nicht im Münzkabinett, als sie dort eintraf, und dabei war sie so glücklich gewesen, ihm von dem tröstlichen Besuch bei der Hebamme erzählen zu können.

Ein Mann in einem kurzen Überrock saß beim Fenster und betrachtete den frisch gefallenen Schnee. Sie kannte ihn nicht; als sie eintrat, war er aufgestanden. Warum man wohl beim Anblick gewisser Gesichter, unter dem Blick gewisser Augen zu Eis erstarrt?

In der gleichen Sekunde befiel Jeanne eine entsetzliche Vorahnung.

«Graf Fonfroide, Madame», sagte jener. «Meine Verehrung, Madame.»

Mit offensichtlichem Entsetzen blickte sie in seine weichlichen, fast geilen Züge, auf seinen dicken Körper, der auf dünnen Beinen saß, und stammelte schließlich:

«Der Herzog . . . Monsieur?»

«Nichts Schlimmes, Madame, das versichere ich. Hier ist ein Brief für Euch.»

Während er dies sagte, zog er mit einer knappen Geste ein großes weißes Schreiben hervor, mit dem Siegel des Herzogs.

Er schickt mich weg, dachte sie. Alles ist aus. Er hat es mir nicht zu sagen gewagt. Ihre Beine begannen zu zittern. Sie hatte den Brief entfaltet, aber die Worte tanzten ihr vor den Augen.

Schließlich gewann sie wieder Gewalt über sich, wandte sich von Graf Fonfroide ab und las zu ihrer großen Erleichterung folgendes:

«Mein Engel, Engelchen, mein Engelsgeschöpf, Dein Loulou ist krank. Aber zu beerdigen braucht Ihr mich noch nicht, geliebtes Kind! Diese Nacht befiel mich ein heftiges Unwohlsein, das diese Esel von Quacksalbern darauf zu rückführen, dass ich auf dem Ball von Madame de Sabran zu viel getanzt hätte. Ihr, meine Liebe, habt mich zu übermäßigem Tanzen angehalten, doch auf ganz andere Weise.

Man hat mir Ruhe verordnet, und daher ziehe ich mich auf meinen Landsitz Bagnolet zurück. Ich fühle selbst, dass ich es nötig habe. Es erscheint mir grausam, von Dir getrennt zu sein, aber noch unangenehmer wäre es, in Deinen Armen zu sterben, nur weil ich es nicht fertiggebracht habe, mein <Zepter> für ein paar Tage für regierungsunfähig zu erklären.

Aber komm ruhig, sooft du magst, in unsere Wohnung. Es reicht schon, wenn ich unglücklich bin. Unser Bett soll es nicht auch noch sein, weil Du nicht mehr kommst. Ich werde Dir weitere Nachrichten zukommen lassen. Gib auf Dich Acht, bewahre Dich uns. Wenn Dein Kind mich so liebt, wie ich es jetzt schon hebe, dann wäre ich, mit Deiner und seiner Liebe, der an Liebe reichste Mann auf Erden.»

«Soll ich eine Antwort überbringen, Madame?» fragte Fonfroide, nachdem sie zu Ende gelesen hatte. Ihre anfängliche Panik hatte sich in ein sanftes Glücksgefühl verwandelt, ihr Herz schlug heftig vor lauter Liebe zu Louis; sogar dieser Monsieur Fonfroide erschien ihr plötzlich weniger hässlich und viel sympathischer.

«Lasst mir nur eben Zeit, einen Brief zu schreiben», sagte sie fröhlich.

Doch als sie im Schlafzimmer war, und obwohl sie die Feder bereits in der Hand hielt, stutzte sie plötzlich. Wer weiß, wozu ein Brief von ihr an Louis ausgenutzt werden konnte? Sicherlich vertraute er diesem Fonfroide, da er ihn ja geschickt hatte — aber weiß man's denn je? Die Mächtigen sind doch immer von Spionen, von Doppelagenten, von Spitzeln umgeben . . .

Sie ging zurück ins Kabinett.

«Mein Herr, wollt Ihr bitte Monseigneur ausrichten, dass ich an seinem Gesundheitszustand Anteil nehme. Und sagt ihm, ich werde zu Gott für ihn beten.»

Und dann fügte sie noch ganz beiläufig hinzu, obwohl sie selbst nicht glaubte, ihre kleine List könne auch nur irgendjemand täuschen: «Sagt ihm ferner, dass ich in der Klassifizierung der Münzen fortfahre, wozu, wie Ihr wissen dürftet, Monseigneur mich angestellt hat.»

«Es war mir bekannt», entgegnete Fonfroide todernst.

«Monseigneur wird Eure Botschaft in zwei Stunden erhalten. Verbindlichen Dank, Madame.»

«Mein Herr, verbindlichen Dank auch Euch.»

Er ging, nachdem er sich ehrerbietig verneigt hatte. Sie blickte ihm nach und wäre beinahe in prustendes Gelächter ausgebrochen, als sie sah, dass dieses schwerfällige, steife Männchen mit dem Hinterteil schaukelte wie eine Ballettratte. Der Hufschlag seines Pferdes verhallte auf dem buckeligen Straßenpflaster, und dann war nur mehr Stille um sie.

Beklemmend, diese Stille, vor allem hier, wo sonst alles erfüllt war von ihrem pausenlosen Gelächter, ihren Seufzern, ihren Wonneschreien. Sie legte ihren Zobel ab und trat an den mächtigen Kamin, in dem die aufgehäuften Holzscheite flackerten. Auch im Schlafzimmer prasselte und funkelte ein Feuer.

Ein wenig ermattet legte sie sich aufs Bett, doch schon war die Unruhe wieder da; sie fragte sich, ob Louis nicht kränker sei, als er zugab. Der Kummer schien ihr das Herz abzuschnüren, und da wurde ihr klar, wie sehr sie an ihm hing. Sie warf sich auf die Knie und betete; «Gott, gib, dass ihm nichts zustößt. Ich schwöre auch, dass ich niemals seinen Reichtum und seine Macht ausnützen werde. Bewahre mir sein Leben und seine Liebe, und ich schwöre, dass ich niemals mehr jene ehrgeizigen Gedanken hegen werde, die mir manchmal gekommen sind; denn sie sind unwürdig, in Anbetracht meiner Liebe zu ihm.»

Acht Tage blieb sie ohne Nachricht. Kein Brief, kein Bote, weder zu Haus noch im Münzkabinett, wo sie jeden Tag, wenn auch nur kurz, vorbeischaute, hin- und zurückgebracht von der kleinen grauen Kutsche. Angst befiel sie. Sie wagte nicht, nach Bagnolet zu fahren, obwohl sie beim Dorfklatsch vielleicht etwas hätte erfahren können.

Auch ihre Mutter war betroffen; schon hatte sie auf eigene Faust in den verschiedensten Lesestuben sämtliche Gazetten Frankreichs, die für gewöhnlich jeden kleinen Vorfall bei Hofe verbreiteten, durchgeblättert, doch in keiner Nummer war vom Herzog die Rede gewesen. Und der Heereslieferant, der von Berufs wegen Kontakt zu den Ministerien pflegte und Erkundigungen hätte einziehen können, befand sich auf einer Reise in den Norden.

«Und wenn du Madame de Delay aufsuchen würdest?» meinte Anne eines Abends, als sie in trauter Zweisamkeit speisten.

«Das würde ich nie wagen ...»

«Sie hat doch Beziehungen zum Hof, und sie kennt Monseigneur.»

«Nein. Das ist unmöglich. Ich musste vor Scham vergehen.»

Doch als noch weitere vier Tage ohne eine Spur von einer Mitteilung verstrichen waren, raffte Jeanne all ihren Mut zusammen und ließ sich am Spätnachmittag bei Madame de Delay melden. Diese hatte nicht vergessen, dass ein Baronentitel über ihrem Haupte schwebte, ja, sie konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen, weshalb sie schrecklich nervös war und schon beim geringsten Anlass in Lachen oder Weinen ausbrach. Und so empfing sie diese kleine Natter, die sie einst an ihrem Busen gehegt hatte und von der ja offensichtlich, zumindest teilweise, ihr zukünftiger persönlicher Ruhm ab hing, mit aller nur möglichen Zuvorkommenheit, als sei jene noch immer die Unschuld vom Lande. Allerdings war ihr — nicht etwa aus Vergesslichkeit, sondern aus politischem Gespür — jenes Vorkommnis in ihrem Salon sowie die Diagnose ihres illustren Gastes schon fast entfallen. Sie wollte es einfach nicht mehr wissen. Sie drehte und wendete ihre Sätze so, dass man verstehen musste, dass sie alles, was sie wusste, nicht wusste und dass ihr Jeanne nur als jenes beklagenswerte Waisenkind, um dessen Wohl sich Monseigneur in wahrer christlicher Nächstenliebe sorgte, bekannt war.

Doch leider vermochte auch sie Jeanne keine guten Nachrichten von ihrem Wohltäter zu übermitteln. In Versailles hieß es, das wusste sie von ihrer Freundin Contades, Monseigneur sei schwer erkrankt. Erst gestern habe der König seine eigenen Ärzte nach Bagnolet geschickt.

«Aber was hat er, Madame?» jammerte Jeanne, ihr zierliches Taschentuch zerknüllend. «Ist es wirklich so schlimm?»

«Mehr weiß ich leider nicht, mein Kind.»

«Er wird doch nicht sterben?»

«Aber nein!» entgegnete die andere erschrocken. «So etwas sagt man doch nicht!» schalt sie unwillkürlich, plötzlich von Angst gepeinigt bei diesem Gedanken, der ihr noch gar nicht gekommen war. Würde der Herzog sterben . . . dann Adieu Baronin und Baronie! Diese ungeheuerliche Perspektive ließ sie unvermittelt auffahren und ausrufen:

«Ich fahre unverzüglich nach Versailles! Ihr habt recht, mein Kind, es ist unerträglich, nicht mehr zu wissen. Kommt morgen wieder.»

Und in einem Wirbel von Gesten, Schritten, Schreien zog sie ihre Mantille über, erteilte Befehle, hieß ihren Kutscher anspannen, und noch ehe Jeanne sich für solch rührende Anteilnahme bedanken konnte, war sie verschwunden.

Wie viele Stunden streifte Jeanne nun schon ziellos durch die seit zehn oder zwölf Tagen verschneiten und vereisten, düsteren und menschenleeren Straßen? Sie wusste es nicht. Sie stapfte vor sich hin, den Kragen ihres armseligen Tuchmantel hochgeschlagen, denn in der Öffentlichkeit hätte sie sich niemals in den prachtvollen Pelzen von Louis zu zeigen gewagt. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht vor Grauen und Verzweiflung zu schreien. «Louis», wimmerte sie unaufhörlich. «Louis, Louis, Louis.»

Es war zehn Uhr, als sie sich plötzlich vor der Abtei Sainte-Genevieve befand, wohin ihre betrübliche Wanderung sie geführt hatte. Ebenso gut hätte sie sich nach Hause flüchten können, wo sie sich im Schoß ihrer Mutter ausgeweint hätte.

Doch nun war sie einmal hier. Da sie schon nicht bei ihm sein konnte, sehnte sie sich danach, zumindest an jenem Ort zu verweilen, der noch seinen Duft, seine, wenn auch inzwischen verschwommene, Gegenwart barg, wo jeder Gegenstand Teil von ihm war, wo das Bett ihr Beweis zu sein schien, dass ein so lebhafter Mann doch nicht einfach sterben konnte. Vielleicht war es aber auch nur eine Laune des Schicksals, die Jeannes Anwesenheit an diesem Abend erklärt. Vielleicht wollte der Himmel ihr ein Bein stellen . . .

Sie war in den Hof getreten, noch unschlüssig, ob sie hinaufgehen sollte, als sie plötzlich, aus ihrer Melancholie auffahrend, Licht hinter den Fenstern gewahrte. Sie erkannte das Flackern der Kerzen, den roten Feuerschein des Kamins.

Ihre Holzpantinen hallten auf der Steintreppe wider, sie stieß die Tür auf und rief: «Louis, bist du da?»

Aber nein. Wieder dieses Schweigen, diese verhasste Stille, die sich seit zwei Wochen hier eingenistet hatte. Leer das Kabinett. Leer auch das Schlafzimmer. Nur aus den Vitrinen blickten ihr, ironisch funkelnd, die Münzen entgegen. Und das in den Kaminen knisternde Feuer — es wirkte fremd, geisterhaft, da es ja niemanden wärmte. Und was war denn das? Ein Spuk? Auf dem Marmortisch standen Obst, Rebhühner, Suppe, in einer Silberterrine und noch dampfend, als sei sie soeben erst aufgetragen worden. Aber wer mochte sie hierhergestellt haben? Sollte Louis ihr jenen geheimnisvollen Diener, den sie nie gesehen, überlassen haben? Vermutlich war es so. Dennoch befiel sie Angst. Inmitten der Schüsseln stand auch eine Karaffe mit Burgunder. Sie trank ein Gläschen, zur Beruhigung. Sie fühlte sich so erschöpft und so schmutzig, von oben bis unten mit Schneematsch besudelt. Am liebsten würde sie sich aufs Bett sinken lassen. Träge und gähnend entledigte sie sich ihrer Kleider. Der Wein hatte ihre Verzweiflung und Angst ein wenig zerstreut. Sie trank noch ein Gläschen. Das benebelte zwar den Geist, verlieh ihrem Körper jedoch neue Kraft, und so ging sie ins Badezimmer. Die Wanne war gefüllt. Das Wasser war noch lauwarm, aber das erstaunte sie jetzt schon nicht mehr; sie ließ sich hineingleiten wie in einen labenden Fluss.

Wie lange war sie so im Wasser gelegen? Vermutlich hatte sie geschlafen. Fröstelnd entstieg sie der Wanne, trocknete sich ab und ging erneut ins Schlafzimmer hinüber. Und da kam ihr plötzlich jener absonderliche Einfall; vielleicht war der Wein oder auch ihre nervliche Erschöpfung daran schuld, vielleicht war aber auch Aberglaube mit im Spiel, als ob Louis das, was sie nun tat, miterleben könnte, ungeachtet der räumlichen Entfernung; ihre Anwesenheit hier sollte fühlbar, sollte konkret für ihn werden. Sie zierte sich mit all dem Schmuck, den er ihr geschenkt hatte, mit Ohrgehängen, Halsketten, Ringen, Schnallen, Diademen — so hatte er sie immer am liebsten betrachtet, bis sein Begehren stärker wurde als seine Bewunderung. Sie schlug die seidenen Betttücher zurück, legte sich auf den Bauch und murmelte: «Louis, nimm mich.» Auch dadurch wollte sie den Tod austreiben. Sie biss in die Seide, krallte sich daran fest, wand sich hin und her, stöhnte, plötzlich Opfer einer heftigen, flammenden Erregung. Ein Glied drang in sie ein, und sie begann, mit einer Stimme, die ins Falsett umschlug, dem Himmel zu danken.

Fanfan von der Tulpe

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