Читать книгу Die seltsamen Morde des Ikonenmalers - José Luis de la Cuadra - Страница 11
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«Ich habe auf Sie gewartet».
Die Stimme gehört der Frau mit dem blonden Haarschopf. Alex erkennt die Russin sofort. Sie sitzt auf seiner Bank. Er weiß nicht, ob er erfreut sein oder panisch werden soll. Ungefähr zehn Schritte vor der Frau hält er an. Er sieht sie von hinten. Sie hat einen Arm über die Rückenlehne geschlagen. Ein völlig normaler Anblick. Alex findet es allerdings merkwürdig, dass das Plätschern des Wassers nicht zu hören ist. Auch die Vögel sind verstummt. Er reibt sich am Ohr. Totenstille. Leichenstille, könnte man sagen.
Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten. Nummer eins: davonrennen. Nummer zwei: mich der Wahrheitssuche opfern. Option Nummer zwei macht mir zwar Angst, aber sie ist die Favoritin. Wenn ich etwas für mein Gedächtnis tun will, MUSS ich mich auf die Bank setzen. Ganz nach dem Motto ‘retten, was noch zu retten ist’.
Es liegt nicht in seiner Natur, vor den Schrecken des Lebens zu fliehen. Also nähert sich Alex der Frau. Dabei hält er sie fest im Blick, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich sitzen bleibt. Sie bleibt. Je mehr er sich abmüht, die Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren, umso mehr erscheinen ihm ihre Konturen unscharf. Und noch etwas fällt dem Ikonenmaler auf: Die Frau bewegt sich nicht.
Wenn man eine Tote sieht, die nicht mehr tot ist, und die wie eine Lebendige aussieht, dann fragt man sich, ob die Beobachtung in der Wirklichkeit angesiedelt ist. Aber das Knirschen seiner Schritte auf dem steinigen Weg beruhigt Alex: Die vertrauten Geräusche sprechen für das reale Hier und Jetzt.
Der Ikonenmaler setzt sich. Er schaut die Frau nicht an, sondern blickt geradeaus Richtung Fluss.
«Ich dachte, Sie wären tot.»
«Aber nein, mein Lieber. Können Sie sich nicht erinnern? Wir treffen uns nicht zum ersten Mal. Wo ist die Ikone?»
«Was meinen Sie damit?»
«Sie haben richtig gehört: wo ist die Tasche mit der Ikone, die ich Ihnen gegeben habe?»
«Sie haben mir eine Ikone gegeben?»
«Stellen Sie sich nicht dumm.»
«Sind Sie die Frau, deren Ikone ich in meinem Atelier restauriere?»
«Ich weiß nicht, wohin Sie die Ikone gebracht haben und was Sie mit ihr anstellen wollen.»
«Nun, ich werde Sie restaurieren, mein Bestes geben.»
«Tragen Sie Sorge, sie ist sehr wertvoll. Es kann sein, dass die Ikone Sie in Gefahr bringt.»
«Sie meinen, man könnte mich ermorden? Aber Sie sind doch selbst ... Nun gut, sagen wir es so: Ich bin einfach erstaunt, Sie hier lebend anzutreffen.»
«Ich weiß, man ist hinter mir her. Jetzt könnte man hinter Ihnen her sein.»
«Weil ich ... Sie ermordet habe?»
«Mein Lieber, ich sitze hier neben Ihnen auf einer Bank. Bin ich tot?»
«Das frage ich mich die ganze Zeit.»
«Sie sprechen mit einer Leiche? Also wirklich, Alex, jetzt übertreiben Sie.»
«Woher kennen Sie meinen Namen?»
«Nun, es könnte sein, dass ich ein Teil von Ihnen bin.»
«Sie ... in mir? Dann ...»
«Ich verstehe Ihre Sorge. Dann müssten Sie sich selbst umgebracht haben, nicht wahr?»
Die Frau bricht in hässliches Gelächter aus.
«Ehrlich gesagt, habe ich schon daran gedacht, der Qual meines Lebens ein Ende zu setzen, mich zu töten. Aber bis jetzt hat es nur die Anderen getroffen. Sie zum Beispiel.»
«Lieber die Anderen umbringen. Ja, das ist einfacher. Sie sind ein Feigling, Alex. Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Inneren aussieht. Aber ich vermute, ziemlich armselig. Vielleicht verschlagen. Sie könnten tatsächlich ein Mörder sein! Ich werde mir nie verzeihen, Ihnen die Ikone anvertraut zu haben.»
Alex beginnt zu schwitzen. Seine Augäpfel tanzen Samba. Sie pendeln hin und her. Plötzlich krallen sie sich an der Frau fest und blicken ihr direkt ins Gesicht: Ja, es ist Tanja. Er erkennt sie. Wehrlen hat ihm das Bild der Leiche gezeigt.
Warum nistet sich eine Tote in meinem Leben ein? Woher kennt mich die Frau? Wie kann sie mich, ihren Mörder, kennen? Weil sie ein Teil von mir ist, wie sie sagt?
In diesem Moment bläst der Wind eine Sandwolke vom nahen Flussufer herbei. Alex reibt sich die Augen. Als er aufblickt, ist die Frau weg. Er sucht die Umgebung ab. Nichts.
Eines wird ihm klar: Sein Psychiater hat Recht. Die Frau ist eine Halluzination.
Sie ist tot, mausetot. Basta. Ein Teil von mir? So ein Unsinn! Ich müsste ja zur Hälfte gestorben sein. Bin ich das?
Nur ..., etwas ist seltsam: Wie soll die halluzinierte Tanja mir Dinge mitteilen, an die ich mich nicht erinnern kann? Am Tatort war keine Ikone. Entweder lügt die Halluzination, oder der Schläger hat die Tasche an sich genommen. Oder ... ich habe die Tüte mit der Ikone vor dem Mord in Sicherheit gebracht. In meinem Atelier?
Alex fragt sich, ob es Tanja war, die ihn kürzlich angerufen hat. Die Erinnerung an das Telefonat treibt ihm noch jetzt den Schweiß aus den Poren. Der Schlag auf den Kopf hat zwar den Inhalt des Gesprächs in seinem Gehirn ausgelöscht. Trotzdem ist Alex überzeugt, dass es Tanjas Ikone ist, die auf der Staffelei steht. Er MUSS an ihr weiterarbeiten. Ganz gegen den Rat seines Psychotherapeuten. Das Restaurieren von Ikonen ist für ihn Medizin. Vielleicht die wirksamere als Eugens Geplänkel. Zudem ist er überzeugt, dass die Ikone übermalt ist.
Er hat ein Lösemittel entwickelt, das es erlaubt, die oberflächliche Farbe zu lösen, ohne die unteren Schichten zu beschädigen. Die Freilegung des Originals könnte die Sachlage klären und ihn aus der Zwickmühle befreien.
Ein Vogel pfeift. Er sitzt hoch oben auf dem Wipfel einer riesigen Fichte und scheint den Ausblick über den Flusslauf, den Wald und die Uferwege zu geniessen. Er wäre ein idealer Zeuge des Mordes gewesen. Von seiner Perspektive aus hätte er den Tatort gesehen. Er hätte gesehen, wer Tanja erstochen und wer den Schädel des Ikonenmalers mit einem Knüppel bearbeitet hat.
«Guten Tag. Ich bin Igor.»
Keine drei Schritte hat sich Alex von der Bank entfernt, als ihn ein älterer Herr anspricht. Er hat graumelierte Haare und trägt einen schwarzen Anzug. Eine Fliege schmückt den weißen Kragen. Seine Schuhe sind auf Hochglanz poliert. An den Seiten der Sohle klebt Dreck und Staub. Keine ideale Ausstattung für einen Spaziergang am Flussufer, denkt Alex.
«Ich weiß, Sie kennen mich nicht. Wie so oft führt der Zufall zu einer unerwarteten Bekanntschaft. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber sind Sie nicht der stadtbekannte Ikonenmaler? Ich habe kürzlich eine Reportage über Ihr Atelier gelesen. Sie restaurieren Heiligenbilder. Beeindruckend. Ich bin ein begeisterter Ikonensammler. Manchmal handle ich, kaufe mal hier, mal dort ein besonders schönes Werk. Nicht gewerbsmässig. Es ist ein Hobby. Ab und zu verdiene ich etwas damit.»
Derselbe Akzent. Ein Russe. Haben wir eine Invasion?
«Freut mich. Leider bin ich in Eile. Bitte entschuldigen Sie mich.»
Alex versucht, auf dem schmalen Uferweg an Igor vorbeizukommen. Dieser hält ihn aber am Arm zurück.
«Wie gesagt, ich möchte mich nicht aufdrängen, aber erlauben Sie mir eine Frage: Geht es Ihnen gut? Ich habe Sie auf der Bank sitzen gesehen. Dabei ist mir aufgefallen, dass Sie mit jemandem gesprochen haben. Aber da war niemand. Haben Sie Sorgen, Probleme? Brauchen Sie Hilfe?»
«Ich glaube, das geht Sie nichts an. Wenn es Sie beruhigt, ja, ich führe manchmal Selbstgespräche.»
«Ich hätte Sie nicht angesprochen, wenn ich Sie nicht erkannt hätte. Glauben Sie mir. Natürlich ergreife ich gerne die Gelegenheit, Sie zu fragen, welche Art von Ikonen Sie restaurieren. Darstellungen der Gottesmutter? Christusbilder? Den Heiligen Sankt Nikolaus?
Ich könnte Ihr zukünftiger Kunde sein. Sie wissen ja, die alten Sakralwerke sind wieder hoch im Kurs. Viele sind über die ganze Welt zerstreut, seit sie während der Sowjetzeit außer Landes geschafft wurden. Die Bolschewiki gingen nicht gerade zimperlich mit ihnen um. Zum Glück gab es viele Gläubige, die sie aus den Kirchen gerettet haben, bevor diese in Trümmer geschlagen wurden.
Stellen Sie sich vor, sogar der Präsident Russlands, Herr Putin, bemüht sich um die Kunstwerke. Er hat mit dem Patriarchen der orthodoxen Kirche Frieden geschlossen. Die beiden Männer haben gemeinsame Interessen: Macht und Geld. Putin sagt zwar, er wolle die wertvollsten Ikonen dem russischen Volk zurückgeben. In Tat und Wahrheit geht es ihm und dem Patriarchen Kyrill aber um den Wert der Heiligenbilder. Erst kürzlich hat der Vatikan die wohl berühmteste Ikone der Orthodoxie an Russland zurückgegeben. Sie wissen ...»
Alex verdreht die Augen.
«Entschuldigen Sie, ich langweile Sie. Als Fachmann ist Ihnen natürlich bekannt, was ich Ihnen erzähle.»
Richtig geraten. Warum hörst du nicht auf zu plappern? Das ganze Geschwafel dient doch nur dazu, mich aufzuhalten. Was willst du von mir? Weshalb interessierst du dich für meine Arbeit?
«Wirklich interessant, Ihre Ausführungen. Jetzt wollen Sie mich bitte durchlassen. Ich habe noch zu tun.»
«Gewiss, gewiss. Kostbare Werke brauchen Zeit. Kostbare Zeit. Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Vielleicht treffen wir uns mal wieder. Wirklich eine schöne Gegend hier. Deswidanje.»
Eiligen Schrittes entfernt sich Alex von dem eigenartigen Herrn. Vielleicht ist es doch keine gute Idee gewesen, an den Fluss zurückzukehren. Irgendwie entwickelt sich seine Bank zur Drehscheibe eines Dramas, das der Ikonenmaler noch nicht einordnen kann. Aber die Scheibe dreht in die falsche Richtung. Sein Erkenntnisstand hat sich nicht gebessert. Im Gegenteil, die Sache wird immer komplizierter.
Da ist zum einen Tanja, die er womöglich ermordet hat, die er lebend antrifft und die behauptet, ihm eine Ikone übergeben zu haben. Da ist zum anderen der Angriff auf seinen Schädel, der wohl zum Zweck hatte, seinen Körper mit dem Tatort in Verbindung zu bringen. Und da ist schließlich die Tatsache, dass er zufolge der Verletzung unter Amnesie leidet und seine Wahrnehmung auf Schleuderkurs ist. Und jetzt Igor, der in unpassendem Schuhwerk und Outfit aufkreuzt, ihn mit Allgemeinplätzen bedient und sich für seine Ikonen interessiert.
Alex nimmt den Waldweg, der ihn auf die Anhöhe der Stadt führt. Oben angekommen, blickt er zurück. Die Aussicht ist betörend. In der Ferne säumen schneebedeckte Berge den Horizont. Vor ihm liegt der Flusslauf, der sich durch die hügelige Landschaft schlängelt. Die Sonne hat den Zenit überschritten und bringt die Wellen des Wassers zum Spiegeln.
Zwischen den Bäumen sieht Alex die Bank. Jetzt sitzt Igor auf ihr. Er hat ein Taschentuch aus dem Hosensack geholt und putzt damit die Schuhe. Dann nimmt er sein Handy aus der Innentasche des Anzugs und telefoniert.
Ich würde zu gerne erfahren, mit wem er redet. Etwas stimmt nicht mit ihm. Sein Outfit passt weder zu seiner klebrigen Art noch zum schlammigen Flussufer. Zudem lügt er. Ich kaufe ihm nicht ab, dass er ein hobbymässiger Ikonensammler ist. Auch dass unsere Begegnung zufällig war, ist Blödsinn. Er ist hinter etwas her, zweifellos. Hinter mir oder der Ikone. Seine Augen, sein stechender Blick, seine Aufdringlichkeit ... Ein Fanatiker? Ein Krimineller?
Alex begibt sich auf den Weg zu seinem Atelier. Es befindet sich unweit der russischen Botschaft in einem ruhigen Wohnquartier.
Als er vor fünfzehn Jahren mit seiner Frau in den vierten Stock des Mehrfamilienhauses einzog, konnte er im Untergeschoss des Gebäudes einen Lagerraum dazu mieten. Dort richtete er sein Atelier ein. Dort sind seine Ikonen.
Wie sollte er damals wissen, dass die Ehe mit Natalie in die Katastrophe führen würde? Ihre jugendliche Schönheit hielt ihn gefangen. Mit ihr zusammenzuleben, erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung. Er liebte sie masslos.
Sie half ihm, das Atelier einzurichten und bewunderte seine künstlerische Begabung.
Zu Beginn arbeitete er im Auftrag. Man brachte ihm Ikonen, die er liebevoll restaurierte. Zudem verfügte er über Wissen und Geschicklichkeit, übermalte Bilder zu behandeln. Er machte sich einen Namen. Während der Finanzkrise bekam er weniger Aufträge. Als das Geld knapp wurde, entschloss er sich, die eigene Ikonenmalerei wieder aufzunehmen.
Natalie mischte ihm die Farbmischungen und Lösemittel. Sie besorgte den Einkauf der Materialien und überwachte die Zahlungseingänge. Seine eigenen Werke wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Etliche konnte er verkaufen.
Trotz unerfülltem Kinderwunsch waren es unbeschwerte Jahre. Die Liebe schien fest verankert und auf die Ewigkeit angelegt. Das Glück hielt an, bis eines Tages dunkle Wolken aufzogen und der geistige Zustand des Ikonenmalers Risse bekam. Er spürte erste Anzeichen melancholischer Abstürze. Immer häufiger begab er sich in sein Atelier. Manchmal blieb er über Nacht. Er fühlte sich in eigenartiger Weise vom Motiv der Gottesmutter angezogen und verfiel dem Mystizismus der russisch-orthodoxen Geisteswelt. Es fehlte nicht viel und er hätte sich, wie die Starzen im alten Russland, in die Einsiedelei eines Höhlenlochs verkrochen.
Natürlich blieb das nicht ohne Folgen. Der anfängliche Glanz des Ehelebens blätterte ab und in der Beziehung nisteten sich Störgeräusche ein. Alex begann, Natalie mit der heiligen Gottesmutter zu vergleichen. Es war ein Prozess, der nur in den Abgrund führen konnte. Er mündete in Vorwürfe und Demütigungen.
Natalie reagierte auf ihre eigene Art. Sie schwieg, anstatt ihn zum Teufel zu jagen. Ihre Liebe war ungebrochen und sie vergab ihm seine Launen.
Der Ikonenmaler begann, das Bild, das er von Natalie in sich trug, zu hinterfragen. Die Übermalung, einstige Faszination, hatte sich gelöst und das darunter liegende Original erschien ihm fremd und unwirklich.
Der Prozess der Ernüchterung war so schmerzhaft, dass Alex immer häufiger bei seinen Ikonen Zuflucht suchte.
Er sah die Katastrophe kommen, konnte die unselige Entwicklung aber nicht aufhalten. Es war zu spät.
Und dann kam die Tragödie.
Sie war unvermeidlich. Ich musste es tun. Wie hätte Natalie gegen die Gottesmutter bestehen können?
Schon von Weitem sieht Alex den Zügelwagen vor dem Haus stehen. Zuerst versteht er nicht, was hier vor sich geht. Die absurde Idee, die Polizei hole bereits seine Habseligkeiten für einen Gefängnisaufenthalt, verwirft er nach kurzem Stirnrunzeln. Dank eines winzigen Fensters in seinem Gedächtnisdurcheinander erinnert er sich, dass der Verwalter den Einzug einer Dame angekündigt hat.
Die vorherige Mieterin, eine dreiundachtzig jährige Alte, war eines Tages tot im Bett liegend aufgefunden worden. Sie hatte sich mit einer Schachtel Schlafmittel das Leben genommen. Zuerst hiess es, möglicherweise habe ihr Neffe sie gezwungen, die Tabletten einzunehmen, da sie an den Armen und Beinen blaue Flecken aufwies. Den Neffen erwartete ein Erbe. Schliesslich war der Staatsanwalt aber zur Auffassung gelangt, dass die Alte mehrmals gestürzt war und es sich um einen freiwilligen Suizid gehandelt hatte.
Es dauerte mehrere Monate, bis die Nachbarswohnung des Ikonenmalers geräumt war, denn es gab, wie sich herausstellte, noch weitere Erben. Sie lagen sich alle in den Haaren.
Alex freut sich, dass wieder jemand einzieht. Die stets verschlossene Nachbarstüre wirkte unheimlich auf ihn. Manchmal fragte er sich, ob man vergessen hatte, die Leiche abzuholen.
Im Treppenhaus steht er plötzlich vor der neuen Mieterin. Sie hält sich rücklings am Geländer fest, um die Zügelmänner vorbeizulassen. Als sie Alex erblickt, lächelt sie. Sie hat ein freundliches Gesicht. Kein alltägliches, wie man es an jeder Strassenecke sieht. Es hat etwas Geheimnisvolles an sich, etwas Tiefgründiges. Als läge hinter dem Gesicht das Bilderbuch einer verletzten Seele. Und da ist noch etwas: Es weist eine leichte Asymmetrie der Augenachse auf, was den Ikonenmaler zuerst irritiert. Aber dann fasziniert ihn die kleine Anomalie. Er sieht in ihr das Tor zu einer inneren Schönheit.
«Ich bin Ihre neue Nachbarin, falls Sie der Herr sind, der jetzt gleich die Wohnungstür mir gegenüber öffnen wird. Sehr erfreut, Claudia Rossi.»
Die Frau reicht ihm die Hand.
«Alex Popow. Ja, ich werde diese Türe gleich öffnen. Wir sind Nachbarn. Es freut mich, dass wieder etwas Leben in dieses Stockwerk einkehrt. Und falls ich irgendwie behilflich sein kann ...»
«Vielen Dank, es geht schon. Sie sehen nicht danach aus, als wären Sie in der Verfassung, mir zu helfen. Sind Sie dem Teufel begegnet?»
Die Frau gefällt mir. Es war nicht gerade der Teufel, aber ...
«Ja, so könnte man das sehen. Ein kleines Malheur. Nichts Besonderes.»
Lügner!
«Ein Unfall. Morgen geht es mir besser. Ich hoffe, ich mache keinen allzu schlechten Eindruck auf Sie.»
«Machen Sie sich nichts daraus. Ich werde morgen bei Ihnen anklopfen, wenn Sie ausgeruht sind. Mit einem Gläschen Wein. So können wir uns kennlernen.»
«Es könnte schwierig sein. Ich muss arbeiten. Morgen bin ich in meinem Atelier im Untergeschoss.»
«Toll, dann besuche ich Sie dort. Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist.»
«Ich ..., nun ...»
Die Augenachse ...
«Nein, ich habe nichts dagegen. Würde mich freuen.»
«Also dann ...»
Alex öffnet die Türe zu seiner Wohnung und blickt kurz zurück. Claudia lächelt, was ihre Augenachse in Schwingung versetzt. Sie erinnert ihn an jemanden, ohne dass er weiss an wen.