Читать книгу Die seltsamen Morde des Ikonenmalers - José Luis de la Cuadra - Страница 9

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Alex erwacht auf der Intensivstation des nahen Privatspitals. Als er versucht, die Augen zu öffnen, sieht er durch das Gitternetz seiner Wimpern verschwommene Köpfe. Ein helles Licht blendet ihn. Lippen bewegen sich. Alex kann nichts verstehen. Er möchte schreien, bringt aber keinen Laut heraus. Es ist, als steckte eine fette Kröte in seinem Hals. Seine Glieder fühlen sich teigig und geschwollen an. Er versucht, die Finger zu bewegen, was ihm nicht gelingt. Die rechte Grosszehe lässt sich nach oben ziehen, dann auch die linke. Er kann die Knie um wenige Zentimeter anheben. Dabei bemerkt er, dass eine Decke auf ihnen lastet. Er scheint in einem Bett zu liegen. Aber wo ist sein Kopf? Er kann ihn nicht spüren. Jemand muss ihn abgeschlagen haben. An seiner Stelle liegt ein Klumpen Schmerz. Und dann ist da dieses schwarze Loch, in das er hineingefallen ist.

Kann man in ein Nichts fallen? In ein schwarzes Nichts?

In seinem Kopf ist Leere.

War da eine Frau? Auf der Bank? Auf meiner Bank?

«Herr Popow, hören Sie mich?»

Ich bin hier.

«Öffnen Sie die Augen.»

Sie sind offen. Ich sehe trotzdem nichts. Nur Wimperngitter.

«Versuchen Sie, die Finger zu bewegen.»

Geht nicht.

«Sie haben die Beine bewegt.»

Ich weiss.

Jemand macht sich an seinen Augen zu schaffen. Sein oberes Lid wird brutal nach oben gezogen, eine Lichtquelle hin- und hergeschwenkt. Alex versucht erneut zu schreien. Diesmal kann er ein leises Krächzen hervorbringen. Die Gesichter über ihm werden schärfer. Die Menschen, die um ihn herumstehen, sind von seinen Lauten begeistert.

«Er lächelt! Er Spricht! Hören Sie, wir sind auf der Intensivstation. Sie wurden niedergeschlagen.»

Aha, deshalb das Loch. Ist es in meinem Schädel? In meinem Hirn? Kann ich mich deswegen an nichts erinnern? Ist das Loch das Nichts, in das ich hineingefallen bin?

«Ich ... ich ... bin im Nichts.»

«Nein, Sie haben ein Loch im Schädel. Sie werden sich erholen.»

«Aber ... ich weiß ... nichts mehr. Keine Ahnung, was geschehen ist. Ich sehe eine Frau, dann ist Filmriss.»

«Sie müssen Geduld haben. Sobald es Ihnen besser geht, wird Sie die Polizei vernehmen.»

«Die Polizei? War ich in eine Schlägerei verwickelt?»

«Es wurde jemand ermordet.»

«Wer ...? Ich ...? Habe ich ...?»

Alex beginnt am ganzen Leib zu zittern.

«Bitte regen Sie sich nicht auf. Sie sollen sich jetzt ausruhen. Schlafen Sie ein wenig.»

Zuerst wach werden, dann schlafen. Ein Loch, ein Nichts. Und ein Mord. Was habe ich getan?

Eine Krankenschwester macht sich am Infusionsschlauch zu schaffen. Alex erkennt ihre Gesichtszüge. Große Augen, geschwungene Lippen, ein leises Lächeln hinter Haarsträhnen.

«Schwester ...?»

«Der Arzt sagt, Sie sollen schlafen.»

«Solange ich nicht weiß, ob ich ein Mörder bin, kann ich nicht schlafen. Sagen Sie mir: Bin ich ein Mörder?»

«Sie sehen nicht danach aus. Obwohl ..., es heißt, Mörder sähen aus wie Sie und ich, also wie ganz normale Menschen.»

Normale Menschen? Wie ich? Ich soll normal sein? Oder ein Mörder?

Alex schluckt trocken.

«Schwester, wie groß ist mein Loch?»

«Es liegt eine Gaze darüber, ich habe es nicht gesehen.»

«Aber wenn ich ein Loch im Kopf habe, weshalb sollte ich ein Mörder sein?»

Die Schwester streicht ihm über die Wange.

«Schlafen Sie jetzt. Es ist schon Mitternacht.»

«Würden Sie mir einen Gefallen tun?»

«Kommt drauf an.»

«Bitte rufen Sie morgen meinen Psychiater an. Mit meinem Kopf stimmt etwas nicht. Er heißt Professor Wiesel, Eugen Wiesel. Er ist mein Therapeut.»

«Ich werde das gerne dem Frühdienst weiterleiten, wenn Sie brav sind und jetzt schlafen. Soll ich Ihnen noch eine Schmerzspritze geben?»

«Ich weiß nicht, ob das hilft. Mein Körper ist eine einzige Masse Schmerz. Aber ich glaube, der Schmerz sitzt im Gehirn. Ich fühle mich schuldig. Nicht noch ein weiterer Mord! Ich habe schon meine Frau umgebracht, mit einem Messer. Das glaube ich wenigstens. Vielleicht hat auch sie es getan. Ich ...»

Alex hört, wie sich die Zimmertüre hinter der Schwester schließt. Das Licht ist ausgegangen.

Die Dunkelheit umgibt ihn wie ein bleierner Mantel und zieht ihn immer tiefer hinunter. Er wähnt sich in seinem Atelier. Die heiligen Gestalten seiner Ikonen treten aus den Holzplatten und bilden einen Kreis um ihn herum. Sie schützen ihn vor dem Ungemach, welches sein Leben zu zerstören droht. Er sieht die Leiche seiner Frau, die Blutlache, das Messer. Dann streift er durch den Wald am Flussufer und steht vor einer Toten. Wer ist sie? Die Russin? Seine Frau? Wessen Blut klebt am Messer?

Plötzlich liegt er in den Kissen der Behandlungsbank seines Therapeuten. Professor Wiesel raucht eine Havanna und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. Der Rauch zieht zur Decke und formt sich zu einem Wort: WARUM?

Am Morgen weckt Alex der Duft eines Parfums. Es ist die Krankenschwester mit den großen Augen und den geschwungenen Lippen. Sie hat sich zurechtgemacht und misst ihm Temperatur, Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Sie riecht gut.

«Sie sind fit, Herr Popow, guten Tag.»

«Wurde der Professor avisiert?»

«Sie könnten mir einen guten Tag wünschen, so wie ich es getan habe, und ... nein, der Arzt hat es verboten. Zuerst die Polizei, dann der Psychiater.»

«Diese Reihenfolge gefällt mir nicht. Zuerst muss mein Gehirn behandelt werden. Ich weiß nichts.»

«Sie müssen das mit dem Arzt besprechen. Er kommt gleich. Möchten Sie frühstücken?»

«Mir steckt immer noch eine Kröte im Hals. Vielleicht können wir mit einer Tasse Kaffee beginnen.»

«Hier kommt Ihr Arzt. Ich werde den Kaffee später bringen. Wenn es lange dauert, werde ich Sie dem Frühdienst übergeben.»

Ich werde mich ohnehin gleich übergeben.

Der Arzt ist ein Mittvierziger. Hornbrille. Laptop. Stethoskop um den Hals gelegt (damit man sieht, dass er Arzt ist).

«Herr Doktor, ich brauche meinen Psychiater. Mein Kopf ist leer.»

«Wir haben in der Computertomographie keine Hirnläsionen gefunden. Sie können also ganz beruhigt sein. Übrigens wartet die Polizei im Vorraum. Ihre Überwachungskurven zeigen keine Auffälligkeiten. Also sind Sie vernehmungsfähig. Bevor sie aufgewacht sind, haben wir die Kopfverletzung frisch verbunden. Sie wurde genäht und ist reizlos. Wir werden Sie noch 24 Stunden überwachen, dann können Sie nach Hause gehen. Ihr Psychiater wird Sie in seiner Sprechstunde erwarten. Wir werden für Sie einen Termin vereinbaren. Heute ist Mobilisationstag, das heißt, Sie werden mit Unterstützung der Physiotherapie auf die Beine gebracht. Haben Sie noch Fragen?»

Was soll es da noch zu fragen geben? Alles klar. Einfach aufstehen , mobilisieren und verschwinden. So einfach ist das.

«Ihre Ausführungen sind klar und abschliessend, Herr Doktor. Ich habe keine Fragen.»

«Einen guten Tag noch. Ich werde jetzt die Beamten hereinbitten.»

Beamte? Na bitte schön.

«Guten Tag Herr Popow. Mein Name ist Paul Wehrlen, Kriminalkommissar. Und das ist Peter Ott, mein Assistent. Wir hoffen, Sie fühlen sich gut und möchten Sie zu den Ereignissen am Fluss befragen.»

«Bin ich verhaftet?»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Mein Kopf ist nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist und befürchte, ich könnte etwas Schlimmes angerichtet haben.»

«Sie meinen, Sie könnten der Mörder sein?»

«So kann man es ausdrücken.»

«Sie wurden von hinten niedergeschlagen. Wir glauben, dass das der Mörder war. Können Sie etwas dazu sagen?»

«Nein, kann ich nicht. Ich war nicht bei Sinnen, irgendwie verwirrt. Meine Erinnerung ist weg. Heute Nacht habe ich eine Leiche gesehen, aber das war ein Traum. Ich glaube, es war meine Frau. Sie wissen sicher, dass meine Frau ...»

«Sie wollen sagen, Ihre Frau ist tot? Nicht nur im Traum?»

«Ja, nicht nur im Traum.»

«Das tut uns leid. Wir wussten es nicht. Ist es nicht sonderbar, dass Sie von einer Leiche träumen, nachdem Sie gestern in unmittelbarer Nähe zu einer solchen niedergeschlagen wurden, sich aber an die Tote nicht erinnern?»

«Sie sagen es. Ich glaube, es muss einen Zusammenhang geben. Ich meine, zwischen mir und der Leiche. Zumindest in meinem Kopf.»

«Nun, wie dem auch sei, Ihr Arzt sagt, dass Ihre Erinnerung zurückkehren wird. Sie leiden an Amnesie, verursacht durch den Schlag. Wir werden Sie später darüber befragen. Vielleicht wissen Sie aber, wo Sie sich vor dem Ereignis aufgehalten haben.»

«Nein, aber ich kann raten. Ich gehe fast täglich an den Fluss. Ganz in der Nähe, zwischen Bäumen, steht eine Bank. Meine Lieblingsbank. Es ist ein Ort der Stille und des Friedens. Man hört nur das Gurgeln der Wellen, das Zwitschern der Vögel und anderes mehr. Die Stimmung beruhigt mich. Mein Psychiater sagt, ich brauche das. Ich leide nämlich an Ikonomanie.»

«An Ikono-was?»

«IkonoMANIE, eine seltene Form der Depression. Meine Frau, Sie wissen ...»

«Ja, ja, das haben Sie erwähnt. Wenn ich Sie richtig verstehe, könnten Sie sich also vor dem Mord in der Nähe des Tatorts am Fluss aufgehalten haben. Kennen Sie eine Frau Namens Tanja Fedorowna? Eigentlich heißt sie Tatjana, aber in ihren Dokumenten steht fast überall Tanja, der Verniedlichungsname.»

Wehrlen hält ihm eine Fotografie vor die Augen.

«Der Name sagt mir nichts. Ist das die Ermordete?»

«Allerdings. Sie ist Russin.»

Der Kommissar runzelt die Stirne.

«Soweit wir unterrichtet sind, haben Sie familiäre Beziehungen zu Russland. Durch Ihre Großmutter. Sie sind Ikonenmaler, spezialisiert auf die Restauration christlich orthodoxer Ikonen. Waren Sie schon einmal in Russland?»

«Ich war bereits drei Mal dort. Es gibt einige für Ikonenmaler wichtige Orte, an denen berühmte Künstler gewirkt haben oder bedeutende Ikonen gefunden wurden. Es gibt Legenden, die von Wundern berichten. Man kann nicht an Ikonen arbeiten, ohne ihre Geschichten zu kennen.»

«Wo waren Sie genau?»

«Nun, ich war in Kasan, Wladimir und Smolensk. Das sind Orte, die berühmten Ikonen den Namen gegeben haben. Ein typisches Beispiel ist die Kasanskaja, die vor ungefähr fünfhundert Jahren in Kasan aufgetaucht ist.»

«Dann haben Sie also Kontakt zu Russen?»

«Ich arbeite im Auftrag. In der Regel sind die Auftraggeber aus dem Westen, aus England, USA, Deutschland. In diesen Ländern gibt es viele russische Exilgruppen aus der Sowjetzeit. Sie haben oft Ikonen mitgebracht, die sie aus den Kirchen gerettet haben, bevor diese durch die Kommunisten zerstört wurden. Manchmal handelt es sich um übermalte Objekte. Man bittet mich dann, das ursprüngliche Bild freizulegen.»

«Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu irgendwelchen Russen, oder zu Personen mit russischen Namen?»

«Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Ich spreche nicht gut russisch.»

War da nicht eine Frau mit russischem Akzent auf der Bank?

«Diese Frau, Tanja Fedorowna, ist hier nicht gemeldet. Sie ist möglicherweise kürzlich eingereist. Haben Sie zurzeit einen Restaurationsauftrag?»

«Ich glaube ja, aber in meinem gegenwärtigen geistigen Zustand kann ich mich nicht erinnern, woher die Ikone stammt, an der ich arbeite. Es tut mir leid. Sobald ich entlassen bin, werde ich meinen Psychiater aufsuchen. Er muss mir meine Hirnzellen zusammenflicken.»

«Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Außerdem wird Ihnen noch heute eine DNA-Probe von Ihrer Mundschleimhaut entnommen. Zur Sicherheit. Wir wissen ja noch nicht, welche Spuren wir auf dem Messer und an der Ermordeten nachweisen werden. Es könnte Sie entlasten.»

«Oder belasten.»

«Wir wollen nicht den Teufel an die Wand malen, Herr Popow. Erholen Sie sich erst einmal. Wir melden uns. Einen guten Tag noch.»

Ja, der Teufel. Ich spüre ihn. Er ist auf der Lauer. Eugen nennt ihn Schatten, mein Schatten. Und Tanja? Wer ist Tanja? Ist sie die Auftraggeberin? Die Frau, die mich angerufen hat? Kann es sein, dass ich die Ikone ...?

Der Kaffee, den man ihm gebracht hat, schmeckt bitter. So wie der heutige Tag ... und wie die Krankenschwester des Frühdiensts. Sie präsentiert sich als Ausbund von Hässlichkeit. Alex weiß nicht, ob er sie einen Tag lang ertragen kann. Sie schaut ihn böse an, wenn sie ins Zimmer kommt. Als durchschaute sie ihn. Als wisse sie, was er längst vermutet.

Wenn Gedanken sprechen könnten, hätten sie Einiges zu berichten. Alex braucht die Pflegefrau nur anzusehen, und schon purzeln die Verdächtigungen aus ihrem Mund. Zudem ist sie grob. Man kann in ihren Gesichtszügen erkennen, dass sie es geniesst, ihm den Verband zu wechseln. Jedes Mal reißt sie ihm genüsslich ein paar Haare aus. Sie wählt möglichst große Pflaster, damit beim nächsten Wechsel noch einige Haare mehr daran kleben bleiben. Und sie lässt keine Gelegenheit aus, um ihm unter die Nase zu reiben, wie groß das Loch in seinem Kopf ist.

«Es gibt noch Kaffee, dann ist fertig ausgeruht.»

Alex blickt ihr in die Augen. Sie hat ihr Makeup verschmiert, was die Frau nicht hübscher macht. Die Pupillen leuchten aufdringlich, sie blitzen regelrecht. Der Ikonenmaler hält sich am Bettgestell fest. Was er in ihnen liest, lässt ihn erschauern: Mörder!

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers

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