Читать книгу Die seltsamen Morde des Ikonenmalers - José Luis de la Cuadra - Страница 8

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Nie hätte ich gedacht, dass es soweit kommen würde. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein ganz normaler Mensch. Friedlich, arbeitsam, mitfühlend. Und eines Tages ändert sich alles: Das innere und äußere Gerüst Ihrer Welt bricht zusammen. Sie erkennen sich nicht mehr. Ihre Freunde und Verwandte wenden sich ab, schütteln den Kopf. Sie können diesen Zustand nicht ertragen und verkriechen sich in die hinterste Ecke Ihres Daseins. Nun fragen Sie sich, wie Sie da wieder herausfinden.

Dies ist der Moment, an dem Sie ernsthaft überlegen müssen, wie es dazu gekommen ist und ob es Erklärungen gibt. Ich glaube, dass Sie das nicht tun werden. Deshalb erzähle ich Ihnen, wie es mir ergangen ist. Vielleicht hilft es Ihnen, niemals erleben zu müssen, was mir widerfahren ist.

Ich bin zum Täter geworden. Ehrlich gesagt zum Wiederholungstäter. Zum Gefangenen einer Schuld, die ich mir vor einiger Zeit aufgebürdet habe. Seither lebe ich in verschiedenen Welten. In den Grenzbereichen meiner Existenz, wenn Sie so wollen. Oder, falls Sie der griechischen Mythologie zugetan sind, zwischen Skylla und Charybdis.

Sicher möchten Sie wissen, wie man sich in einer solchen Situation fühlt. Glauben Sie mir, es fühlt sich nicht gut an. Ich untertreibe. Es fühlt sich schrecklich an. Zuerst bemerken Sie gar nicht, dass ein Unheil auf Sie zukommt. Es schleicht sich heran, auf leisen Sohlen. Tänzelt hinter Ihrem Rücken. Oder setzt sich auf Ihre Schulter und blickt Sie von der Seite her an. Sie werden es nicht mehr los. Es ist klebrig wie Harz oder Leim. Allzweckleim. Bitte nicht anfassen. Giftig für die Haut.

Nun, mir hat es das Gehirn vergiftet. Manche sagen, das führe zu Geisteskrankheit. Mein Gehirn ist aber nicht krank. Es wurde manipuliert. Von den Dämonen der Weltenzentrale. Einfacher gesagt, vom Schicksal.

Sie können das natürlich nicht verstehen, denn Ihr Gehirn ist nicht betroffen. Sie haben Ihr eigenes Schicksal. Meines ist von der unangenehmen Sorte. Ich würde es gerne loswerden. Aber es gehört zu mir. Es hat sich wie ein Skorpion an mir festgeklammert. Ich fürchte den Stachel, den tödlichen Stich. Das macht mir Angst.

Und doch habe ich heute morgen ganz normal gefrühstückt. Ich habe mir ein Ei gekocht. Ein Fünf-Minuten-Ei zum Auslöffeln. Dazu gab es Käse und Brot. Und starken Kaffee. Ich fühlte, dass sich etwas ankündigte. Es war nur ein Gefühl. Aber Grenzgänger wie ich spüren manchmal, was Anderen entgeht. Vor allem, wenn es sich um etwas Bedrohliches handelt. Deshalb musste der Kaffee heute morgen stark sein.

Beim Aufwachen habe ich das Zwitschern der Vögel richtig gedeutet: Der Frühling ist da. Sie werden mir zustimmen, dass man leicht in Aufregung gerät, wenn die neue Jahreszeit anbricht. Im Frühling fängt alles neu an. Man muss vorbereitet und auf Alles gefasst sein. Plötzlich steht man vor neuen Wirklichkeiten.

Sie fragen sich natürlich, welche Wirklichkeit mich heute erwartet hat. Ich sage es Ihnen: die unvorstellbarste, die Unwirklichkeit. Dabei wollte ich nur den Frühling genießen. Einfach so. Den Frühling in seiner natürlichen Bescheidenheit. Doch irgendwie passte nichts zusammen. Es war eben ... unwirklich. Wie ich Ihnen schon sagte: Mein Geist ist manipuliert, verseucht von den Dämonen der Weltenzentrale, der Steuerung meiner Existenz. Sie erinnern sich.

Jetzt sind Sie klar der Meinung, dass ich geisteskrank bin. Paranoid ... oder so. Ich verstehe das. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich bin es nicht. Es ist alles eine Frage der Interpretation und der Welt, in der Sie leben.

Alex kommt oft hierher. Der kleine Wald ist ihm vertraut. Es ist, als umarmten ihn die Äste der Bäume, als legten sie einen Mantel der Geborgenheit um ihn. Der Ort ist Therapie. Hier findet die Hoffnungslosigkeit ihren Widerspruch. Hier geschieht, was die Verzweiflung nicht zulässt: Leben. Reines Leben. Vogelgezwitscher, Blätterrascheln, Wasserplätschern, Hundegebell, Kinderschreie.

Er wäre nicht in aller Frühe zu seiner Lieblingsbank unweit des Flussufers geeilt, wenn er nicht einen inneren Drang verspürt hätte, dem erwachenden Tag ein Gesicht zu geben. Die sanfte Brise des ersten Frühlingstags auf seiner Haut zu spüren. Dem Fliessen des Wassers zu lauschen. Sich von den Kräften der Strömung tragen zu lassen und an die Anfänge zurückzukehren, als die Katastrophe noch nicht geschehen war, er die Tragödie noch hätte verhindern können.

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch Äste und Büsche finden, spürt er es kommen. Es nähert sich lautlos und treibt ihm den Schweiß aus den Poren: das Grauen des Unvorstellbaren. Ein schmerzhaftes Pochen beginnt in seinem Kopf zu hämmern. Blitze zucken in den Augen. Eine Migräne schleicht sich durch die Hirnhäute. Sie zerrt an seinem Verstand und bemächtigt sich seiner Gedanken.

Ist es Einbildung oder fließt der Fluss heute langsamer als sonst? Alex reibt sich die Augen. Die Gewissheit nimmt zu. Es ist, als bewegte sich das Wasser im Rhythmus seiner inneren Stimmung, eben langsam. Das Gurgeln der Wasserwirbel klingt wie depressive Musik, wie ein Konzert tiefer Melancholie.

Es gibt Tage, die ihn zutiefst verunsichern, die ihn spüren lassen, dass seine Wahrnehmungen eigenen Gesetzen gehorchen. Dass sie seiner Kontrolle entgleiten. Heute ist ein solcher Tag. Alex fragt sich, warum der Fluss langsamer fließt. Ob eine tiefere Bedeutung darin liegt. Und vor allem fragt er sich, ob seine Beobachtung stimmt.

Professor Wiesel sagt, er leide an Ikonomanie. Sein Leben sei ein Abdruck der Bilder in seinem Atelier. Sie verzerrten seine Wahrnehmung. Und sie führten ihn in eine Scheinwelt. Na und? Weiß sein Freund und Psychiater, welche Welt für ihn, Alex, die beste ist, Schein hin oder her?

Sein Leben hat sich seit Natalies Tragödie grundlegend verändert. Er hat sich in seinem Ikonenatelier eingeigelt, hat mehr gemalt und restauriert als je zuvor. Die Arbeit lenkt ihn ab. Das ist gut. Aber die vielen Aufträge haben ihn erschöpft. Zwar lindert die Auszehrung des Körpers den Schmerz, aber die Wut seiner Schuld bringt ihn beinahe um den Verstand.

Das Atelier ist völlig überfüllt. Auftragsbilder und selbstgemalte Ikonen türmen sich bis über Fensterhöhe. Weil es nicht genug Wände gibt, hängen einige Werke frei von der Decke herunter. Die vielen Heiligen auf den hölzernen Platten sind zu seiner Familie geworden. Nicht, dass er mit dem Glauben etwas am Hut hätte, aber die mystischen Gestalten halten zu ihm. Sie hinterfragen nichts, sind einfach da. Für ihn.

Manchmal sieht er sich als altrussischen Pilger durch die Wälder streifen. Als Suchender auf dem Weg zu den weisen Starzen in ihren Hütten und Höhlen der alten Rus. Dann sprechen die allwissenden Asketen zu ihm, geben ihm Ratschläge. Sie versuchen, ihn auf den richtigen Weg zu bringen.

Den Gottesmüttern auf seinen Ikonen fühlt er sich besonders nahe. Er verehrt sie. Und sie berühren ihn. Es kommt vor, dass seine Tränen auf den Firniss tropfen. Dann öffnet sich die Türe zu Natalie, seiner Frau, und die Schuldgefühle überwältigen ihn. Er hat die Tragödie nicht nur zugelassen. Er hat sie regelrecht herbeigeführt.

Der Professor spricht von erzwungenem Suizid.

Haben Sie das schon mal gehört? Wissen Sie, was das ist? Gut, ich erkläre es Ihnen: Wenn man jemanden zum Beispiel durch andauernde Demütigung in den Freitod treibt, dann nennt man das einen erzwungenen Suizid. Ich, Pilger, Gottesmutterverehrer und Ikonomane, habe den perfekten Mord inszeniert. Es gibt keinen Täter. Und doch ..., jemand hat den Tod orchestriert. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Die Scham ist zu groß.

Ein Rascheln in den Büschen. Der Hauch eines Windes. Schluchzen. Die Bank knirscht. Alex dreht sich zur Seite. Eine junge Frau hat sich neben ihn gesetzt. Blondgefärbte Haare hängen in schweissigen Strähnen über ihre Schultern. Die Wimperntusche fliesst hemmungslos über die Wangen. Die Augen sind gerötet. Die Hände rastlos. Die Frau greift nach dem Taschentuch, das sie unter der Bluse am Träger ihres BHs befestigt hat. Es fällt zu Boden. Alex hebt es auf und reicht es der Frau. Ihre Blicke kreuzen sich flüchtig. In ihren Augen liegt panische Angst.

«Fehlt Ihnen etwas? Kann ich helfen? Ich meine, haben Sie Probleme?»

«Ich ..., nein, es geht schon. Nur eine kleine Schwäche.»

«Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber Sie wirken auf mich, als hätten Sie Todesangst. Werden Sie bedroht?»

«Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Probleme.»

«Ja, Sie haben Recht. Nur ..., es scheint, als hätten Sie Hilfe nötiger als ich ..., ich meine ... gerade jetzt.»

«Nur der Allmächtige kann mir noch helfen, glauben Sie mir.»

Alex wippt auf der Bank hin und her. Er ist unschlüssig.

Sie ist Russin! Ich erkenne den Akzent. Was macht sie hier?

Plötzlich wendet sich die Frau erneut zu Alex. Sie sieht ihn eindringlich an, atmet schwer. Erst jetzt bemerkt er, dass sich ihre rechte Hand krampfhaft an eine Tasche klammert. Es ist eine Art Einkaufstüte.

«Also, wenn Sie mir helfen wollen ..., bitte, nehmen Sie das».

Die Frau legt die Tasche auf seinen Schoss. Alex sieht sie verdutzt an.

«Was ich Ihnen anvertraue, ist unbezahlbar. Es darf nicht verlorengehen. Wenn es in falsche Hände gerät ...»

«Aber ...»

«Sie müssen die Tasche nehmen. Tun Sie es für mich und für Russland.»

Es ist ein Befehl. Alex kann sich ihm nicht entziehen. Konsterniert sieht er, wie die Frau aufsteht und ohne sich umzudrehen zum Uferweg eilt. Er hört das Knacken von Zweigen und die Schritte auf dem steinigen Boden. Ein Hund bellt, dann wird es still. Nur das Plätschern der Wellen dringt an sein Ohr.

Alex bleibt regungslos sitzen. Er begreift nicht, was sich hier abspielt. Die Tasche auf seinem Schoss wiegt schwer. Seine Beine beginnen zu zittern. Er möchte die Tasche loswerden. Und das so rasch wie möglich. Es ist nur eine Vorahnung, aber sie lässt seinen Herzschlag in die Höhe schnellen.

Schließlich legt er die Tasche neben sich auf die Bank. Aber sein Blick bleibt an ihr hängen. Bohrt sich hinein. Seine Hände beginnen unwillentlich an der Tasche herum zu nesteln. Sie machen sich am Verschluss zu schaffen, als wären sie fremdgesteuert.

Jetzt hält Alex inne. Er zögert.

Dann steckt er seine Hand in die Tasche und zieht das ihm anvertraute Objekt heraus. Es ist in Seidenpapier gewickelt. Bevor er sich daran macht, den Gegenstand zu enthüllen, weiß er bereits, um was es sich handelt. Er ist der Fachmann. Es ist eine Ikone.

Aber was zum Teufel ...?

Ein Schauder kriecht ihm über den Rücken. Der Telefonanruf! Die Anspielung auf die berühmte Ikone aus der Kasaner Kathedrale in Moskau. Die Warnung, sein Leben könnte in Gefahr geraten. Die Erinnerung an die Frauenstimme sitzt ihm immer noch im Nacken. Ist es dieselbe Frau? Dieselbe Stimme?

Noch heute erscheint ihm der Anruf merkwürdig, sogar unheimlich. Womöglich wollte die Frau am Telefon ihm ja nur eine Ikone zum Restaurieren übergeben. Zur Freilegung des Originalbildes. Viele Ikonen wurden in den letzten Jahrhunderten übermalt. Alex beherrscht seinen Beruf wie kein anderer. Seine Lösemittel sind legendär. Nicht nur, dass er es versteht, Originale freizulegen, er lässt sie auch in neuem Glanz wiederauferstehen. Dadurch vervielfacht er ihren Wert.

Ist er soeben Besitzer dieser Kasaner Ikone geworden? Der legendären Kasanskaja?

Oder ist er einem fiesen Trick erlegen? War die Verzweiflung der Frau gespielt, um ihm eine Ikone anzuhängen, die sie loswerden wollte? Eine Ikone, die sie und nun ihn in Gefahr bringen würde? Wäre nicht dieser vermaledeite Telefonanruf ...!

Was hier geschieht, gefällt Alex nicht. Er ist nicht in Stimmung, sich weitere Probleme aufzuhalsen. Auch wenn er nicht abgeneigt wäre, eine Kasanskaja zu besitzen, muss er der Frau die Tasche zurückgeben, wissen wer sie ist. Ihre Motive kennen. Herausfinden, warum sie davongerannt ist.

Ich muss die Frau finden!

Alex verstaut die eingepackte Ikone, schließt die Tasche, klemmt sie unter den Arm und geht zum Uferweg.

Das Unheil lässt nicht lange auf sich warten. Ihm wird schwindlig. Die Beine wollen ihm nicht gehorchen. Es ist, als wollten sie ihn warnen. Aber wovor?

Ich sollte die Ikone ins Atelier bringen, um sie und mich vor möglichen Gefahren zu schützen.

Der Ikonenmaler bleibt stehen und lehnt sich an einen Baumstamm. Er bekommt kaum mehr Luft. Der Atem pfeift. Mit der Hand greift er in die Tasche seiner Jeans und klaubt einen Dosierspray hervor. Das Mittel für Notfälle. Er kriegt den Verschluss nicht auf und sinkt auf die Knie. Dunkelheit überkommt ihn. Mit letzter Kraft gelingt es ihm, den Deckel zu entfernen und einen Hub des Medikaments zu inhalieren.

Als die Lebensgeister zurückkehren, findet sich Alex am Boden liegend. Er hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist.

Unsicheren Schrittes folgt er den Fussspuren der Frau, die in der weichen Erde deutlich sichtbar sind. Dabei stolpert er mehrmals über Wurzeln. Die Äste der schief stehenden Bäume schlagen ihm ins Gesicht. Der Morgennebel trübt die Sicht. Sein Puls pocht wild. Wie durch ein Fernrohr blicken ihm die panischen Augen der Frau entgegen. Er ruft laut nach ihr. Hallo, hallo, warten Sie! Ich muss mit Ihnen sprechen. Sein Atem stockt erneut und er glaubt, sich übergeben zu müssen.

Alex hält an und stützt die Arme auf den Oberschenkeln ab. Er schließt die Augen, um das anschwellende Schwirren in seinem Kopf zu vertreiben. Stattdessen verstärkt es sich zu einem Crescendo hässlichen Lärms. Plötzlich blitzt ein Messer auf, dann wird es still in seinem Kopf. Als er aufblickt, traut er seinen Augen nicht. Seinen Lippen entweicht ein Schluchzen, fast ein Heulen.

Die Frau liegt unmittelbar vor ihm in einer Blutlache. Mitten im Gestrüpp. Der Kopf ist zur Seite gedreht, die Haarspitzen tanzen im Wasser des Flusses. Die Bluse ist aufgerissen und in der Mitte des Körpers klafft eine Wunde. Die Beine sind gespreizt. Ein Schuh steckt in der Erde, der andere hängt an einem Ast. Neben der Leiche liegt ein blutiges Messer.

Alex taumelt. Wer ...? Das Messer ...!

Hört er Schritte hinter sich?

Sein Kopf explodiert. Dunkelheit umgibt ihn. Er fällt in ein schwarzes Loch.

Die seltsamen Morde des Ikonenmalers

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