Читать книгу Das Tagebuch der weinenden Frau - José Luis de la Cuadra - Страница 10
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ОглавлениеWalter Müllheim saß allein im Verhörraum der Gestapo. Er stützte seinen Kopf mit den Händen und starrte vor sich hin. Es war früh am Morgen. Aus den steinernen Wänden kroch eine ungemütliche Kälte. In der Ferne hörte man das Öffnen und Zuschlagen von Türen. Die Gefangenen wurden geweckt und aus ihren Zellen getrieben. Der Gestapo-Mann hielt seine Ohren zu. Die stolpernden Schritte in den Gängen versetzten ihn immer in Aufregung. Sie erinnerten ihn an das Getrampel verängstigter Viehherden. Bald würde die Türe zu seinem Verhörraum geöffnet und Lise von Lilienthal auf den Schemel gestoßen.
Müllheim hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Obwohl er am Abend im Hotel ‚La Chapelle’, dem Treffpunkt der Gestapo- und Wehrmachts- Offiziere, reichlich getrunken hatte, war es ihm nicht gelungen, das Ringen der Gedanken in seinem Kopf zu beenden. Bernard Mésier, Hotelbesitzer und Kollaborateur, war lange bei ihm gesessen. Er machte gute Geschäfte mit den Deutschen und ließ keine Gelegenheit aus, zu betonen, wie dankbar er für die zahlreiche und gut zahlende Kundschaft war. Eigentlich widerte es den SS-Offizier an, wenn sich der schleimige Kerl bei ihm anbiederte, aber gestern war er um jede Ablenkung froh gewesen.
Er wusste nicht, wie er in dieser wohl letzten Sitzung mit der Partisanin vorgehen wollte. Normalerweise benützte er eine Münze, wenn er sich nicht zwischen Erschießen und Konzentrationslager entscheiden konnte. Schließlich war der Unterschied zwischen den zwei Optionen nicht groß. Aber bei Lise wollte er nicht die Münze entscheiden lassen. Er hatte an eine dritte Variante gedacht: weder Erschießen noch KZ. Es wäre nicht das erste Mal, dass Zuneigung zwischen Angeklagter und Offizier andere Wege geöffnet hätte. Nein, er wollte die Gefangene nicht zu seiner Geliebten machen, wie einige seiner Kollegen es vorführten. Vielmehr weckte die Frau seinen Beschützerinstinkt. Irgendetwas drängte ihn dazu, Lise vor dem Tod zu bewahren.
Die Jüdin war anders als viele vor ihr, die er ohne Wimpernzucken ins Verderben geschickt hatte. Sie widerstand der Unmenschlichkeit. Mit ihren kaum achtzehn Jahren verweigerte sie sich ihren Peinigern und bestrafte sie mit der einzigen Waffe, über die sie verfügte: dem Schweigen. Die Frau hatte erreicht, dass Müllheim seinen kalten Gehorsam gegenüber dem nationalsozialistischen System in Frage stellte.
Gestern hatte er darüber nachgedacht, seine Unterkunft im Hotel ‚La Chapelle’ als Versteck zu benutzen, um die Jüdin zu retten. Sein Quartier lag im obersten Stock des fünfstöckigen Gebäudes. Dort befanden sich auch die ‚Séparées’, wo die französischen Prostituierten den deutschen Offizieren zu Diensten waren. Hinter dem Schrank in seinem Zimmer verbarg sich eine Verbindungstüre zum benachbarten Salon. Der unterwürfige Hotelbesitzer wäre sicher bereit, gegen einen Aufpreis, den Salon von außen zu verschließen und die Verbindungstür zu seinem Quartier zu öffnen. So könnte er die Jüdin im Salon unterbringen. Er wäre mit ihr in Kontakt und könnte sie mit dem Wichtigsten versorgen. Das Risiko entdeckt zu werden, schien ihm nicht allzu groß. Der Sicherheitsdienst in Paris war aus Spargründen unterbesetzt. Hitler brauchte seine Ressourcen für die Schlachten im Osten. Zudem hatten die Freier, die durch den Gang liefen, Kopf und Hände bei den Dirnen.
Als sich die Türe öffnete und die Angeklagte hereingestoßen wurde, brauchte Müllheim einen Moment, um sich von seinen Gedanken zu lösen. Erst die rauhe Stimme des Kerkermeisters lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Jüdin.
„Tut mir leid, Walter, aber ich musste ihr eine kleben. Sie hat mich angespuckt.“
Lises linke Wange war aufgeschwollen und von der Nase lief eine Blutspur zum Mundwinkel. An den Armen zeigten sich deutliche Verfärbungen und die Partisanin schleifte das linke Bein hinter sich her. Rüdiger musste noch Einiges mehr ausgeteilt haben. Der Offizier lief rot an und rang um Fassung.
„Arschloch, raus mit dir!“
Müllheim stand auf und begab sich zur Gefangenen, die sich auf den Schemel gesetzt hatte. Er löschte die Lampe, die auf sie gerichtet war, um den Anblick besser ertragen zu können. Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter. Lise zuckte zusammen.
„Ich wollte das nicht, glauben Sie mir.“
Eine beklemmende Stille legte sich über den abgedunkelten Raum. Der SS-Mann blieb unschlüssig stehen. Die Jüdin starrte zu Boden und verbarg ihr Gesicht. Der Augenblick schien sich ins Unerträgliche zu dehnen. Die wortlose Zweisamkeit an diesem unheiligen Ort ließ die Zeit stillstehen.
„Ich weiß.“
Die Stimme war ein kaum hörbares Krächzen. Die ersten Worte. Müllheim realisierte erst, was geschehen war, als Lise zusammenbrach und sich in einem Weinkrampf schüttelte. Der Deutsche hielt sie auf, half ihr auf die Beine und zog sie an sich. Er vermied es, sie an sich zu drücken, um ihr keine weiteren Schmerzen zuzufügen. Seine Arme umschlossen die Frau wie ein gläsernes Wesen. Tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf. Er hatte den Moment verpasst. Wenn Gefangene zusammenbrachen, waren sie zum Geständnis bereit. Die Verurteilung war dann nur eine Frage der Zeit. Es war zu spät. Lise war kaum mehr zu retten. Was konnte er tun?
Der Offizier reichte ihr sein Taschentuch. Während sie sich wieder setzte, eilte er hinter seinen Tisch. Er musste Distanz gewinnen, sonst konnte er nicht klar denken. Nachdem er sich eine neue Zigarette angezündet hatte, lehnte er sich nach vorne.
„Lise, ich entschuldige mich für alles, was in diesen Mauern mit Ihnen geschehen ist. Es ist unerträglich. Ich habe mich von den Befehlen meiner Vorgesetzten treiben lassen. Ich habe das Menschsein verlernt. Sie haben mir durch Ihre Standhaftigkeit und Ihr Schweigen gezeigt, was Würde ist. Es ist mein innerster Wunsch, Ihnen einen Ausweg aus dem Schlamassel zu bieten. Sie müssen mir vertrauen. Ich will kein Geständnis. Es steht zwar nicht in meiner Macht, Sie freizusprechen. Aber ich möchte Ihnen helfen, zu einem Leben in Freiheit zurückzufinden. Der Krieg dauert nicht ewig.
Ich schlage Ihnen vor, Sie bei mir zu verstecken, sich sozusagen in freiwillige Gefangenschaft zu begeben, bis die Alliierten Paris zurückerobert haben. Das Risiko für dieses Unterfangen ist für mich ebenso groß wie für Sie. Es setzt voraus, dass wir uns beide hundertprozentig aufeinander verlassen können. Ich weiß, dass es schwierig für Sie ist, mir zu vertrauen, nach allem, was geschehen ist. Aber vergessen Sie nicht, dass ich auf Ihr Geständnis verzichte.“
Schweigen.
„Lise?“
Schweigen.
Müllheim kroch kalter Schweiß über den Rücken. Hatte er sich verrechnet, sich falsche Hoffnungen gemacht? Wenn die Partisanin quatschte, konnte er bald selbst im KZ landen. Die Frau blickte ihm in die Augen. Ihr Gesicht war mit Tränen und Blut verschmiert. Aus ihren Augen sprachen Unverständnis und Zweifel.
„Nein.“
Was sollte er sagen?
„Rufen Sie Rüpke.“
Der Gestapo-Mann erbleichte.
„Keine Angst, ich werde Sie nicht verraten.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja ... Danke.“
Müllheim griff entsetzt zum Telefon.
„Rüdiger, du kannst sie holen.“
Die Türe öffnete sich sofort und der bullige Kerkermeister griff nach der Gefangenen.
„Und? Wie weit sind wir heute?“
„Rüdiger, ich will, dass du für morgen um zehn Uhr einen Wagen bereitstellen lässt. Wenn ich Platz genommen habe, bringst du mir Nummer 326.“
„In den Wagen?“
„Ja, in den Wagen. Sie will mir zeigen, wo ihre Partisanenfreunde versteckt sind. Kapiert?“
„Echte Fortschritte?“
„Ja, vergiss nicht, ihr einen Mantel mitzugeben.“
Lise warf dem Offizier wütende Blicke zu und wehrte sich vehement gegen Rüpke. Dieser holte bereits zu einem Schlag aus, als Müllheim vortrat und ihn zurückhielt.
„Du rührst sie nicht mehr an. Verstanden?“
„Ich werde machen, was ich kann.“
Müllheim stellte sich vor die Partisanin und versuchte, den Ausdruck ihrer Augen zu interpretieren. Sie stieß ihn jedoch aus dem Weg und dreht sich zu Rüpke. Beim Hinausgehen blickte sie zurück. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern.
... Warum bist du so stur, Lise? Warum hast du seinen Vorschlag nicht angenommen? Ich spüre, dass du dich zu ihm hingezogen fühlst. Anders kann ich mir deine Tränen nicht erklären. Dein Inneres presst sie aus deinen Augen, weil deine Gefühle nicht zurückzuhalten sind. Ich zumindest fühle, wenn ich weine, wie sich meine Emotionen lösen und das Innerste herausbricht, gleich einem Wasserfall, der sich aus dem Felsen ergießt. Ich weiß, dass dein Schmerz unendlich ist, aber was macht es für einen Sinn, dich deinen Prinzipien zu unterwerfen und alle Poren zu verschließen? Eines Tages wird es zur Implosion kommen und dann, meine Liebe, wirst du vor der Tragödie deines Lebens stehen (und an mich denken).
Dr. Fernandez sagte mir gestern, dass jeder Mensch einmal vor der Wahl steht, das Leben, wenn es unerträglich ist, entweder als eine Verpflichtung anzunehmen, oder es wegzuwerfen. Er sprach natürlich über meine Depressionen, die mich wieder verfolgen, seit ich in meinem Tagebuch über diese schreckliche Nazizeit schreibe. Ja, ich habe schon darüber nachgedacht, mein Leben zu beenden. Wenn Eufemia nicht wäre ..., ich hätte es wahrscheinlich getan. Nur, wie macht man das, das Leben einfach wegwerfen? Wenn solche Gedanken durch meinen Kopf gehen, dann denke ich, dass du genau dies tun wolltest, als du dein unglaubliches Nein herausgelassen hast. Natürlich, du musst es nicht einmal selbst tun. Rüpke wäre sofort bereit, dich zu Tode zu prügeln. Aber mal ehrlich: würdest du ihm diese Freude gönnen?
Lise, ich bitte dich, überleg es dir nochmal. Du bist eine kluge Frau. Du musst deinen Stolz besiegen. Es ist keine Niederlage, wenn du der Versuchung nachgibst, dein Leben zu retten. Jeder unnütze Tod ist es Wert verhindert zu werden. Und jeder Tod, den man diesen Nazischweinen entziehen kann, birgt in sich einen Funken Hoffnung, dass einmal alles vorüber ist und die Würde des Menschen zurückkehrt.
Ich spüre, dass dich der Gestapo-Offizier liebt, nicht körperlich, oder zumindest nicht ausschließlich, sondern wirklich. Einem Menschen, der liebt, sollte man vertrauen. Das meine ich, obwohl es mir nie vergönnt war, einen solchen zu finden. Die Ärzte sagen, es sei nicht notwendig, und auch nicht jedem gegeben, einen Partner zu finden, den man lieben kann. Ich bin da anderer Meinung. Wen soll man sonst lieben, etwa Gott? Was mir widerfahren ist, hat mich eher in den Wahnsinn getrieben, als zu Gott. Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht verstehen kann, wenn Menschen ihre Liebe bei Gott finden. Aber es ist einfach nichts für mich. Und ich glaube, dass das auch für dich nichts ist. Du bist zu stark. Gott liebt die Schwachen. Du kannst deine Liebe unter Verschluss halten, du kannst sie sogar so stark in dir einschließen, dass dir nur ab und zu eine einzelne Träne entweicht.
Ich finde, du hast es jetzt wirklich zu weit getrieben. Das Einsperren deiner Gefühle wird dich zerstören, denn sie können stärker sein als du es wahrhaben willst. Du musst deine Verletzlichkeit bewahren, auch wenn du hundertmal verletzt wurdest. Sonst siegt dein Peiniger. Glaub mir, Lise, wenn ich nach meiner schändlichen Demütigung meine Verletzlichkeit nicht zurückgefunden hätte, wäre der Wahnsinn wie ein Felsschlag über mich hereingestürzt.
Dr. Fernandez hat mir einmal gesagt, die Psychose sei wie ein verzweifelter Versuch der Seele, die Verletzungen des Menschen abzudichten und einzusperren. Aber das ist nun wirklich nicht die Lösung. Auch wenn die Ängste dadurch unter Verschluss geraten, ist es zumindest für meinen Fall besser, meine körperliche Hülle durchlässig zu halten für die schmerzhaften Verwundungen, die mir das Leben beigebracht hat.
Aus diesem Grund kann ich auch zulassen, deine Not und Verzweiflung, deine Schreie und Tränen in mir aufzunehmen und sie ebenso zu empfinden wie du. Wenn mein Doktor sagt, ich bilde mir das alles nur ein, niemand könne die Schmerzen anderer empfinden, dann glaube ich ihm einfach nicht. Niemals könnte ich dir sonst nahe sein, niemals dich verstehen. Und übrigens, wer fühlt eigentlich die Schmerzen, er oder ich?
Es ist mir gleichgültig, was die anderen sagen. Ich habe meine Meinung, auch wenn man mich in der Klinik festhält und mir nicht zutraut, dass ich auf eigenen Füssen stehen kann. Und ich meine, wenn ich mit blauen Flecken erwache, weil mich der Kerkermeister in der Nacht geschlagen hat, dann ist das keine Einbildung. Eufemia kann noch so viele Male sagen, dass sie nichts sieht. Aber wer spürt es? – Ich.
Hoffentlich, Lise, bringt der morgige Tag für uns beide die Erlösung. Für dich die Flucht aus dem Kerker und für mich den schönsten Eintrag in meinem Tagebuch, den ich je geschrieben habe: dass das Leiden zu Ende ist.
Als der SS-Offizier am nächsten Morgen ins Freie trat, stand eine schwarze Limousine bereit. Es war ein wolkenloser Frühlingsmorgen. Die Vögel zwitscherten fröhlich, als versuchten sie, das Heulen des Grauens hinter den Mauern des Gestapogebäudes zu übertönen. Müllheim setzte sich ans Steuer und wartete. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander. Er wusste, dass er auf alle Eventualitäten gefasst sein musste. Und doch hatte er keinen konkreten Plan, wie er vorgehen würde, wenn die Partisanin Widerstände machte. Gestern hatte er vorsorglich Bernard Mésier, den Besitzer des Hotels ‚La Chappel’ aufgesucht. Der alte Schleimer war ganz versessen darauf gewesen, ihm einen Dienst zu erweisen. Er hatte sofort seinen Schlüsselbund hervorgeholt und den Salon neben seinem Quartier von außen verschlossen.
Der Gestapomann blickte nervös auf die Uhr. Es war schon zehn Minuten nach zehn. In diesem Augenblick hörte er das Zuschlagen der hinteren Wagentüre. Im Rückspiegel sah er die in einen viel zu großen Mantel eingehüllte Jüdin. Der Offizier stieg aus und öffnete die Türe.
„Steigen Sie aus und setzen Sie sich neben mich auf den Vordersitz.“
Rüpke, der neben dem Wagen stand, schüttelte den Kopf und griff sich an die Stirne.
„Sei vorsichtig, Walter, die Judenschlampe ist gefährlich.“
Ohne auf die Äußerungen des Kerkermeisters zu reagieren, zog Müllheim die Gefangene aus dem Wagen und stieß sie auf den Beifahrersitz. Dort rollte sie sich in ihren Mantel ein und verdeckte das Gesicht mit den Armen. Dann begab sich der Offizier auf die Fahrerseite und setzte sich ans Steuer. Der Motor heulte auf und die Limousine fuhr in gemächlichem Tempo Richtung Place Madeleine.
„Glauben Sie ja nicht, dass ich Sie zu meinen Freunden führe.“
„Das müssen Sie nicht.“
„Und glauben Sie nicht, dass ich Ihnen zu Diensten sein werde.“
„Werden Sie auch nicht müssen.“
„Sie wollen mich nicht zu Ihrer Geliebten machen?“
„Nein.“
Lise streckte ihre Nase zwischen Armen und Mantel hervor. Der Offizier sah ihre ungläubigen Augen.
„Was dann?“
„Ich habe es Ihnen doch gesagt. Ich nehme Sie gefangen.“
„Haben Sie einen privaten Kerker?“
Müllheim schmunzelte. „So etwas Ähnliches, aber bequemer. Und ..., ich schlage Sie nicht.“
„Wieso wollen Sie das tun?“
„Ich will Ihnen helfen.“
„Lieben Sie mich?“
„Ich weiß es nicht.“
„Sie sollten sich gut überlegen, was Sie da tun.“
„Nehme ich mir zu Herzen.“
„Sie entführen mich also?“
„Ja.“
„Und wenn ich nicht mitmache?“
„Dann fahre ich Sie zurück zu Rüpke.“
„Sie setzen mich unter Druck.“
„Ja.“
„Sie schämen sich nicht?“
„Nein, denn wenn ich Sie zurückschicke, sterben Sie. Wenn Sie mitmachen, liegt das Risiko bei uns beiden.“
In einer Nebenstraße der Place Madeleine hielt Müllheim an.
„Sie müssen sich jetzt entscheiden, Lise.“
Die Partisanin richtete sich auf und musterte ihren Entführer lange. Konnte sie ihm trauen, oder würde sie vom Regen in die Traufe geraten, von einer Hölle zur anderen wechseln?
„Und Sie, haben Sie sich entschieden?“
„Hören Sie, ich kann Sie jetzt ins Hotel ‚La Chappel’ an der Rue Surène bringen.“
„Niemals! Lieber können Sie mich gleich erschießen.“
„Kennen Sie das Hotel?“
„Natürlich, das ist doch voller Gestapo-und SS-Offiziere! Ein reines Bordell. Eine Sauf- und Vergnügungsspelunke. Sagen Sie, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“
„Alles, was Sie sagen, ist korrekt. Aber das Hotel ist auch Unterkunft für deutsche Offizierskader. Ich wohne dort.“
„Dass ich nicht lache. Und sie wollen mich dorthin mitnehmen?“
„Ich muss Ihnen das näher erklären. Es ist der einzige Ort, an dem ich Sie verstecken und beschützen kann. Dort wird man Sie am wenigsten suchen. Zudem ist der Hotelbesitzer, zwar ein lausiger Kollaborateur, überaus willig. Auf dem Dachstock, in Verbindung zu meinem Quartier, und für niemanden außer mir zugänglich, gibt es ein Zimmer, das Ihnen zur Verfügung steht.“
„Und dort können Sie mit mir machen, was Sie wollen?“
„Ja, aber ich werde es nicht tun.“
„Sie wollen mich dort einsperren?“
„Es gibt keine andere Lösung für Sie. Sie können nicht einfach frei herumspazieren. Der Krieg wird einmal zu Ende sein und dann werden wir weitersehen.“
„Sie meinen, ich werde aus der Gefangenschaft bei Ihnen direkt ins KZ überstellt?“
„Der Sieger dieses Krieges steht noch nicht fest. Unsere Wehrmacht ist zwar in der Sowjetunion noch auf dem Vormarsch. Aber dieses Unterfangen grenzt an Wahnsinn. Bereits letzten Winter kam der Angriff ins Stocken. Die rote Armee hat fünf Millionen Soldaten bereitgestellt. Es ist gut möglich, dass der Russlandfeldzug im kommenden Winter in der Katastrophe enden wird. Sie haben also eine Chance zu überleben.“
„Hm ...“
„Lise, können Sie sich vorstellen, mir zu vertrauen?“
„Ich bin Jüdin, wie Sie wissen, ein Mensch zweiter Klasse. Wenn ich mit Ihnen gehe, werde ich Ihnen auf Gedeih und Verderben ausgeliefert sein.“
„Es tut mir leid, dass die Auswahl schlecht ist. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie die Gefangenschaft im Kerker mit Torturen und Tod oder das Eingesperrtsein in einem Hotelzimmer unter meiner Obhut wählen wollen. Ich kann Ihnen nichts Anderes anbieten. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich zu Ihrem Besten um Sie kümmern werde.“
„Was werden Sie tun, wenn Deutschland den Krieg verliert?“
„Bitte, fragen Sie mich das nicht. Der Krieg wird für alle hässlich enden. Wir können nur versuchen, zu überleben.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ist das wichtig? Nein, ich bin nicht verheiratet. Und ich bin froh, dass ich es in der jetzigen Zeit nicht bin.“
Wieder diese Träne. Müllheim blickte hoffnungsvoll zu Lise. In ihr Gesicht war eine Spur Leben zurückgekehrt. Ja, sie hatte sich entschieden.
„Also gut, führen Sie mich in Ihre Gefangenschaft. Ich kann Ihnen aber nicht garantieren, dass ich durchhalten werde. Und ich bin nicht sicher, dass Sie nicht bereuen werden, was Sie im Begriff sind zu tun.“
Der Offizier legte einen Arm um ihre Schulter. Lise begann zu zittern, aber sie wehrte sich nicht. Sie schien sich in ihr Schicksal zu fügen.
„Danke.“
„Ich werde jetzt zum Hintereingang des Hotels fahren. So können wir unbemerkt zu Ihrem Zimmer gelangen. Bitte, verhalten Sie sich still. Schweigen Sie so gut, wie Sie es mir über Wochen vorgeführt haben.“
Zum ersten Mal sah der Gestapomann ein Lächeln über ihre Lippen gleiten.
... Ich bin so glücklich, dass ich meinen Tagebucheintrag sofort Doktor Fernandez gezeigt habe, als er zur Visite kam. Er meinte, jetzt sei mir sicher ein Stein vom Herzen gefallen. Ich sagte ihm, es sei viel mehr als das. Ich habe nämlich echte Zuneigung zu Müllheim entwickelt, das sagte ich ihm auch. Und dann meinte er, ich solle jetzt nicht anfangen, wieder neue Hirngespinste zu erfinden. Das ist doch richtiggehend die Höhe. Diese Klinikärzte nehmen einem die ganze Freude. Ich bin doch froh, dass du dem Kerker und dem hässlichen Rüpke entkommen bist. Du wirst es jetzt besser haben, auch wenn noch nicht alles überstanden ist.
Eufemia ist lange bei mir gesessen und ich glaube, sie hat sich ehrlich mitgefreut. Was muss das für ein toller Mann sein (auch wenn er Deutscher ist), der sich vom Naziterror distanziert und sich ausgerechnet einer Jüdin annimmt. Man stelle sich vor: er riskiert sein Leben für eine minderwertige Frauenkreatur. Lise, du wirst dich irgendwie erkenntlich zeigen müssen. Aber wie? Vielleicht wenn der Krieg vorbei ist. Oder, wer weiß, vielleicht kannst du ja etwas für ihn empfinden. So etwas wie Liebe. Wenn dir das vergönnt wäre, Lise, würde mein Herz jubeln. Wie du weißt, war mir Liebe nie vergönnt. Wie viel würde ich dafür geben, sie wenigstens einmal im Leben empfinden zu können.
Aber in mir ist es kalt. Was mir widerfahren ist, hat mich vernichtet. Deshalb macht es mich so glücklich, über dich zu schreiben. Ich kann dann meine eigenen Vorstellungen von Liebe erfinden. Ja, du hast richtig gehört: erfinden. So sieht es wenigstens Doktor Fernandez. Ich erlebe nachts die wildesten Abenteuer. Letzthin sind drei tolle Männer über mich hergefallen. Ja, alle drei auf einmal. Du kannst dir nicht vorstellen, was das in mir ausgelöst hat. Ich habe vor Lust so laut gestöhnt, dass die Nachtschwester hereingestürmt ist, weil sie meinte, ich sei wirklich vergewaltigt worden. Ich habe ihr gesagt, sie solle verschwinden, es sei gerade sehr schön.
Die hat doch das Ganze meinem Arzt erzählt, worauf er sich beklagt hat, ich würde langsam zur Nymphomanin. Das sei ein Zeichen meiner unbefriedigten Libido (weißt du, was das heißt?). Ich müsse vorsichtig sein, um nicht meine nächtlichen „Erfindungen“ zu stalken. So ein Blödian. Eufemia musste mir nachher erklären, was stalken ist. Also, das macht mich ja wirklich zur Geisteskranken. Als könnte ich meine Wahnvorstellungen stalken.
Wenn ich nicht ständig durch diesen Klinikarzt in die Untiefen meiner kaputten Seele gestoßen würde, wäre ich längst genesen. Ich finde, dieses Tagebuch ist es Wert, eines Tages von irgendjemandem gelesen zu werden. Aber von niemandem aus der Klinik. Ich meine, von jemand normalem.