Читать книгу Das Tagebuch der weinenden Frau - José Luis de la Cuadra - Страница 11

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Jetzt kommt, worauf ich hinauswill, lieber Leser: Ich habe die ‚Weinende Frau’ gesehen. Ich meine eine dieser Varianten, in meinen Augen die schönste. Und ich habe sie nicht in einem Museum gesehen, nicht in Paris, nicht in New York. Nein, sie hängt in einem prächtigen Patio in Sevilla. Und wie kommt sie dorthin? Hier liegt des Pudels Kern. Wenn ich weitererzähle, wird das Ausmaß menschlicher Arroganz Ihnen die Augen öffnen. Sie werden erfahren, wie der männliche Geist Scheußlichkeiten verherrlicht und das Leiden der weiblichen Existenz schürt, wie die Hoffnung auf ein Ende von Zerstörung und Gewalt einzig und allein in den Tränen der Frau liegt. Jetzt haben Sie verstanden: in den Tränen der ‚Weinenden Frau’.

Ich weiß nicht, was Sie über den zweiten Weltkrieg wissen. Nachdem Hitler seine Bomberstaffel in Spanien in Schwung gebracht hatte, konnte er seine kranke Vision kriegerisch in die Tat umsetzen. Nach den ersten Erfolgen im Osten Europas besetzte er die nördliche Hälfte Frankreichs und Paris. Die zentralen und südlichen Teile des Landes überließ er dem ihm freundlich gesinnten Vichy-Regime unter General Pétain. Es kam nicht ungelegen, dass der Schöpfer des „entarteten Bildes“ ‚Guernica’ in Paris wohnte. So konnte er durch die Gestapo leicht überwacht werden.

Was ich Ihnen zu lesen gebe, habe ich nicht kriegshistorisch herausgefunden. Nein, ich habe es retrospektiv ermittelt. Ich meine damit, dass ich es aus heutigen Beobachtungen gefolgert habe. Meine wichtigste Beobachtung war das Erblicken der ‚Weinenden Frau’ im Patio eines Großindustriellen in Sevilla. Er ist der Inhaber von Montebarro Industries, einer bekannten Steinbruchfirma in Estepa. Seine Villa liegt im Stadtteil El Arenal in Sevilla.

Als ich meine Ausbildung zur Kunsthistorikerin begann, war ich in seinem Haus zu Besuch. Ich wurde eingeladen. Seine erste Frau, Maria Nieves Garcia y Vilar, eine gebildete Dame der sevillanischen Gesellschaft, hatte einige Kurse an der kunsthistorischen Universität besucht. Dort haben wir uns kennengelernt. Sie erzählte mir von der Bildersammlung ihres Mannes. Ich erfuhr erst später, dass ihr Mann der Geschäftspartner meines Vaters war. Die Frau imponierte mir wegen ihrer Schönheit und wegen ihres jugendlichen Alters. Ich glaube, sie war nur wenig älter als ich – und sie kleidete sich wie eine Königin.

Wir haben im Patio Tee getrunken. Umgeben von Azaleen und kleinen Orangenbäumen. Ich spürte, dass sie sehr stolz war auf das Anwesen. Sie führte ein komfortables und sorgenfreies Leben, wenn man davon absah, dass sie ihren Mann nicht liebte und er nur ihren Körper begehrte (Sie werden es mir nicht glauben, aber das hat sie mir erzählt).

Als ich das Gemälde sah, ein schmerzverzerrter Frauenkopf mit triefenden Augen und dreieckigen Tränen, war ich zugleich fasziniert und abgestoßen. Fasziniert, weil die tiefgründige Traurigkeit in diesem Gesicht eine beeindruckende Schönheit in sich barg. Lidia bemerkte mein Erstaunen und sagte:

„Das ist ein Picasso, die ‚Weinende Frau’. Bist du überrascht?“

Ich war völlig perplex. Ein Picasso in einer Privatvilla Sevillas?

„Wie kommt ihr zu einer solchen Kostbarkeit?“

„Durch meinen Mann. Er ist weit herum gekommen in der Welt. Während des zweiten Weltkriegs war er in Paris. Du weißt, Picasso war auch dort. Mein Mann hat mir nie Genaueres erzählt. Sein Leben ist voller Geheimnisse, wirklich aufregend. Irgendwie mag ich das an ihm. Ich glaube, die beiden haben sich getroffen, vielleicht waren sie befreundet, oder so. Wahrscheinlich hat der Maler ihm das Bild geschenkt.“

„Dein Mann war während des zweiten Weltkriegs in Paris? Unter der deutschen Besatzung? War das nicht gefährlich?“

„Nun, du weißt, Franco und die Deutschen ...“

Hier brach sie das Gespräch ab. Als ich nachdoppeln wollte, sagte sie nur:

„Komm, wir wechseln das Thema. Ich hasse Gespräche über Kriege. Nimmst du noch Tee?“

Und so beendeten wir den Nachmittag mit unbedeutendem Geplänkel. Aber in meinem Hirn hatte sich dieser angefangene Satz, „Franco und die Deutschen“, festgesetzt. Er hatte sich richtiggehend hineingebohrt. Kurz bevor ich mich verabschiedete, kam ihr Mann. Er war mittleren Alters. Sein Gesichtsausdruck war hart und kantig. Zu meinem Erstaunen hatte er hellbraune Haare, ungewöhnlich für einen Südspanier. Er fixierte mich unanständig und abschätzig, als mich Lidia vorstellte. Sein Blick glitt über meinen ganzen Körper und blieb an meinen Brüsten hängen. Ich verabschiedete mich rasch und verließ die Villa mit einem unangenehmen Nachgeschmack.

Am Abend erzählte ich meiner Familie vom Besuch bei Lidia. Die Reaktion meines Vaters überraschte mich. Er erklärte, dass Montebarro zwar sein Geschäftspartner sei und er ihn sehr schätze, aber er verlangte von mir, jeden weiteren Kontakt mit ihm oder seiner Frau zu vermeiden.

Damit war der Samen meines Misstrauens gesetzt. Ich begann, die Geschichte der deutschen Besatzung Frankreichs und insbesondere das Wirken der Gestapo in Paris zu erforschen. Was ich dabei herausfand, bestärkte meinen Verdacht. Nicht nur hatte Franco durch die spanische Botschaft in Paris seine rächenden Hände nach Picasso ausgestreckt (ein Mordanschlag auf ihn scheiterte), sondern auch die Gestapo war hinter dem Maler her. Er galt als Kommunist (später ist er tatsächlich der kommunistischen Partei Russlands beigetreten), seine Werke wurden in den Sammeltopf „entartete Kunst“ geworfen und durften nicht mehr ausgestellt werden. Es gab eine ‚Akte Picasso’. Unzählige Male erhielt er Besuch vom Sicherheitsdienst der SS und ebenso häufig wurde seine Wohnung unter fadenscheinigen Begründungen durchsucht. Man bediente ihn mit Gerüchten über eine bevorstehende Deportation.

Können Sie, lieber Leser, verstehen, dass sich in meinem Kopf ein Knäuel Gedanken bildete, der zu einem handfesten Verdacht heranschwoll?

Ich klappte das Buch zu. In der Hotelhalle sitzend überlegte ich die nächsten Schritte. Ich hatte über Nacht entschieden, dass ich meine Reisepläne ändern wollte. Die Anspielungen Varandas ließen die Notiz Laura Bascasas in einem neuen Licht erscheinen. Gab es eine Verbindung zwischen dem Inhalt des Buchs und dem darin versteckten Zettel? War Laura wegen einer alten Nazigeschichte in Gefahr? Nach den anfänglichen Äußerungen der Wut und Empörung, hatte der Essay einen erstaunlich nüchternen, beinahe wissenschaftlichen Ton angenommen. Die Autorin bereitete den Leser auf etwas vor, das in ihr herangereift war, wozu sie aber die Worte noch nicht fand.

Ich konnte mir mit bestem Willen nicht vorstellen, worauf Varanda hinauswollte. Das Gemälde ‚Weinende Frau’ im Patio einer sevillanischen Herrschaftsvilla, der Maler im besetzten Paris, unter Beobachtung durch die Gestapo. War es denkbar ...?

Neugierig las ich weiter.

„Hier wohnt doch Monsieur Lipchitz, nicht wahr?“

„Nein, hier wohnt Monsieur Picasso“, sagte der Privatsekretär zu den uniformierten Deutschen.

„Monsieur Picasso ist nicht zufällig Jude?“

„Natürlich nicht.“

„Wir wollen die Wohnung durchsuchen, um sicherzugehen.“

Der Sekretär kannte das Spiel. Es war nicht das erste Mal, dass SS-Offiziere einen Besuch abstatteten. Sie durchstöberten jeweils die ganze Wohnung.

„Wo ist Monsieur Picasso?“

„Er sitzt im Badezimmer, weil es dort am wärmsten ist. Sie wissen, es gibt nicht mehr genug Strom zum Heizen.“

„Und was ist das für ein grässliches Bild?“

Der SS-Obersturmbannführer zeigte auf einen abstrakt anmutenden Frauenkopf, dessen Tränen die Augäpfel aus ihren Höhlen zu stoßen schienen.

„Entartete Kunst, nicht wahr?“

„Es ist die ‚Weinende Frau’, Herr Offizier.“

„Ach ja, das verrenkte Weib auf dem Bild im Spanischen Pavillon der Weltausstellung.“

Der Offizier öffnete die Türe zum Badezimmer. Der Maler saß auf einem Schemel vor der Badewanne, eingehüllt in einen dicken Mantel.

„Ach ja, der Anarchist“, begrüßte der Deutsche Picasso. „Es gibt Neuigkeiten für Sie. Morgen fährt ein Zug gegen Osten, na, Sie wissen wohin. Zu schade, dass Sie sich von der Entartung Ihrer Kunst nicht lossagen wollen. Es missfällt dem Führer sehr.“

„Ist das eine Drohung?“

„Nein, es handelt sich um Ihren Zug. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen.“

„Scheren Sie sich ...“

„Nicht doch, bleiben Sie ruhig. Sie waren sonst immer freundlich zu mir. Hatten Sie Streit mit Ihren Kommunistengenossen?“

„Hüten Sie Ihre Zunge.“

Was glauben Sie, was Ihr schreiendes Weib auf dem Bild Wert sein könnte?“

„Es kommt darauf an, wer den Krieg gewinnt.“

„Sie meinen, es könnte sein, dass wir den Krieg nicht gewinnen?“

„Ich bin kein Hellseher, ich bin Künstler.“

„Verzeihung, ich dachte, Sie seien Anarchist.“

„Denken Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie mich in Ruhe. Ich stehe praktisch unter Hausarrest, bin also keine Gefahr für Sie.“

„Der Führer meint, Sie seien eine Gefahr für die Moral des Großen Deutschen Reichs, zumindest, was Ihre Bilder anbelangt. Vielleicht könnte ich Sie v on einem Ihrer abartigen Porträts befreien, damit das Gefahrenpotential etwas abnimmt. Als Gegenleistung könnte ich, sagen wir mal, dafür sorgen, dass der Zug schon voll ist. Es gibt genug Abschaum in Paris, um ihn bis zum Bersten zu füllen.“

„Sie wollen die ‚Weinende Frau’, dieses entartete Kunstgemälde, wie Sie sagen?“

„Warum nicht? Ich meine, falls die Kommunisten den Krieg gewinnen, was ja wenig wahrscheinlich ist, könnte es an Wert gewinnen. Verstehen Sie mich?“

„Nehmen Sie das Bild und scheren Sie sich zum Teufel.“

Ja, so war’s. Es ist kristallklar. So muss es gewesen sein. Es war Erpressung der feinsten Art. Und es war Kunstraub. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich so wütend wurde, als ich mein Buch zu schreiben begann? Irgendwie war es von Anfang an klar. Die ‚Weinende Frau’, der Aufschrei weiblichen Leidens gegen die männliche Gewalt, ausgerechnet dieses Bild wurde von einem deutschen Nazischergen beschlagnahmt. Ist das nicht reine Ironie?

War der SS-Mann einfach dumm, oder war er perfid berechnend und erwartete bereits die deutsche Niederlage? Ich weiß es nicht, so wie ich auch vorerst nicht wusste, wie das Bild in den sevillanischen Patio gelangt war.

Jedenfalls wurde Picasso nicht deportiert. Die sich nähernde Niederlage Hitlers kam ihm entgegen. Er blieb in Paris. Den Tod Francos und die Überführung seines Gemäldes ‚Guernica’ in seine Heimat Spanien hat er nicht mehr erlebt.

Ich aber, ich ließ nicht locker und wandte mich mit einer Email an das Archivo Municipal in Málaga. Muss ich Ihnen erklären, weshalb? Im spanischen Bürgerkrieg war Málaga ein wichtiges Einfallstor der Faschisten Francos aus Nordafrika. Nach Ende des zweiten Weltkriegs wiederum flüchteten viele Nazischergen in diese Stadt, mit wohlwollender Tolerierung durch Franco. Es war eine Dankbarkeitsgeste nach der erfolgreichen Unterstützung des Caudillo durch die deutsche Wehrmacht während des Bürgerkriegs. Die Ankunft von SS-Offizieren aus Paris wurde mir im Gemeindearchiv Málagas vollumfänglich bestätigt. Ich hatte nichts Anderes erwartet.

Ja, aber was hatte Varanda nun erreicht? Ein noch nicht klar formulierter Verdacht, ein Wirrwarr vermuteter Zusammenhänge. Ich fühlte mich seltsam berührt von der Autorin, die wie eine Besessene hinter einer Kriegsgeschichte her war, als wäre sie persönlich betroffen. Wo lebte der SS-Obersturmbannführer? War er von Málaga aus weitergereist, nach Südamerika? Oder hatte er sich in Spanien niedergelassen? Und wie kam das Bild in den sevillanischen Patio? Hatte der SS-Offizier es an Montebarro verkauft, um Geld zu bekommen für eine neue Zukunft?

Meine Gedanken kehrten immer wieder zur Urheberin der Notiz im Buch zurück. Sie bat den Finder, für eine weinende Frau zu beten. Meinte sie die ‚Weinende Frau’, die aus dem Patio? Oder die Frau auf der linken Seite des Gemäldes ‚Guernica’? Betrachtete sie sich selbst als weinende Frau? Erwartete sie ihren Tod? Und was sollte der Leser begreifen?

„Bonjour, Monsieur. Entschuldigen Sie, sind Sie Spanier? Ich ... habe einen Blick auf den Umschlag Ihres Buchs geworfen und gesehen, dass es einen spanischen Titel trägt. Ich fühlte mich angesprochen, weil Guernica die Geburtsstadt meiner Großeltern war.“

„Sie sagen war. Die Stadt gibt es immer noch.“

„Ja, ja, aber wie Sie sicher wissen, existiert die Stadt im Kopf der Basken nicht mehr. Sie wurde so vollständig zerbombt, dass mit dem Wiederaufbau etwas Neues entstanden ist. Sie ist nicht mehr wirklich unsere Stadt. Meine Großeltern hatten Glück. Als die deutschen Bomben fielen, waren sie auf dem Feld, etliche Kilometer entfernt. Sonst gäbe es mich wohl nicht.“

Ich betrachtete die Frau vor mir. Ihre Hautfarbe war dunkel und das Haar pechschwarz. Sie hatte ungefähr mein Alter. Ihre Augen wirkten offen und spontan. Wenn sie sprach schienen ihre Lippen zu lachen. Ihr Akzent war andalusisch.

„Sie scheinen mir keine Baskin zu sein.“

„Nein, mein Vater hat Guernica verlassen und im Süden eine Andalusierin, meine Mutter, geheiratet. Ich wohne in Sevilla.“

„Alles klar.“

Ich verstaute das Buch und die Notiz in meinem Rucksack, als wollte ich es vor fremden Augen schützen. Ich kannte die Frau nicht. Es war ungewöhnlich für eine Andalusierin, einen wildfremden Mann anzusprechen.

„Ist das Buch interessant?“

„Etwas beklemmend. Aber was soll’s, ich habe es bei einem Bouquinisten gekauft.“

„Dann ist es wenigstens eine schöne Erinnerung an Ihre Reise. Sie sind doch auf Reise?“

„So wie Sie wohl auch.“

„Ich habe mich nach dem Abschluss meines Masters in Psychologie spontan entschieden, die Stadt meiner Träume zu besuchen.“

„Sie sind Psychologin? Das trifft sich gut. Ich könnte einen Rat gebrauchen. Bitte sagen Sie mir: weshalb weinen Frauen?“

„Eine Frage, auf die es tausend Antworten gibt. Weinen die Frauen in Ihrem Buch?“

„Beantworten Sie einfach meine Frage.“

„Also ..., übrigens, ich heiße Olivia. Und Sie?“

„Ich bin Jorge, Jorge Jiménez, entschuldigen Sie meine schlechten Manieren. Wollen Sie sich zu mir setzen?“

„Ja, klar. Also, um auf Ihre Frage zurückzukommen, eine Frau weint nicht, wenn sie unglücklich ist. Eine Frau weint, wenn sie empört oder verzweifelt ist. Wenn sie Unrecht erfährt, gedemütigt wird, oder der Gewalt ausgesetzt ist. In den Tränen der Frau steckt die Kraft Gottes, wie in den Tränen der leidenden Maria, der Mater Dolorosa. Die Frauen tragen die Gefühle der ganzen Welt in sich. Sie sind es, die sich Krieg und Unterdrückung widersetzen und ihre Stimme erheben.“

Ich war bewegt, aber auch erstaunt. Die Ausführungen Olivias klangen wie einstudiert, als hätte die Psychologin sie aus dem Koffer ihres Wissens einfach hervorgeholt.

„Haben Sie das alles gelernt, oder gehört die Antwort auf meine sehr spezifische Frage zu Ihrem selbstverständlichen Rüstzeug?“

„Ich bin eine Frau.“

So einfach war das.

„Kennen Sie Picassos Studien über die ‚Weinende Frau’, ich meine seine Bildkompositionen über das Motiv in der linken Hälfte seines Gemäldes ‚Guernica’?“

„Natürlich. Sie entstammen der männlichen Seele, der Erkenntnis eines Ausnahmekünstlers. Sie sind die Ikonen der Leidensgeschichte unserer Zeit. Jede Frau sollte sie kennen. Die ‚Weinende Frau’ beklagt den physischen und seelischen Missbrauch. Sie ist das moralische Gewissen der Menschheit. Durch ihr Leiden rettet sie die Würde unseres Daseins.“

Was Olivia mir unterbreitete, beantwortete etliche Fragen, die ich mir in Bezug auf Varanda gestellt hatte. Zum Beispiel, warum sich die Autorin dermaßen auf das Bild im Patio Montebarros eingeschworen hatte. Es schien, als sei sie selbst eine Weinende, um Hilfe Schreiende, vielleicht Missbrauchte. Welches Unrecht konnte ihre Wut ausgelöst haben?

Ich musste nicht nur Laura Bascasa, sondern auch Lea Varanda finden. Vielleicht konnte mich die Autorin zu Laura führen. Irgendeine Verbindung zwischen den beiden musste es geben.

„Ich sehe, dass gewisse Dinge durch die Brille der Frau anders aussehen. Sie haben die Sache auf den Punkt gebracht, ohne das Buch des Bouquinisten zu kennen. Nur, weil Sie eben eine Frau sind. Was ich Ihnen nicht gesagt habe, ist, dass in dem Buch eine Notiz steckte, die mich beunruhigt. Sie stammt von einer Frau, deren Leben offenbar bedroht ist. Ich habe mich deshalb entschlossen, meine Reisepläne zu ändern und morgen nach Madrid zu fliegen, um am Sitz des Verlags Eslibros herauszufinden, wo ich die Buchautorin finden kann. Durch sie hoffe ich, die Verfasserin der Notiz aufzuspüren.“

„Das ist ja toll. Sie verbinden Ihre Ferienreise mit der detektivischen Suche nach einer weinenden Frau. Ich darf wohl annehmen, dass die Buchautorin eine solche ist. Darf ich auch vermuten, dass Sie Akademiker sind, vielleicht aus dem Bereich Literatur?“

„Ja, das dürfen Sie und ja, Sie liegen richtig.“

„Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber planen Sie, dem Museum Reina Sophia, wo ‚Guernica’ ausgestellt ist, einen Besuch abzustatten?“

„Das habe ich tatsächlich vor. Können Sie jetzt auch noch Gedanken lesen?“

„Dazu brauche ich keine Gedanken zu lesen. Männerhirne funktionieren auf der Grundlage der Logik.“

„Sie sind eine gute Psychologin. Wollen Sie mich begleiten?“

„Nein, aber ich möchte mit Ihnen in Kontakt bleiben. Es interessiert mich, was bei der Geschichte herauskommt. Geben Sie mir Ihre Handynummer. So können wir per SMS in Verbindung bleiben. Ich hoffe, Sie besuchen mich in Sevilla.“

„Gut, bleiben Sie noch hier?“

„Noch ein paar Tage, dann geht’s zurück nach Hause. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“

„Es war schön, Sie kennenzulernen. Ich danke Ihnen für alles.“

Mit elegantem Schritt entfernte sich Olivia. Bevor sie die Treppe erreichte, blickte sie kurz zurück, dann verschwand sie. Ich fragte mich, ob dieses Zusammentreffen reiner Zufall oder irgendwie geplant war. Wie dem auch sei, Olivia gefiel mir, sie war eine intelligente Frau. Ich entschloss mich, am Ufer der Seine eine Bank zu ergattern und das Buch zu Ende zu lesen. Zuvor beauftragte ich die Empfangsdame des Hotels, für den nächsten Tag einen Flug nach Madrid zu buchen.

Das Tagebuch der weinenden Frau

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