Читать книгу Das Tagebuch der weinenden Frau - José Luis de la Cuadra - Страница 12
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Оглавление„Hier soll ich wohnen?“
Lise sah sich im Salon um und blickte auf das Bett, wo sich bisher französische Prostituierte mit deutschen Wehrmachts- und SS- Angehörigen vergnügt hatten. Es stand in der Mitte des Raums und war mit Velours bedeckt. Daneben erinnerten ein antiker Tisch und zwei Stühle an die Zeit von Luis Philippe. Ein Perserteppich lag auf dem Parkett. Eine Vase mit frischen Blumen schmückte den Fenstersims.
„Ich gebe zu, der Unterschied zu Ihrem vorherigen Logis ist erheblich, aber ich kann Ihnen keine einfachere Bleibe anbieten. Es blieb keine Zeit, die Möblierung zu ändern. Versuchen Sie, darüber hinwegzusehen. Es hat keine Bedeutung, was sich vorher in diesem Zimmer abgespielt hat. Wichtig ist, dass Sie eine Chance haben zu überleben, Lise.
Übrigens, wäre es Ihnen unangenehm, mich Walter zu nennen? Es würde unsere Situation entkrampfen.“
„Ich habe mein ganzes Leben lang nicht in einem solchen Bett geschlafen. Ich finde das Ganze irgendwie anrüchig. Es macht mich zur Hure. Nein, ich kann das nicht ... Und Walter? ... Unmöglich.“
„Nenn mich, wie du willst. Ich bitte dich nur, zu bleiben. Ich kann dich jetzt nicht mehr zurückbringen. Es wäre unser beider Todesurteil.“
„Erpresser!“
Der Deutsche schmunzelte.
„Ein bisschen Druck ist bei einer so widerspenstigen Partisanin nötig. Nochmals: bleib einfach hier. Ich will nicht abstreiten, dass dieses Zimmer besser zu einer Hure passt. Aber nochmals: es tut nichts zur Sache. Ich will dich nicht zu meiner Geliebten machen.“
Lise stand lange reglos da. Sie war unschlüssig. Was, wenn dieser Walter sich nicht an seine Worte hielt? Er war ein Nazi und er hatte sie in der Hand. Es gab keine Garantie, dass er die Situation nicht ausnützte. Sie saß in der Klemme. Alles hing von ihm ab.
Sie drehte sich um und blickte ihm in die Augen. Erinnerungen an den Verhörkeller stiegen auf. Sie sah die Pritsche des Verlieses vor sich, spürte die Schläge der Folterer auf ihrem Rücken, die brennenden Zigaretten auf ihren Brüsten.
Plötzlich überwältigte sie die Sehnsucht nach Leben, nach Geborgenheit und Schutz. Bilder aus früheren, glücklichen Zeiten tauchten auf. Sie dachte an ihre Eltern, die sie so geliebt hatte. Nachdem sie von der SS abgeholt worden waren und sie sich aus ihrem Versteck auf dem Dachboden hervorgewagt hatte, stand ihr Entschluss fest, sich der Résistance anzuschließen. Der Überfall der Nazis auf das Hauptquartier der Partisanen hatte ihrem Wagemut nach kurzer Zeit ein jähes Ende bereitet.
Auch wenn es nur ein Strohhalm war, sie musste nach ihm greifen. Wie von selbst bewegten sich ihre Beine und machten einen Schritt auf den SS-Offizier zu.
„Also gut ..., Walter. Wie stellst du dir unser Zusammenleben vor? Kann ich die Türe zu meinem Zimmer mit einem Schlüssel schließen? Kann ich mich waschen? Was soll ich anziehen? Ich habe keine Kleider.“
„Der Schlüssel steckt im Schloss. Er gehört dir. Wir haben ein gemeinsames Badezimmer, es kann verschlossen werden. Einige Kleider hängen im Schrank. Sie gehören dir.“
„Hurenkleider?“
„Nein.“
„Bekomme ich zu essen?“
„Wir werden abends zusammen in meinem Zimmer essen. Es gibt eine kleine Kochnische. Zudem kann ich Lebensmittel aus der Hotelküche besorgen.“
Walter betrachtete die Frau. Er erschrak. Im Verhörraum war ihm der klägliche Zustand seiner Gefangenen weniger aufgefallen als hier in den schmucken Räumlichkeiten des Hotels. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, damit ihn die Schamröte nicht verriet. Dann drehte er sich um, öffnete den Schrank und reichte Lise einen Bademantel.
„Seife ist im Badezimmer. Ich werde unterdessen etwas zum Essen besorgen. Nimm dir Zeit. Nachdem du offensichtlich abgehauen bist“, Walter lächelte verschmitzt, „werde ich noch bei der Militärverwaltung vorbeigehen, um einen Suchtrupp loszuschicken. Man wird dich dann in den Wäldern der Umgebung suchen, natürlich vergeblich. Ich muss auch deine Gefangenenakte an der Rue des Saussaies ergänzen. Dein Entkommen wird auf Seite 16 gebührend Erwähnung finden.“
Als Müllheim mit einer Einkaufstasche zurückkehrte, stand die Badezimmertüre offen. Es duftete nach frischer Feuchtigkeit. Die Türe zu Lises Salon war zu. Der SS-Mann kochte eine Gerstensuppe mit Lauch, dazu französische Saucissons. Auf dem Tisch standen jetzt eine Flasche Rotwein, Wasser, Brot und ein Früchtekorb.
Nach zweimaligem Klopfen öffnete sich die Türe einen Spalt weit.
„Komm essen.“
Lise hatte ihre noch nassen Haare mit einem Frottiertuch zusammengebunden. Ein rotes T-Shirt bedeckte ihren schlanken Oberkörper. Sie trug eine braune Freizeithose, die ihr viel zu weit war. Noch immer entstellten Schwellungen das Gesicht, aber ihre Augen leuchteten.
Sie aßen schweigend. Ab und zu blickte Walter verstohlen zu seiner neuen Mitbewohnerin und sah befriedigt, wie sie die Suppe schlürfte und über die Wurst herfiel. Er schenkte sich Wein ein, Lise ein Glas Wasser.
„Morgen bekommst du auch Wein“, sagte er, als sie ihn mit großen Augen anblickte. „Wir wollen deinen Magen nicht überfordern. Bitte, iss nicht zu rasch, du bekommst genug.“
Nach dem Essen erhob sich Lise und trug die Teller und Gläser zum Trog der Kochnische und besorgte unaufgefordert den Abwasch, während sich Müllheim eine Zigarette anzündete. Die Frau wandte ihm den Rücken zu, als er ein leises „Danke“ vernahm. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer. Der Offizier blieb noch lange sitzen. Aus dem Schlafgemach seiner neuen Mitbewohnerin hörte er leises Schnarchen. Erst viel später vernahm man Schritte und fröhliches Lachen im Gang des obersten Stockes. Der Freudendienst hatte begonnen.
... Doktor Fernandez blätterte heute lange in meinen Tagebuchnotizen. Ich finde das nicht in Ordnung. Es ist ein Eingriff in meine Privatsphäre. Keine Ahnung, was er dort sucht. Wahrscheinlich, ob ich wieder stalke oder sowas. Ich sagte ihm, er könne mich ruhig fragen, wenn er etwas wissen wolle. Er antwortete nach längerem Zögern, er habe keine Fragen, er suche Verfolgungsideen. Ist das nicht komisch? Ich werde doch nicht verfolgt. Das ist gar nicht möglich in einer Klinik wie dieser. Meine Türe wird immer von außen verriegelt. Da kommt keiner rein. Nur mit Spezialschlüssel. Ich habe es Doktor Fernandez gesagt. Alle Personen in meinem Tagebuch gibt es wirklich und in meinem Zimmer bin ich allein. Wer soll mich da verfolgen? Ist doch unlogisch, oder? Der Arzt meinte, das sei eben gerade das Problem.
„Was für ein Problem?“
„Dass diese Personen nicht real sind. Die Verfolgung findet in Ihrem Tagebuch und in Ihrem Hirn statt.“
„Das ist doch Unsinn. Sie wollen mir weismachen, dass mich die Gestalten meines Tagebuchs verfolgen? Soll das ein Witz sein?“
„Ihr Tagebuch widerspiegelt Ihr Innenleben. Alle Personen wohnen in Ihrem Kopf.“
„Es wird ja immer besser. Jetzt behaupten Sie, Doktor, dass ich von mir selbst verfolgt werde?“
Es hat alles keinen Sinn. Auf diesem Niveau kann ich einfach nicht diskutieren. Ich habe meinem Arzt erklärt, dass ich ihn sehr schätze, dass wir aber fachlich irgendwie nicht zusammenpassen. Damit meinte ich, dass wir eine andere Sicht der Dinge haben. Nach längerem Stirnrunzeln gab er sich zufrieden. Zum Glück kam Eufemia ins Zimmer, denn ich war ziemlich erregt. Sie konnte mich wieder runterholen und anschließend hatten wir ein gutes Gespräch. Über dich, Lise.
Ich berichtete ihr, dass deine Flucht aus dem Gestapogefängnis gelungen ist. Die Schwester hat mitgefiebert, als ich erzählte, wie fremdartig du deine neue Situation im Dirnensalon empfunden hast. Wir verstehen dich beide gut. Eufemia ist sehr besorgt, dass du trotz den Beteuerungen Walters, als seine Hure enden könntest. Ich habe sie beruhigt.
„Nein, nein“, habe ich zu ihr gesagt, „sie wird sich nicht hingeben, wenn sie nicht liebt.“
Obwohl ..., das könnte immerhin geschehen. Man stelle sich vor: ein Mann und eine Frau, so nahe beieinander. Und du wirst viel allein sein, Lise, wenn Walter seiner Arbeit im Verhörkeller nachgeht. Es kann sich etwas in deinem Kopf zusammenbrauen. Wenn es nicht Liebe ist, dann vielleicht Zuneigung.
Plötzlich überkamen mich Zweifel. Ich fragte die Schwester ganz offen: „Glauben Sie mir eigentlich, oder stehen Sie auf der Seite der Ärzte?“ Eufemia blickte mich mit großen Augen an. „Natürlich glaube ich Ihnen“, sagte sie, „alles was im Hirn entsteht, kann Wirklichkeit sein. Was Sie in Ihrem Tagebuch schreiben, hat nichts mit Wahn zu tun. Es ist Erinnerung, es sind Dinge, die für Ihr Leben wichtig sind. Es sind zwar traurige Geschichten, aber so, wie Sie sie erzählen, bekommen sie etwas Tröstendes. Ich spüre keine Wut. Sie vergeben, und das ist schön. Sie sehen das Positive, obwohl Ihr eigenes Schicksal Sie schwer misshandelt hat.
Früher haben Sie viel geweint, geschrien und rebelliert. Jetzt haben Sie sich mit dem Leben versöhnt und können über das Leid hinwegsehen. Manchmal frage ich mich, wie Sie es geschafft haben. Irgendetwas hat Ihnen Halt gegeben. Ich finde, Doktor Fernandez sollte das mehr respektieren. Er kann so kleinlich sein, so furchtbar intellektuell. Dabei geht es doch um Lebensbewältigung, um die Entfaltung Ihres Lebens und nicht um Verfolgung und Stalking. Ich frage mich manchmal, ob er glücklich ist. Ob er sein Leben auch so im Griff hat, wie er es von Ihnen verlangt.“
Die Gute hat mir den Kopf vollgeplappert. Aber es war gut gemeint und nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatte (ich meine verriegelt, glauben die denn, ich springe davon? Wo soll ich auch hin? Ich bin doch ganz allein, niemand will mich), begann ich zu grübeln, über meine Vergangenheit und so. Ja, ich wurde geschändet. Jetzt weißt du es, Lise. Es musste ja mal raus. Deshalb bin ich hier gelandet. Ja, Eufemia hat es richtig gesagt. Früher war ich nicht so friedlich. Ich habe mir mehrmals die Pulsadern aufgeschnitten und einmal versucht, mich mit dem Bettlaken zu erhängen. Aber ich war ungeschickt, oder vielleicht wollte ich es gar nicht wirklich. Ich weiß es nicht mehr. Heute würde ich es nicht mehr tun. Das Tagebuch hat mir viel geholfen, mich von meiner Depression zu lösen (Doktor Fernandez sagte, es sei eine psychotische Depression gewesen, er schlägt immer mit Ausdrücken um sich, die ich nicht verstehe).
Jetzt bin ich innerlich so frei, dass ich mich voll in deine Lage versetzen kann, Lise. Diese erste Nacht in deinem neuen Zuhause muss dir paradiesisch vorgekommen sein. Endlich kannst du dich entspannen, Ruhe und Sicherheit genießen, dich gut ernähren und zu dir kommen. Ich weiß, wie schwierig es ist, über einen Missbrauch von Macht hinwegzukommen. Wenn du Gefühle zulassen kannst, wird dir Walter sicher helfen, den Verhörkeller zu vergessen. Es ist fast unmöglich, einem Peiniger zu vergeben, aber Walter hat es ja gesagt: er war nicht dein Folterer. Ich rechne ihm hoch an, dass er so mutig ist, dich, eine Jüdin, bei sich zu verstecken. Er muss mit dem ‚Dritten Reich’ gebrochen haben. Es war höchste Zeit, ein anständiger Mensch zu werden. Bitte, steh ihm bei, zeig ihm ein bisschen Zuneigung. Hat er dich nicht gebeten, ihm zu vertrauen? Tu’s, du bist stark, aber du brauchst jetzt Geborgenheit und Unterstützung. Ein Mann, der für dich kämpft ist allemal besser, als ein Klinikarzt, der ständig unverständliche Floskeln von sich gibt (hoffentlich will er morgen nicht wieder in meinem Tagebuch lesen).
Eufemia kommt gerade ins Zimmer. Sie bringt die Abendmedikamente. Nein, ich will sie nicht nehmen, werde sie, wie eigentlich fast immer, in meine geheime Medikamentenbüchse stecken. Heute Nacht will ich mich fühlen wie du, Lise, ohne beduselt zu sein. Ich werde mir vorstellen, in deinem Salon auf dem Bett zu liegen, warm in die Veloursdecke eingewickelt. Dazu brauche ich keine Tabletten.