Читать книгу Das Tagebuch der weinenden Frau - José Luis de la Cuadra - Страница 9
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Paris 2010, Seine-Ufer
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„Ich möchte dieses Buch.“
Der Bouquiniste-Händler blickte mich erstaunt an.
„Sie möchten wirklich dieses Buch?“
„Ja, ist es nicht verkäuflich?“
„Doch, doch, natürlich, nur ..., es hat mich noch nie jemand danach gefragt. Ein merkwürdiger Titel, nicht wahr.“
„Nun, ich sehe nichts Außergewöhnliches daran.“
„Dann müssen Sie sehr gebildet sein, mein Herr. Fünfzehn Euro, bitte.“
„Ist das nicht etwas teuer? Das Buch hat kaum hundert Seiten.“
„Es ist ein Essay. Woher kommen Sie?“
„Ich bin Spanier, auf Urlaubsreise.“
„Dann gebe ich es Ihnen für zwölf Euro.“
Ich kramte einen Zehnerschein und 2 Euromünzen hervor und kaufte das Buch.
„Glauben Sie nicht alles, was drinsteht. Ich kenne die Autorin nicht.“
Der Buchhändler schüttelte leicht den Kopf, als er das Geld in seinem Taschengurt verstaute. Ich begab mich auf der anderen Straßenseite in einen kleinen Park und setzte mich auf eine Bank. Dann legte ich das Buch auf meinen Schoss und betrachtete den Titel auf dem Umschlag:
Guernica, eine unerträgliche Wahrheit.
Als Student in Literaturgeschichte an der Universität von Salamanca wusste ich einiges mehr über das Thema des Essays als der Buchhändler. Neugierig klappte ich das Schriftwerk auf. Die Autorin hieß Lea Varanda, Kunsthistorikerin, der Verlag Eslibros, Madrid. Als ich weiterblätterte, fiel ein Zettel auf den Boden. Ich hob ihn auf und blickte auf eine handschriftliche Notiz:
Wer du auch bist, der das liest, wenn du begreifst, werde ich nicht mehr sein. Bete für die weinende Frau.
Unterschrieben mit: Laura Bascasa.
Ich las die Notiz mehrmals. Wer schrieb so etwas? Eine Selbstmörderin, eine Depressive? Oder wurde die Frau bedroht? Fürchtete sie um ihr Leben? Und weshalb steckte die Notiz ausgerechnet in einem Buch über die baskische Stadt Guernica, die 1937 von der Legion Condor bei einem koordinierten Angriff der deutschen Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht worden war?
Beunruhigt eilte ich zurück zum Bücherstand und fasste den Mann am Arm. Er war gerade dabei, seinen Verkaufsladen zu schließen.
„Hören Sie, von wem haben Sie dieses Buch?“
Der Bouquiniste blickte mich erstaunt an.
„Weiß ich doch nicht.“
„Bitte!“
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Titel merkwürdig ist. Was wollen Sie denn?“
„Monsieur, im Buch steckt eine Notiz. Ich muss wissen, woher Sie das Buch haben.“
„Es wurde mir per Post zugesandt.“
„Ach ja, aber von wem?“
„Ich sagte Ihnen doch, ich weiß es nicht. Es stand kein Absender darauf.“
„Und die Briefmarke, der Stempel?“
„Spanische Briefmarke, der Stempel war verwischt.“
„Sie haben das Buch erhalten, ohne es bestellt zu haben?“
„So könnte man es sagen. Bitte, mein Herr, ich habe jetzt Feierabend, ich muss meinen Verkaufskasten schließen.“
„Noch eine Frage: Kennen Sie eine Frau Namens Laura Bascasa?“
„Nein.“
Ich schlenderte über den Pont au Double und setzte mich auf eine Bank im Park der Kathedrale Notre-Dame. Das Buch hielt ich krampfhaft in den Händen. Natürlich musste ich den Essay lesen. Aber ich wollte auch herausfinden, wer Laura Bascasa war. Die Frau schwebte möglicherweise in Lebensgefahr. Allerdings konnte ich nicht verstehen, dass sie ihr Schicksal den Händen eines Bouquinisten überließ, den sie nicht einmal kannte. Seltsam war auch, dass sie nicht wissen konnte, ob das Buch überhaupt gekauft und die Notiz nicht weggeworfen wurde. Wer setzte solche Hilferufe in die Welt? Gab es einen Zusammenhang zwischen Notiz und Buch?
Ich blickte auf den Umschlag. Ein paar Flecken zeigten, dass das Exemplar nicht neu war. Ich blätterte zum Impressum. Als Erscheinungsdatum war das Jahr 2010 angegeben. Auflage: 1! Nur ein gedrucktes Exemplar? Ein einziges Buch, angeboten durch einen Bouquinisten in Paris, verkauft an einen zufälligen Passanten? Ich stand vor einem Rätsel.
Ein Gedanke, der mich nicht mehr loslassen sollte, setzte sich in meinem Kopf fest: Dass dieses Buch in meinen Besitz gelangt war, konnte kein Zufall sein. Hätte ich gewusst, wohin mich die Schrift führen würde, ich hätte sie als Zeichen einer höheren Macht gehalten.
Es gibt Wahrheiten, die unerträglicher sind als andere. Die Wahrheit, über die ich schreibe, ist die unerträglichste, die ich kenne. Deshalb habe ich, Lea Varanda, beschlossen, darüber zu berichten. Die Welt soll wissen, dass die Wahrheit so schrecklich sein kann, dass nur ein Bild auszudrücken vermag, was geschehen ist. Ein Bild ist wie eine Metapher, es kann Gegebenheiten so überhöht darstellen, dass Worte überflüssig werden. Kein anderes Bild hat das Grauen und Entsetzen der Menschen so schonungslos offengelegt wie ‚Guernica’ von Pablo Picasso. Ich bin Kunsthistorikerin, deshalb weiß ich, worüber ich spreche. Dass ich zur Feder greife, obwohl das Wort nicht annähernd auszudrücken vermag, was damals geschah, hat nur einen Grund: Meine Wut ist so groß, dass sie mein Leben längst fest im Griff hat. Sie richtet sich gegen die siegreichen spanischen Faschisten und ihre deutschen Helfershelfer. Sie diskreditierten das Meisterwerk, weil es die Wahrheit zeigt.
Aber, lieber Leser, lassen Sie mich alles der Reihe nach erzählen. Das Bild wurde während des spanischen Bürgerkriegs 1937 auf der Weltausstellung in Paris ausgestellt. Als stummer Aufschrei klagte es die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch deutsche Bomber an. Es wurde zum Symbol des republikanischen Widerstandes und weltweit zum Symbol einer freiheitlichen Gesellschaft.
Warum ich nicht nur wütend, sondern voller Abscheu bin? Die deutsche Legion Condor, welche Francos Armee unterstützte, zerbombte die unbewaffnete Stadt nicht nur hinterhältig, sondern sie tat es, um ihre Bomber im Hinblick auf den bevorstehenden zweiten Weltkrieg zu testen. Der Erfolg wurde gefeiert: die Stadt stand in Flammen und endete in Schutt und Asche.
Der Schande nicht genug. Als die Welt die Aussage des Gemäldes begriff, versuchten Franco und Hitler, des Bildes habhaft zu werden. Aber es war zu spät. Der Künstler war zu bekannt. Franco versuchte, den Maler herunterzureden und Hitler bezeichnete das Werk als entartet (wussten Sie eigentlich, dass der ‚Führer’ sich in der Malerei versucht hat und gerne als Künstler gesehen wurde?). Jedenfalls fand das Werk im Anschluss an die Weltausstellung keine Bleibe und musste sich auf eine Reise durch Nordeuropa und schließlich nach Amerika begeben. Erst nach Francos Tod fand es seine eigentliche Heimat im Museum Reina Sophia in Madrid.
Jetzt, lieber Leser, denken Sie: Das ist alles Schnee von gestern und hinlänglich bek annt. Ja, Sie haben Recht, aber ... Jetzt kommt das große Aber. Am linken Rand des Bildes hat der Künstler den Aufschrei einer verzweifelten Frau mit einem toten Kind im Arm dargestellt. Die Frau verrenkt sich erbärmlich nach hinten, wo sie unter dem Kopf eines Stiers Schutz sucht, eines wilden Tieres, das als männliches Prinzip die Schrecken des Krieges verursacht hat.
Nun, ich will hier nicht debattieren, welche Beziehung Frauen zur Gewalt haben. Ich bin keine Psychologin. Mir geht es nur darum, darzulegen, dass das Motiv der schreienden und weinenden Frau sich in den Jahren nach ‚Guernica’ verselbständigt hat. Aus nicht ganz klaren Gründen hat der Künstler diese Frauengestalt immer wieder und in unzähligen Variationen gemalt. Ja, der Maler hatte seine Probleme mit Frauen. Ja, er hat seine Affären nicht immer stilvoll beendet. Ja, seine Geliebten haben geweint. Aber nein, es geht nicht nur darum. Es geht um etwas Größeres.
Die Sonne neigte sich zur Seine und versetzte die Stadt der Liebenden in einen rötlichen Schimmer. Im Park vor der Kathedrale schalteten sich die Laternen an. Der Wind trug einen Schwall Feuchtigkeit herbei. Ich begann zu frösteln. Im Bann der Zeilen Lea Varandas hatte ich die Zeit vergessen.
In meinem Kopf kreisten die Gedanken wie einst die Bomber über Guernica. Ich war erstaunt, dass die Autorin, die sich als Kunsthistorikerin bezeichnete, nicht wissenschaftlicher vorgegangen war. Das Buch war ein Pamphlet voller Emotionen. Ihre Zeilen waren derart von Wut geprägt, dass man sie als Abrechnung empfand. Aber mit wem wollte sie abrechnen? Doch wohl nicht im Jahr 2010 mit Franco und Hitler. Ich hatte den Eindruck, dass es der Verfasserin eher um eine spezifisch weibliche Forderung ging. Um eine Stimme, die anklagt, aber nicht gehört wird. Um einen unterdrückten Schmerz. Es schien, als sei der Autorin Unrecht widerfahren, als sei sie selbst eine Leidende, eine ‚Weinende Frau’.
Der Maler hatte sein Gemälde in den Dienst des freiheitlichen Gedankenguts der spanischen Republik gestellt und war nicht davor zurückgeschreckt, dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen. Mit dem stummen Schrei der Frau in seinem Werk hatte er nicht nur das Leiden als Folge der männlichen Gewalt angeprangert, sondern dem Bild eine persönliche Note gegeben. Er hatte das Leiden als Attribut der Weiblichkeit dargestellt. Es war offensichtlich, dass Varanda ebenfalls persönlich betroffen war. Die Autorin rang um Fassung, schien sich mit der nach Gerechtigkeit schreienden Frau auf dem Gemälde zu identifizieren. Sie entsetzte sich über die groteske Verrenkung, durch welche die schmerzgeplagte Gestalt dem Tier ihre Unterwerfung anbot. Sie beklagte die Gewalt, als hätte sie sie am eigenen Leib erfahren.
In der Abenddämmerung schlenderte ich zur Rückseite der Kathedrale und überquerte die Brücke zur Insel Saint-Louis. Der Pont Louis Philippe führte mich zum Hôtel de Ville und in das Gassengewirr nördlich der Rue de Rivoli. Es war, als könnten meine Schritte den Weg aus dem Labyrinth meiner Gedanken finden.