Читать книгу Das Tagebuch der weinenden Frau - José Luis de la Cuadra - Страница 13
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ОглавлениеAber es war nur ein Verdacht. Der Maler hatte die meisten Bilder mit dem Motiv der ‚Weinenden Frau’ im Jahr 1937, nach der Weltausstellung in Paris, gemalt. Ob im besetzten Paris weitere Bilder zu diesem Thema entstanden waren, wusste ich nicht. Ebenso unsicher war, ob es sich bei dem Gemälde im sevillanischen Patio überhaupt um das Werk handelte, das der SS-Obersturmbannführer dem Künstler entwendet hatte?
Wären Sie, lieber Leser, nicht auch misstrauisch, wenn Ihnen jemand erzählte, ein berühmter Maler, der in Paris durch die Gestapo gegängelt wurde, habe einem Gefolgsmann Hitlers eines seiner Werke geschenkt? Und die Bemerkung über Franco und die Deutschen, die verbündeten Intimfeinde des Malers ..., nein, es war zu viel, unmöglich, darüber hinwegzusehen. Nur, w ie konnte ich den Weg des Bildes, von der Wohnung Picassos bis in den Patio in Sevilla nachverfolgen? Sie erraten es: ich brauchte Namen.
Also wandte ich mich nochmals an das Archivo Municipal Málagas. Sie gaben mir eine Liste mit sage und schreibe 1127 Namen von Naziflüchtlingen, die nach der Niederlage Hitlers um Aufnahme ersucht hatten. Während Wochen war ich damit beschäftigt, die Aufstellung deutscher Namen zu studieren und mir Gedanken darüber zu machen, wie mich das weiterführen könnte. Ich wusste, dass viele Flüchtige zur Tarnung ihre Namen geändert hatten. Das Problem war, dass ich die Kriterien, nach welchen die Änderungen vorgenommen wurden, nicht kannte. Kaum jemand würde sich vollständig von seinem früheren Namen trennen, vermutete ich. Irgendeine Ähnlichkeit musste beibehalten werden, damit sich der Betreffende mit der neuen Identität zurechtfinden konnte. Also stellte ich Namensgruppen zusammen und verglich sie mit Anschriften im sevillanischen Telefonverzeichnis.
Gerade als ich aufgeben wollte, als sich in meinem Kopf alles zu drehen begann, fiel mir einer der 1127 Namen plötzlich auf: Heinrich Lehmberg. Er schien mir in irgendeiner Weise vertraut. Und dann dämmerte es mir. Ich übersetzte den Namen ins Spanische. Der Samen des Misstrauens, der nach meinem Besuch bei Maria Nieves in mir zu keimen begonnen hatte, entwickelte sich zum ausgewachsenen Schrecken. Es war Enrique Montebarro. Barro stand für Lehm, Monte für Berg, Enrique war Heinrich. SS-Obersturmbannführer Heinrich Lehmberg war nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht aus Paris geflohen. Wohl wissend, dass er in Spanien Aufnahme finden würde, gelangte er über Málaga nach Sevilla, änderte seinen Namen und gründete die Steinbruchfirma Montebarro Industries, möglicherweise zusammen mit anderen Naziflüchtlingen.
Die ‚Weinende Frau’, auch wenn ich es nicht beweisen kann, war kein Geschenk. Das macht einfach keinen Sinn. Picasso hasste Franco und er hasste Hitler. Das Gemälde musste unter Androhung von Gewalt oder Deportation erpresst worden sein. Es war Kunstraub.
Nun, lieber Leser, jetzt wissen Sie es: mein Buch ist keine kunsthistorische Abhandlung, sondern eine Anklageschrift. Es geht nicht nur um die unrechtmäßige Entwendung eines Bildes durch einen Nazischergen, es geht um die grausame Symbolik, die in diesem Kunstraub steckt. Montebarro hatte die Arroganz, nicht irgendein Bild in sein zweites Leben hinüberzuretten, sondern ausgerechnet das Hauptmotiv des Gemäldes, welches wie kein anderes, die Verbrechen der deutschen Wehrmacht anprangerte: Elend und Verzweiflung nach der Bombardierung Guernicas durch die Legion Condor im spanischen Bürgerkrieg.
Ja, dieses Buch muss gelesen werden. Die ganze Welt soll wissen, dass die Missachtung der Menschlichkeit keine Grenzen kennt. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht näher erklären kann, steht mir nur dieses eine Buch zur Verfügung, um meine Schreie hörbar zu machen. Es liegt an Ihnen, liebe Lesende, meiner Stimme den nötigen Nachdruck zu verleihen. Sie wissen nicht, wer ich bin? Eines sollen Sie wissen: Ich bin eine von ihnen, ich bin eine weinende Frau.
Ein Liebespärchen umarmte sich innig, als ich das Buch beiseitelegte und über den Quai blickte, wo Jugendliche am Seineufer ihre Flanierrunden drehten. Die Strahlen der Abendsonne tanzten auf den Wellen des Flusses. Die Laternen der Brücken waren bereits eingeschaltet und schaukelten im Takt der aufkommenden Brise. Notre Dame, auf der gegenüberliegenden Seite, wachte stolz über das bunte Treiben in der Stadt. Hier gab es keine Regeln. Das Leben gehorchte den Launen seiner Einwohner. Sie pflegten ihre Sehnsüchte und Träume, huldigten dem Charme und der Leichtfüßigkeit, die ihnen von Natur aus gegeben waren.
Wie ein Film zog die verführerische Stimmung auf dem Quai an mir vorbei, ohne meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Schreie Varandas dröhnten in meinem Kopf. Wenn die Ausführungen der Autorin zutrafen, gab es Grund zur Sorge. Die Frau hatte eine Anklage verfasst, um ihre geballte Wut in die Welt hinauszuposaunen. Was trieb sie an? Welche Beziehung hatte sie zu Montebarro, auf den sich ihr ganzer Hass konzentrierte? Gab es den Großindustriellen überhaupt, oder entsprang er ihrer Fantasie? Bezog sich die unerträgliche Wahrheit ausschließlich auf Guernica, oder gab es noch eine andere Wahrheit, die sich hinter den Worten verbarg? Hatte diese andere Wahrheit mit dem Notizzettel im Buch zu tun?
Ich musste die weinende Frau finden, wer immer sie war, wo immer sie sich befand. Mit dem Buch und der Nachricht Laura Bascasas unter dem Arm verließ ich den Quai. Ich überquerte die Brücke zur Kathedrale, setzte mich im Innern des Gotteshauses auf eine Bank vor dem Chor und betrachtete die Mutter Gottes mit dem toten Christus in den Armen. Sie war nicht nur die weinende Frau der Bibel, sondern auch des Gemäldes ‚Guernica’. Dasselbe Motiv, dieselben Tränen. Das Sinnbild einer Weiblichkeit, die den Schmerz der Welt in sich trägt. Wie hatte es Olivia formuliert: Das Leiden der Frau als moralisches Gewissen der Menschheit?
Als ich aus der Kathedrale trat, war es Nacht. Nebel lag über der Seine. Kühle Feuchtigkeit schlich über den Quai. Ich zog den Schal enger um den Hals. Morgen würde ich die trockene Hitze von Madrid genießen. In diesem Augenblick fühlte ich die Vibration meines Handys. Auf dem Display stand: Olivia. Ich öffnete die SMS: Ich wünsche Ihnen eine gute Reise. Wir sehen uns. O.
Merkwürdig. War es wirklich Zufall, sie getroffen zu haben?