Читать книгу Eine Faust-Sinfonie - José Luis de la Cuadra - Страница 8
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ОглавлениеDu wirst, mein Freund, für deine Sinnen in dieser Stunde mehr gewinnen als in des Jahres Einerlei.
(MEPHISTOPHELES, Faust: Der Tragödie erster Teil)
Rom
2015, Eine Taverne in Trastevere
Die Dunkelheit der Nacht schlich wie eine Katze durch die enge Türe des rauchgeschwängerten Raumes. Einzelne mit Kerzen bestückte Kandelaber reflektierten feine Muster an die Steinwände. Lichtfetzen entwichen den Flammen und tanzten über den Tischen und Stühlen der Schenke. Auf dem Tresen stapelten sich Flaschen, Gläser und rauchende Glimmstängel. Der korpulente Barkeeper mit Schnauzbart und knolliger Nase ließ das Bier aus der Zapfsäule sprudeln. In seinem Mundwinkel hing eine längst erloschene Zigarette. Von draußen drang Gassenlärm herein. Ein fast beängstigendes Zeugnis fröhlichen Treibens.
Ich saß zuhinterst in der Weinschenke an einem kleinen Tisch. Meine Hand umfasste krampfhaft ein Glas rubinroten Liutprando 2007 aus dem Latium. Seine volle und saftige Note entfachte ein sanftes Begehren in mir und trübte meine Sinne. Die Gedanken in meinem Kopf kreisten wild und ließen mich schwindlig werden. Ängste, die in mir tobten, trieben mir kalten Schweiß aus den Poren. Die abgründige Stimmung in diesem finsteren Gewölbekeller Roms verstärkte das Unbehagen, welches meine Entscheidungen in mir hervorgerufen hatte. Die Trunkenheit, eine Folge des schweren Weines, konnte der Furcht, die seit der Ankunft in der heiligen Stadt in mir steckte, nicht Herr werden.
Am 27. Mai 2015 hatte ich beschlossen, mein Leben als anerkannter Wissenschaftler zu verlassen. Ein unbefriedigendes und unergiebiges Dasein, vollgepackt mit Zwängen und Verpflichtungen, eine unaufhörliche Suche nach dem Sinn meiner Ziele. Gefesselt durch die Stränge des gutbürgerlichen Lebens, erstickt in gesellschaftlichen Normen und abgestumpft durch die Monotonie des Alltags, wollte ich ausbrechen und die verborgene Seite meiner Existenz an neuem Ort entdecken.
Warum Rom? Ich kannte die Stadt von früheren Reisen. Für mich war sie eine Drehscheibe menschlicher Rastlosigkeit, eine Schnittstelle der Begegnungen, Kulturen und Künste. Sie strahlte Begehrlichkeit und sinnliche Befriedigung aus. Zudem stand sie im Spannungsfeld der kirchlichen Macht, des Vatikans. Sie schwankte zwischen Erhabenheit und tiefster Verderbtheit. Ein idealer Ort, um die eigenen Widersprüche zu erkennen, sich von Verstrickungen und Abhängigkeiten zu lösen.
Die Zweifel an der Richtigkeit meines Ausbruchs aus dem Käfig, den ich mir selbst gebaut hatte, führten mich jedoch immer tiefer in eine neue, mir bisher unbekannte Abhängigkeit, diejenige der Trunksucht. Sie war ein Zeichen meiner ungeahnten Schwäche und bedeutete nichts anderes als die Unfähigkeit, mich außerhalb schützender Gesellschaftsnormen zu behaupten. Gequält von fremdartigen Visionen griff ich immer häufiger zur Flasche. Welcher Teufel hatte mich dazu gebracht, mein bisheriges Leben zu verlassen?
Hast du mich gerufen?
Wen soll ich gerufen haben?
Mich.
Den Teufel?
Nenn mich, wie du willst.
Bist du der wahrhaftige Teufel?
Wenn du es zulässt.
Wie gelähmt blickte ich mich um. Woher die Stimme?
Ein älterer Herr in schwarzer Soutane und weißem Kollar hatte sich zu mir an den Tisch gesetzt. Er blickte mich an.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche. Sind Sie fremd hier?“
„So könnte man es nennen. Nicht nur fremd in dieser Stadt, sondern fremd vor mir selbst.“
Ich sah die Umrisse des Geistlichen verschwommen, seltsam verzerrt. Wer sprach die Worte? Halluzinierte ich unter Alkoholeinfluss?
Bist du das, Teufel, versteckt in einer Soutane?
Was glaubst du denn?
Es könnte ein Geistlicher sein.
Na und? Schließt das den Teufel aus?
„Wer sind Sie, Monsignore?“
„Ich bin ein Priester der Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu, ich bin Jesuit und Kardinal am Apostolischen Stuhl.“
„Soll ich das glauben? Ein Pater in dieser Spelunke? Es scheint mir mehr als seltsam, einen katholischen Priester an einem so profanen Ort anzutreffen.“
„Das Unheilige, die Orte der Finsternis sind Teil meiner Welt. Aber ich muss mich entschuldigen. Komme ich ungelegen? Ich dachte nur ..., nun, Sie machen einen verzweifelten Eindruck. Ich würde wetten, dass Sie in einer Krise stecken. Könnte es sein, dass Sie sich hier in Rom nicht zurechtfinden?“
„ Mischen Sie sich immer in die persönlichen Angelegenheiten von Leuten ein, die Sie nicht kennen?“
„Nun, ich bin Priester. Die Hingabe zu meiner Berufung leitet mein Tun. Auch wenn ich als Vertreter der kirchlichen Institution nicht immer fehlerfrei handle, so bin ich doch für Vieles nützlich. Ich kann Ihnen helfen.“
Ich traue diesem Herrn nicht.
Du solltest dich mit ihm anfreunden.
Ich kenne ihn nicht.
Das ist es ja. Du musst ihn kennenlernen.
Habe ich nicht schon genügend Probleme?
„Ich brauche Ruhe, Monsignore. Bitte lassen Sie mich allein. Ich komme selbst zurecht.“
„Das ist Ihre Sicht der Dinge. Menschen neigen dazu, sich zu überschätzen. Dabei entgleitet ihnen oft die Kontrolle.“
Der Priester ging mir allmählich auf die Nerven. Was wollte er von mir? Ich hatte mich entschlossen, ein anderes Leben zu beginnen und wollte das durchstehen.
In diesem Augenblick brach die Welt über mir zusammen. Erinnerungen prasselten auf mich herunter wie Peitschenhiebe: Wie ich zu Hause mit dem Revolver in der Hand dasaß. Der Blick meiner Frau, die mich ertappt hatte. Der Wutanfall. Der Kontrollverlust. Das Wort Trennung. Die Tränen in den Augen meiner Partnerin. Der Entschluss, alles hinter mir zu lassen, zu zerstören, was ich mir aufgebaut hatte, Beruf, gesellschaftliche Stellung, Familie.
Hatte ich den richtigen Weg gewählt? War das Ungewisse wünschbar? Wo war das Tor der Erkenntnis? Auf der anderen Seite der Welt? Konnte ich das Unvorstellbare finden? Welche Kraft in mir hatte mich dazu getrieben, den Hafen meines sicheren Lebens zu verlassen?
Ich, natürlich.
Teufel?
Du rufst mich schon wieder?
Es scheint, du verfolgst mich.
Das will ich meinen.
Hatte ich als Forscher und Mensch versagt? War das biologische Gerüst jeglichen Lebens, waren diese seelenlosen Eiweißstränge aus Nucleinsäuren eine Fiktion meines Geistes, Strukturen für die Projektion von Trugbildern?
Elender Zweifler, ich glaube, ich kann dir wirklich nützlich sein.
Kannst du mir nützlicher sein, als ich mir selbst?
Blödmann. Ich bin doch ein Teil von dir.
Jetzt reicht’s.
Ist es so schwer, die Hilfe seines Schattenmanns anzunehmen? Ich
bin dir näher als du glaubst.
„Sie haben Recht. Der Wein vernebelt meine Sinne. Er macht mich überheblich. Ich kann mich tatsächlich nicht rühmen, mein Leben im Griff zu haben.“
„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, mein Herr. Erlauben Sie mir, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich kann Sie auf Ihrer Romreise begleiten, gewissermaßen als Gesellschafter oder Freund. Ich werde Sie zu den Geheimnissen dieser Stadt führen, zu ihrer Schönheit und Sinnlichkeit, zu einem Leben, das Ihnen bisher verschlossen blieb.“
„Ihr Angebot tönt verlockend. Aber meiner Meinung nach ist es unvereinbar mit der Gesinnung, die von einem Würdenträger des Bistums Rom erwartet wird, Monsignore. Sie scheinen mit einem Fuß in einer anderen Welt zu stecken. Ich frage mich, warum Sie mir als Priester zur Sinnlichkeit raten. Nein, ich glaube nicht, dass dies mein Weg sein sollte.“
„Wie Sie meinen, aber mein Angebot bleibt. Erlauben Sie mir also, mich zu verabschieden. Ich bin übrigens Monsignore Diabelli.“
„Sehr erfreut. Ich bin Professor Hannes Georg von der ETH Zürich.“
Der Priester lächelte, erhob sich und verließ das Lokal. Er hinkte leicht. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Fuß.
Das wirst du bereuen.
Schweig.
Unwillentlich griff ich zum Glas Rotwein.
Monsignore Diabelli? Ein komischer Kauz. Sprach zu fremden Menschen und biederte sich als Freund und Begleiter an. Er wollte mir zu Schönheit und Sinnlichkeit verhelfen. Wollte ich das nicht? Nun ja, eigentlich schon. Es war mein innerster Wunsch, das Ziel meiner Flucht aus der Verantwortung meines früheren Lebens. Ich wollte eine neue Dimension des Lebens erfahren. Triebhaftes mit Genuss verbinden. Mich der Essenz der menschlichen Existenz hingeben.
Monsignore Diabelli? Ein Jesuit, ein Anhänger der strengsten katholischen Lehre, ein Sektierer mit Machtinstinkt, ein Verschwörer. Ein Verführer? Mein Retter in der Not?
In Gedanken versunken blickte ich mich in der düsteren Taverne um. An der Bar saß eine junge Dame, die Beine übereinander geschlagen, großzügiger Ausschnitt und weit hochgezogener Minirock. In der einen Hand ein Glas Sekt, in der anderen eine Zigarette. Ihr schwarzes Haar reichte bis weit über die Schultern. Sie blickte ständig zu mir herüber und schlug ihr Haar wiederholt über das Ohr zurück. Dabei sprach sie unaufhaltsam mit dem Barkeeper und gestikulierte mit den Armen. Mehrmals schwappte Sekt aus dem Glas. Schließlich erhob sie sich und blieb einen Moment neben dem Barhocker stehen, um die Zigarette auszudrücken. Sie fixierte mich mit verführerischem Blick. Dann, nach kurzem Zögern, näherte sie sich meinem Tisch.
„Seien Sie vorsichtig.“
„Wie bitte?“
„Ich möchte Sie vor dem Mann warnen, der zuvor bei Ihnen saß.“
„Wie meinen Sie das?“
„Er ist gefährlich.“
„Kennen Sie ihn?“
Sie trat nervös von einem Bein auf das andere. Ihr Busen wippte. Spürte ich Angst in ihrem Gebaren?
„Ja und nein, ich kenne ihn nicht persönlich. An meinem Arbeitsplatz ist er aber wohl bekannt.“
„Wo ist denn Ihr Arbeitsplatz?“
„Im Vatikan.“
„Höre ich recht?“
Spielte die Welt verrückt? Diese anzügliche und nicht gerade dezent gekleidete Dame sollte im Vatikan arbeiten?
„Sie haben mich richtig verstanden.“
„Und was tun Sie dort?“
„Ich stehe zu Diensten.“
Eine Kurtisane?
„Von welchem Dienst sprechen Sie“?
„Vom sexuellen.“
Sie fand das offenbar ganz normal. Mir wurde es langsam zu viel.
„Ich glaubte immer, in der Umgebung des Apostolischen Stuhls gelte das Keuschheitsgelübde.“
„Das glaubte ich auch einmal.“
„Was hat das Ganze mit dem Priester zu tun, der vorher bei mir saß?“
„Ich habe Kolleginnen, die ihm zu Diensten sind.“
„Und was geht mich das an?“
„Ich wiederhole, er ist gefährlich.“
Sie blickte unruhig um sich, zündete eine neue Zigarette an, drehte sich auf dem Absatz um und verließ eiligst das Lokal.
Zurück blieb der Professor, der Ausreißer, ich. Zurück blieb auch ein mulmiges Gefühl in mir. Ein Gefühl von Hilflosigkeit, von Ratlosigkeit. Nein, ich konnte nicht glauben, dass ein Kardinal offen über Sinnlichkeit sprach und eine Hure im Vatikan die Priester bediente. Natürlich wusste man von den Verfehlungen der Geistlichkeit, aber direkt damit konfrontiert fühlte sich das Ganze irgendwie klebrig an. Das einzig Gute war, dass ich von meinen Problemen abgelenkt wurde. In meinem Innersten widerhallte diese seltsame Stimme. Das wirst du bereuen. Mein Alter Ego? Warum warnte mich die Dirne vor einem sündigen Priester, der mein Freund werden wollte?
Irritiert griff ich schon wieder zum Glas. Da fiel mein Blick auf einen Prospekt, welchen der Jesuit offenbar auf meinem Tisch liegengelassen hatte. Ich muss zugeben, dass meine Hände zitterten, als ich nach der Schrift griff, vermutete ich doch eine unangenehme Botschaft Diabellis.
Erleichtert atmete ich auf, als ich feststellte, dass es sich bei dem Papier lediglich um ein Konzertprogramm des Auditoriums Parco della Musica handelte. Das RAI-Sinfonieorchester Roms spielte morgen die Faust-Sinfonie von Liszt. Als ausgesprochener Musikliebhaber und weil das Auditorium Parco della Musica sowieso auf meinem Besuchsprogramm stand, beschloss ich, mir eine Karte zu besorgen. Dieses monumentale Werk war praktisch nie im Konzertsaal zu hören. Es war zu schwierig in den Harmonien und erforderte ein immenses Orchester. War der Jesuit ein Musikliebhaber? Oder wollte er mir etwas mitteilen, mich auf seine Pfade lenken?
„Il conto!“ rief ich zur Bar hinüber, dann begab auch ich mich zum Ausgang der Taverne.