Читать книгу El Raval - José R. Brunó - Страница 10
MORD IN SERIE
ОглавлениеEs war Donnerstag, der achtundzwanzigste August, als das Telefon schon früh bei Pep schellte. Er hatte mal wieder einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, was diesen Lärm verursachte. Selbst Mutter Maria war zwischenzeitlich von dem minutenlangen Schellen des Telefons erwacht, obwohl es im Zimmer ihres Sohnes auf einem kleinen Nachtschränkchen stand. Seine Dienststelle war am Apparat.
»In der Carrer de la Riera Nummer zwölf ist eine weibliche Leiche gefunden worden«, sagte sein Kollege aus der Polizeizentrale. Deine Mitarbeiter sind auch schon informiert.«
Mit einem »de acuerdo« bestätigte Pep den Anruf und zog sich aufgeregt an.
Eigentlich sah er keine Notwendigkeit, sich zu beeilen. Er hatte diesen Moment nicht unbedingt herbeigesehnt. Pep spürte die Nervosität, die ihn überkam. Es war die zweite Leiche in seiner noch so kurzen Karriere und das innerhalb weniger Tage.
Die Carrer La Riera war nur einen Steinwurf von der Gasse entfernt, in der Pep zu Hause war.
Als er dort ankam, war bereits die gesamte Straße abgesperrt. Das Haus mit der Nummer 12 wurde wie immer von einer Menge schaulustiger Leute belagert.
Pep musste sich durch einen Wust von Polizisten und Gaffern kämpfen, um an den Fundort der Leiche zugelangen. Beim Betreten des Hauses kam ihm ein furchtbarer Gestank von Moder und Urin entgegen.
Im hinteren Bereich des schmalen Hausflurs, der zur Kellertreppe führte, hatte der Täter sein Opfer abgelegt. Auf der rechten Seite führte eine steile schmale Stiege in die darüberliegenden Stockwerke. Hier hatten die Kollegen von der Spurensicherung eine Lampe aufgestellt, um in dem dunklen Flur etwas sehen zu können.
Erstaunlicherweise waren bereits alle seine Kollegen vor Ort, die ihn mit einem fröhlichen »buenos dias« begrüßten. Laura Velasquez, die sich über die Leiche beugte, konnte es sich nicht verkneifen, ihn mit einem »buenos dias, Pep, auch schon da?«, zu begrüßen. Langsam wurde es ihm peinlich, dass er immer der Letzte war, der am Ort des Geschehens eintraf.
Pep überhörte Lauras Bemerkung und wandte sich ab.
Doktor Montes war bereits so gut wie fertig mit seiner Arbeit.
»Kannst du mir schon etwas sagen?«, fragte Pep den Gerichtsmediziner.
Doktor Montes lächelte und entgegnete: »Außer, dass sie tot ist und dass sie dort, wo sie jetzt liegt, nicht getötet wurde, kann ich dir im Moment nichts sagen. Schau dir mal da vorn die Blutspuren an der Wand an, da hat der Täter sie umgebracht.« Er wies mit der rechten Hand in den vorderen Bereich des Hausflurs.
»Und wieder der gleiche Täter?«
»Sieht so aus, Pep. Wie du unschwer erkennen kannst, hat er ihr die Kehle durchgeschnitten und sie mehrmals in die Brust gestochen.«
»Also haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun, der seinen Opfern erst die Kehle durchschneidet und dann noch unnötigerweise mit dem Messer auf sie einsticht.«
»Genauso ist es, Pep, aber das macht die Sache nicht besser«, sagte Montes mürrisch und wandte sich an seine Kollegin.
»Laura, lass sie in die Gerichtsmedizin bringen, wenn du hier fertig bist.« Montes steckte sich eine Zigarette an und entfernte sich wortlos vom Tatort.
Der Kollege Xavi war damit beschäftigt, sich die Namen einiger Leute zu notieren, die vor dem Haus neugierig wissen wollten, was dort im Inneren des Gebäudes passiert war.
Die alte Conchita, die betagte Ex-Hure, hatte sich natürlich auch schon eingefunden und wusste wieder mehr als alle anderen. Sie hatte bereits eine Traube von Menschen um sich geschart und war sich sicher, den Tathergang genauestens zu kennen.
Pep erkannte das Opfer sofort, obwohl der Leichnam sehr stark mit Blut verschmiert war.
»Das ist Melisa Agramontes«, bemerkte er kurz.
Laura Velasquez schaute ihn erstaunt an, ohne ein Wort zu sagen.
Die Blutspuren, die sich an der Wand im vorderen Bereich des Hausflurs befanden, waren zweifelsfrei von der Toten. Auf dem Boden im Eingangsbereich des Hauses lagen drei Zigarettenstummel der Marke Lola, die sorgfältig eingetütet und mitgenommen wurden.
Außerdem entdeckte Pep in der großen Blutlache im vorderen Bereich noch einige Fußspuren. Diese Spuren waren entweder vom Täter oder irgendeine Person war hier herumgetrampelt. Eine chaotische Situation. Pep bemerkte Leute, die sich Zugang verschafft hatten und die er nie zuvor gesehen hatte.
Laura Velasquez war die einzige, die die Lage im Griff zu haben schien. Pep kannte die Forensikerin als eine besonnene Kollegin, aber das sollte sich augenblicklich ändern.
»Wenn du nicht gleich dafür sorgst, Pep, dass die Leute verschwinden, die hier nichts zu suchen haben, schmeiße ich sie alle eigenhändig hinaus. Dies ist ein Tatort und kein Rummelplatz.«
Pep war so erschrocken, dass er umgehend tat, wie ihm geheißen wurde. Inzwischen schien Laura sich wieder beruhigt zu haben und wandte sich erneut ihrer Arbeit zu. Akribisch machte sie Fotos von den Fußspuren, die möglicherweise vom Täter stammen konnten.
Die Wände des Hausflurs waren bis zur Höhe von einem Meter fünfzig in einer hässlichen braunen Farbe gestrichen, an der auch schon der Zahn der Zeit genagt hatte. Die braune Farbe war an vielen Stellen bereits abgeplatzt und man konnte erkennen, dass die Wände einmal blau gewesen sein mussten. Laura hatte einige Stellen dieser Wand abgeklebt und suchte verzweifelt nach Fingerabdrücken.
Die Leiche war inzwischen abtransportiert und in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Laura hatte ihre Arbeit getan und packte ihre Utensilien zusammen.
»So, jetzt gehen wir erst einmal frühstücken«, sagte Pep und schaute die beiden am Tatort verbliebenen fragend an. »Und, was ist mit euch?«
Die Einladung sollte in erster Linie Laura gelten, die dem unerfahrenen Pep vor wenigen Augenblicken ein paar Worte gesagt hatte, die ihm sicherlich nicht gefallen konnten. Pep war anfangs etwas in seiner Eitelkeit gekränkt, aber er musste schnell erkennen, dass ihr Wutausbruch seine Berechtigung gehabt hatte. Er war der Verantwortliche am Tatort und hätte dafür Sorge tragen müssen, dass die Spurensicherung zunächst ihre Arbeit machen konnte. Eigentlich hatte er gelernt, dass niemand den Tatort zu betreten hatte, bevor die ›Spusi‹ nicht die vermeintlichen Spuren gesichert hatte. Das alles hatte Pep in seiner Aufregung außer Acht gelassen.
»Ich muss in die Forensik zurück, auf mich wartet noch ein Haufen Arbeit«, sagte Laura und entfernte sich.
Zurück blieben die beiden noch unerfahrenen Polizisten, die sich betont selbstbewusst gegeben hatten, wobei zumindest die aschfahle Farbe im Gesicht von Xavi etwas anderes andeutete.
Pep hatte sich dabei ertappt, dass er den Freund eine Weile am Tatort beobachtet hatte. Er war einmal mehr von der Gelassenheit seines Partners Javier Fernandez überrascht. Xavi versuchte, sich besonders cool zu geben, aber Pep kannte ihn besser: Das würde nicht spurlos an einem jungen Polizisten vorübergehen, der sich dafür entschieden hatte, im Dreck zu wühlen, obwohl er es gar nicht nötig hatte.
Pep musste an Xavis Vater denken, der durchaus in der Lage gewesen wäre, für seinen Sohn etwas Besseres zu finden. Javier Fernandez war intelligent genug, zu wissen, dass man mit ›Vitamina‹, wie man es nannte, alles machen konnte. Aber er wollte wohl sein eigenes Ding machen und außerdem schien er es zu mögen, mit Pep zusammenarbeiten zu dürfen. Für ihn war die Freundschaft zu seinem Kollegen Pep viel wichtiger als die Privilegien seines Vaters.
Die beiden entschieden sich für die Cafeteria Metro, die sich an den Ramblas del Raval befand.
*
Dem jungen Pep war eigentlich nicht nach Kaffee zumute, er spürte Traurigkeit und ein tiefes Mitgefühl für die Opfer. Seit seiner frühesten Jugend hatte er ein Faible für die Damen aus dem Milieu. Die Prostituierten hatten seine Kindheit geprägt.
Er hatte erkannt, dass man sich am besten bei den sogenannten Putas, den Huren, etwas Taschengeld verdienen konnte. Sie verdienten schnelles Geld und genauso schnell gaben sie es auch wieder aus. Zweidrittel der in El Raval lebenden Damen prostituierten sich und lebten vom Sextourismus der siebziger Jahre. Pep war im zarten pubertären Alter von dreizehn Jahren und dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan.
Alle Huren im Barrio Chino kannten den kleinen Pepito, den Sohn der Maria, der bereits im frühesten Kindesalter seiner Mutter im Geschäft helfen musste. Andere Kinder seines Alters begannen, die Touristen zu beklauen, die Frontscheiben der Autos zu reinigen oder zu betteln. Pep hatte sich für eine andere Variante entschieden. Er mochte die Damen aus dem Milieu und alle Huren waren geradezu vernarrt in den kleinen Zigeunerjungen.
Am liebsten waren ihm die Botengänge für Pilar. Sie war eine hübsche junge Hure mit langen schwarzen Haaren und üppigen Kurven. Sie war aus Andalusien, was man unschwer an ihrem Dialekt erkennen konnte.
Um etwas größer zu wirken, trug sie immer Schuhe mit hohen Absätzen und ein kurzes Röckchen über ihren wohlgeformten Beinen. Bei Pilar bekam er mal fünfundzwanzig, mal fünfzig Pesetas, wenn er für sie ein paar Besorgungen machte. Das war nicht wenig, eine Coca Cola, die er sich hin und wieder gönnte, kostete acht Pesetas.
Pilar wohnte in der Carrer Sant Martí, wo sie auch ihre Liebesdienste im ersten Obergeschoss anbot.
Er hatte sich schon einige Male heimlich gewünscht, einmal mit ihr die Stiege in den ersten Stock hinaufgehen zu dürfen. Klar waren fünfundzwanzig Pesetas viel Geld, aber hätte er nicht gerne mal auf das Geld verzichtet, wenn sie ihn einmal in die körperliche Liebe einweisen würde?
Diese Frage hatte Pep immer wieder verworfen. Er wusste, dass es diese Beziehungen‹ in ein paar Jahren nicht mehr geben würde. Erst einmal brauchte er Geld, um seine Bedürfnisse zu stillen und seiner Mutter nicht auf der Tasche liegen zu müssen und zum anderen hatte er sich im Laufe der Jahre einen beachtlichen ›Kundenstamm‹ aufgebaut, den er nicht verlieren wollte.
Zunächst begnügte sich der junge Pep mit ein paar Küsschen oder Umarmungen von Pilar und den Damen, für die er täglich Besorgungen machte.
Pep erinnerte sich an Maria Jesus aus der Carrer Sant Pau, seine ›Lieblingskundin‹. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt und hatte riesige Brüste. Maria Jesus war Mallorquinerin und ihr langes blondes Haar gefiel nicht nur ihm, sondern auch ihren Kunden. Im Barrio war sie auch bei allen anderen sehr beliebt. In dieser Zeit machte man hier keine Unterschiede. Es gab keine Standesdünkel und Hure zu sein war nichts Anrüchiges. Die Menschen, die hier lebten, waren die Außenseiter der Gesellschaft und dementsprechend war der Zusammenhalt unter den Bewohnern dieses Viertels. Hier zählte nur der Mensch. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun und man respektierte sich. Die Begrüßung zwischen der etwas korpulenten Hure und ihm war immer sehr herzlich: die in Spanien üblichen Küsschen auf die Wange und noch eine Umarmung. Sie pflegte ihn immer an ihre großen Brüste zu drücken. Das allein war schon einen Besuch bei ihr wert. Darüber hinaus gab es bei Maria Jesus, sofern die Geschäfte gut liefen, immer hundert Pesetas. Sie schickte den kleinen Pepito permanent in den nahegelegenen Mercat de la Boqueria, um Lebensmittel, frisches Obst, Gemüse und andere Dinge zu kaufen.
Sie zählte zu den Topverdienerinnen im Barrio und er wunderte sich immer über die Menge, die er für sie einkaufen musste. Ihre Geschäfte gingen gut und sie war dafür bekannt, dass sie ihre Stammfreier bekochte. Ein außergewöhnlicher Service, für den sie von ihren Kolleginnen neidisch belächelt wurde. In El Raval nannte man sie La Cocinera, die Köchin.
*
Es war inzwischen vierzehn Uhr geworden. Zu dieser Zeit machte sich Pep immer Gedanken, wo er zu Mittagessen sollte. Für heute war sein Bedarf gedeckt.
Es war mal wieder unerträglich heiß und die Temperaturen waren in der Mittagszeit auf achtunddreißig Grad Celsius gestiegen. Die Geschäfte waren geschlossen und wer nicht unbedingt etwas zu erledigen hatte, versuchte, der Hitze entkommen.
Xavi und Pep beschlossen, sich auf den Ramblas ein schattiges Plätzchen zu suchen. Hier wehte von Zeit zu Zeit ein schwacher Wind, den das Meer in die Allee trieb. Der Tag war ohnehin für sie gelaufen, sie hatten keine Lust mehr auf eine Streife durch das Viertel. Beide waren für heute bedient.
Am nächsten Morgen stand Pep schon früh auf. Er hatte die Nacht zuvor schlecht geschlafen. Da war die nächtliche Hitze, die ihm zu schaffen machte und der gestrige Vorfall ging ihm nicht aus dem Kopf.
Er fuhr schon früh auf die Jefatura und ihm fiel auf, dass das Auto von Xavi auch schon in der Garage stand.
Er bevorzugte es, mit dem eigenen Auto zu kommen, das er sich gerade gekauft hatte, obwohl er nur einige hundert Meter entfernt wohnte.
Als Pep das Büro betrat, saß sein Kollege gelangweilt hinter seinem Schreibtisch. Es war erst acht Uhr dreißig und so früh war er noch nie im Büro gewesen.
»Was machst du denn schon so früh hier?«, fragte Xavi erstaunt.
»Das gleiche könnte ich dich fragen«, sagte Pep und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Wir gehen gleich mal in die Pathologie und schauen, was der Doc sagt. Ich hoffe, dass Laura oder Montes uns schon etwas sagen können und außerdem muss ich noch beim Chef mündlich berichten.«
Es war inzwischen neun Uhr geworden und Pep hatte Xavi aufgetragen, mit dem Bericht zu beginnen. Das Schreiben auf der alten klapprigen Schreibmaschine beherrschte der Kollege Javier weitaus besser als er und so sollten diese unerfreulichen Berichte für Xavi zur allmorgendlichen für ihn Routine werden.
Pep war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, als die Bürotür ohne Klopfen aufgerissen wurde. In der Tür stand sein Chef Comisario Lopez, der wie immer schon sehnsüchtig auf einen Bericht seiner Beamten wartete.
›Na, zu dem muss ich dann ja wohl nicht mehr‹, dachte Pep.
»Da habt ihr ja eure zweite Leiche«, bemerkte Lopez zynisch und lächelte. »Wenn ihr was habt, möchte ich das sofort wissen, und bitte den Bericht von gestern.«
«Okay Chef, Javier Fernandez ist gerade dabei, den Bericht zu schreiben und dann werden wir sofort in die Pathologie fahren, um weitere Einzelheiten zu erfahren«, beruhigte Pep seinen Vorgesetzten.
»Ich hoffe, dass Laura oder Montes uns schon etwas sagen können.«
Lopez machte eine abwinkende Handbewegung und verließ wortlos den Raum.
Nach mehrmaligen Anrufen in der Pathologie sagte man ihnen, dass Doktor Montes sich zurzeit noch außer Haus befände und erst um elf Uhr zur Verfügung stünde. Um elf Uhr dreißig war der Doc immer noch nicht zurück.
Zunächst gingen Pep und Xavi zu Laura ins Labor, die damit beschäftigt war, Fingerabdrücke und sonstige Spuren auszuwerten.
Das Ergebnis war ernüchternd: Es gab keine. Der Täter hatte peinlich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Er hatte offensichtlich Handschuhe getragen.
Gerade dort hatte Pep sich etwas erhofft, weil er wusste, dass jeder Ausweis, jeder Pass und jede Aufenthaltsgenehmigung neuerdings mit einem Fingerabdruck versehen wurde. Somit waren Inhaber dieser Dokumente erkennungsdienstlich erfasst.
»Ich habe eventuell doch noch etwas für euch«, sagte Laura, »Fußspuren, die euch weiterhelfen könnten. Ich werde mal versuchen, herauszufinden, welchem Schuh das zugeordnet werden kann. Ich denke, dass ich richtig liege mit der Vermutung, dass das eine Art Sportschuh ist.«
Pep, der krampfhaft versuchte, eine Überleitung zu finden, um sich für den gestrigen Vorfall zu entschuldigen, nickte nachdenklich mit dem Kopf.
»Die Geschichte von gestern tut mir leid, Laura, soll nicht wieder vorkommen«, sagte Pep, dem es offensichtlich schwerfiel, diesen Satz über die Lippen zu bringen.
»Ist schon okay, Pep, ich möchte dich nur bitten, meine Arbeit in Zukunft zu respektieren.«
Laura wandte sich ab, während Pep noch eine Zeitlang in einer Art Schockstarre verharrte. Der unerfahrene junge Kriminalist hatte die Wichtigkeit der Forensik und die Tatsache, dass die Polizei eigentlich nur für das Grobe zuständig war, noch nicht erkannt. Für die Aufklärung eines Falles waren kleine Details von großer Bedeutung, wie Pep in seiner langen Karriere noch erfahren sollte.
Inzwischen war auch Doktor Montes eingetroffen, der die beiden Inspektoren schon erwartete.
Pep und Xavi betraten den großen Raum, der aussah wie ein Operationssaal. Das war das Reich des Pathologen Montes. Die Wände waren deckenhoch weiß gefliest und in der Mitte des Raumes stand ein großer Keramiktisch, der eigentlich nicht an einen Operationstisch erinnerte, sondern eher an eine Schlachtbank.
Über dem Tisch hing eine große Leuchte, die in den Operations-Sälen der Krankenhäuser verwandt wurden. Doktor Montes, der bereits alles für die Leichenschau vorbereitet hatte, steuerte auf den Tisch zu, auf dem ein Leichnam lag. Pep vermutete, dass sich unter dem weißen Tuch, das die Leiche bedeckte, Melisa Agramontes befände.
Der Doc hob das Tuch an und unter dem weißen Laken lag Melisa, die zu schlafen schien. Sie war vom Blut gereinigt worden und auf ihrer Brust war ein riesiger Y-Schnitt zu erkennen. Der Pathologe hatte die Leiche geöffnet und sie dann wieder fachgemäß zugenäht.
Eigentlich hatte sich Pep das alles viel schlimmer vorgestellt, er hatte etwas Angst vor diesem Augenblick gehabt. Ihn überkam ein Gefühl, das er nicht so recht erklären konnte. Es war einerseits ein Gefühl der Erleichterung, diesen Moment überstanden zu haben, anderseits übermannte ihn wieder große Traurigkeit.
»Wisst ihr schon, wer das ist?«, fragte der Doc.
»Das ist Melisa Agramontes. Sie stammt aus Calella.«
Doktor Montes schaute ihn fragend an und bemerkte, dass Xavi sich aus dem Raum entfernt hatte.
»Dem ist sicherlich etwas unwohl geworden, aber das ist nicht außergewöhnlich beim ersten Mal«, bemerkte Montes lächelnd.
»Diese drei Einstiche auf der rechten Brustseite waren nicht tödlich. Der Halsschnitt jedoch schon«, sagte der Doc, der auf den Schnitt wies, den er ebenfalls fachmännisch zusammengenäht hatte. »Der Schnitt wurde von rechts nach links ausgeführt, also hat der Täter hinter seinem Opfer gestanden. Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten und anschließend dreimal in die Brust gestochen«, berichtete Doc Montes.
»Merkwürdig, genau wie bei der Engländerin. Ihr erst die Kehle durchschneiden und ihr dann dreimal in die Brust stechen. Was macht das für einen Sinn? Ist das ein Ritual?«
»Das herauszufinden ist deine Aufgabe, Pep. Die Tat wurde eindeutig mit der linken Hand ausgeführt. Also haben wir es mit einem Linkshänder zu tun.
Außerdem muss er einen scharfen Gegenstand benutzt haben, das hätte ich mit meinem Skalpell nicht besser machen können.«
»Was glaubst du, was er benutzt hat, um ihr den Hals durchzuschneiden?«, wollte Pep wissen.
»Wie gesagt, ein Schlachtermesser oder ähnliches, auf jeden Fall eine scharfe Klinge.«
»Hast du irgendwelche Abwehrspuren feststellen können«?
»Ich denke, dass sie keine Chance gehabt hat, sich zu wehren. Das Einzige, was wir finden konnten, war schwarzer Dreck unter ihren Fingernägeln und in ihrer Handfläche. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Dreck vom Täter stammt.«
»Ist sie vergewaltigt worden oder hatte sie vor ihrem Tod noch Verkehr?«
Doktor Montes lachte lauthals. »Soll das ein Witz sein? Die hatte vor ihrem Tod einige Male Verkehr. Ich dachte, das war ihr Job?«
»Okay Ramon, du hast recht und ich denke, ich sollte mich jetzt mal um meinen Kollegen kümmern.«
Pep bedankte sich höflich und verließ die Pathologie, um nach seinem Freund zu sehen, der mit blassem Gesicht draußen auf ihn wartete. Zwei Tage so kurz hintereinander eine Leiche zu Gesicht zu bekommen war für Xavi offensichtlich zuviel.
Er wollte gerade anfangen, sich zu entschuldigen, als ihm sein Kollege Pep beruhigend die Hand auf die Schulter legte.
»Lass man, Amigo, mir erging es auch nicht viel besser als dir. Aber da muss man durch.«
Pep berichtete Xavi auf dem Weg in die Jefatura von den Untersuchungen des Pathologen. Die Untersuchung hatte zwar keine neuen Erkenntnisse ergeben, aber immerhin hatte Montes die Linkshänder-Theorie bestätigt.
Es war inzwischen zwölf Uhr fünfundvierzig geworden und Pep entschloss sich, noch einmal bei seinem Chef vorbeizuschauen. Lopez konnte es nicht ertragen, wenn er nicht auf dem Laufenden war.
Xavi war inzwischen damit beauftragt, die Kollegen in Calella anzurufen, um den Wohnort der Angehörigen von Melisa herauszufinden.
Pep betrat das Amtszimmer von Lopez und berichtete in kurzen Sätzen von den neuesten Erkenntnissen der Gerichtsmedizin.
»Montes hat mir versprochen, Ihnen so bald wie möglich den Abschlussbericht zukommen zu lassen, Chef.«
»Nun gut, weißt, du wer das Opfer ist?«, wollte Lopez wissen.
»Ihr Name ist Melisa Argramontes und soviel ich bisher weiß stammt sie aus Calella.«
Lopez schaute Pep eine Weile nachdenklich an.
»Hatte sie Ausweispapiere dabei oder wie hast du das erfahren?«, fragte er neugierig.
»Ich komme aus El Raval, Chef, schon vergessen? Ich kannte sie, sie arbeitete in meiner Nachbarschaft«, bemerkte Pep ironisch. Wir werden noch heute versuchen, die Angehörigen zu ermitteln, um sie zu benachrichtigen.«
»Okay, raus jetzt und viel Erfolg«, sagte Lopez und schob seinen Ermittler zur Tür hinaus.
Die Kollegen in Calella hatten inzwischen ermittelt, dass in der Carrer de Jovara Nummer 217 in Calella eine Melisa Agramontes gemeldet war, obwohl es eine absolute Meldepflicht zu diesem Zeitpunkt in Spanien nicht gab und es somit immer etwas schwierig war, Personen ausfindig zu machen.
Bei der Leiche hatte man ein Papier gefunden, das auf Melisa Francisca Agramontes Garcia ausgestellt war.
Eigentlich hätten die beiden Inspektoren diese unerfreuliche Arbeit auch den ortsansässigen Kollegen überlassen können, aber für Pep war es eine Herzensangelegenheit, weil er Melisa kannte. Sie war Kundin seiner Mutter und Pep hatte sich einige Male mit ihr unterhalten.
Seine Unerfahrenheit war der Grund dafür, dass er sich um diese Aufgabe riss. Pep und Xavi sollten die Erfahrung machen, dass das Überbringen einer Todesnachricht nicht zur Lieblingsbeschäftigung eines Kriminalisten gehört.
Als die beiden Beamten in Calella ankamen, war es bereits später Nachmittag. Es hatte eine Weile gedauert, die Carrer de Jovara und das Haus mit der Nummer 217 ausfindig zu machen. Pep und Xavi gingen die steile Stiege hinauf, um in die erste Etage des Hauses zu gelangen. Auf dem Treppenaufgang kam ihnen eine ältere Dame entgegen, die wohl um die sechzig Jahre alt sein mochte.
»Entschuldigen Sie Señora, wir suchen eine Familie Agramontes-Garcia«, sagte Pep.
»Da sind Sie bei mir richtig. Was wünschen Sie?«
Pep zog seine Polizeimarke aus der Hosentasche und stellte sich und seinen Kollegen vor. »Haben Sie eine Tochter, die Melisa-Francisca heißt und in Barcelona wohnt?«
»Ja. Was ist mit ihr? Sie arbeitet in einem Schuhgeschäft auf den Ramblas in Barcelona.«
Pep zog das bei der Leiche gefundene Foto aus seiner Jackentasche und zeigte es Melisas Mutter.
»Ja, das ist sie, das ist meine Tochter.«
Pep wusste in diesem Moment, dass die Familie keine Kenntnis von der Arbeit Melisas hatte. Er musste sich ein wenig sammeln, bevor er fortfuhr.
»Señora, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter in der letzten Nacht eines gewaltsamen Todes gestorben ist.«
Pep war erleichtert, dass die Nachricht ausgesprochen war, wobei es ihm unendlich leidtat, als er sah, wie die ältere Dame in sich zusammenbrach. Señora Agramontes war die Farbe aus dem Gesicht gewichen.
Xavi holte eilig einen Stuhl herbei und half Melisas Mutter sich zu setzen. Die leichenblasse Frau schien kurz davor, ohnmächtig zu werden.
Melisas Mutter schrie und weinte hemmungslos und Pep bemerkte, dass sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Es war das erste Mal, dass er eine Todesnachricht überbringen musste und eines wurde ihm schlagartig klar: Dies war ein absoluter Tiefpunkt in seiner bisher so kurzen Laufbahn.
Nach einer Weile hatte sich Señora Agramontes wieder halbwegs gefangen und begann Fragen zu stellen.
»Es tut uns leid Señora, wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen. Wir können Ihnen leider noch nichts sagen.«
»Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte und Sie können mich jederzeit anrufen. Ich schreibe Ihnen hier eine Adresse auf die Rückseite der Karte und möchte Sie bitten, sich zur Identifizierung Ihrer Tochter bei Doktor Montes zu melden.«
Die beiden Inspektoren glaubten, dass jetzt der Moment gekommen sei, sich zu verabschieden.
Xavi versuchte, der alten Dame noch ein paar tröstende Worte zuzusprechen, dann machten sie sich schleunigst aus dem Haus.
Auf der Rückfahrt sprach keiner der beiden ein Wort. Sicherlich hatten sich Pep und Xavi die Angelegenheit ein wenig einfacher vorgestellt und das nächste Mal würde man diese Arbeit nach Möglichkeit dann doch lieber den Kollegen vor Ort überlassen.
In Barcelona angekommen, es war bereits Abend geworden, fuhren die beiden sofort in ihr Viertel zurück. Die ersten Zeugen mussten verhört werden. Xavi hatte sich am gestrigen Morgen einige Namen von Nachbarn notiert, die sich großzügigerweise als Zeugen zur Verfügung stellen wollten. Diese galt es jetzt erst einmal ausfindig zu machen.
»Als Erstes werden wir uns mal die alte Conchita vornehmen. Die weiß immer alles, und wenn sie auch viel Blödsinn erzählt«, meinte Pep.
Die in die Jahre gekommene Conchi war schnell gefunden und wie immer sehr gesprächig.
»Ich habe so einige Freier gesehen, die bei ihr herumlungerten. Die Melisa hat einige Stammkunden gehabt«, sprudelte es aus ihr heraus.
»Kannst du uns einige Namen nennen?«
»Leider kenne ich einige auch nur flüchtig und kann dir nur sagen, wie sie aussehen. Die Melisa hatte immer den kleinen Friseur Bernardo aus der Peluquería in der Carrer Sant Pau zu Besuch und noch so einige Moros.«
Mit Moros waren die Nordafrikaner gemeint, die im Barrio Chino unter besonderer Beobachtung standen. In der Mehrzahl waren es Marokkaner, die aus den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta zugewandert waren.
»Der Sohn des marokkanischen Metzgers aus der Carrer den Robador lungerte hier am Abend auch herum, ich glaube der gehörte auch zu ihren Stammfreiern«, sagte Conchita mit einem neidischen Unterton.
»Wie spät war es denn, als du sie gesehen hast?«
»Es muss so um Mitternacht gewesen sein.«
Der Todeszeitpunkt, den Doc Montes aufgrund der Körpertemperatur ermittelt hatte, lag zwischen drei und vier Uhr.
»Die Tat ist in den frühen Morgenstunden geschehen, Conchi, eigentlich interessiert mich die Zeit nach Mitternacht.«
»Darüber weiß ich nichts, aber du solltest einmal den Cobrador de Frac befragen, der übernachtet manchmal bei ihr«, sagte Conchita schnippisch.
Cobradores de frac waren Schuldeneintreiber, die sich mit einem Frack bekleideten und einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf trugen. In ganz Spanien gefürchtete Männer, die von Amtswegen beauftragt waren, Schulden einzutreiben. Ihre schwarze Kleidung war kompromittierend und löste überall großes Aufsehen aus. Eine sehr merkwürdige aber wirksame Methode, Schulden einzutreiben. Die Scham war groß, und die Vorstellung, dass eines Tages der schwarze Mann vor ihrer Haustür stehen würde, machte einige Leute zu braven Zahlern.
Allerdings gab es da noch den Stadtteil El Raval, das Barrio Chino. Hier hatte sich seit einigen Jahren der Schuldeneintreiber nicht mehr sehen gelassen. Nicht nur, weil die Kinder schreiend hinter ihm herliefen und ihm die Luft aus den Reifen seines klapprigen SEAT gelassen hatten, sondern weil die kompromittierende Kleidung des Schuldeneintreibers absolut seine Wirkung verfehlte. Hier hielt sich die Scham, Schulden zu haben in Grenzen.
Pep schaute Conchita eine Weile an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Cobrador de frac? Jetzt ist es aber gut, Conchi, ich habe schon seit Jahren hier keinen mehr gesehen.«
»Der hat aber immer bei ihr übernachtet, wenn er hier in der Gegend war.«
»Und dann wartet er im Hausflur, um sie umzubringen? Was ist das denn für ein Blödsinn?«
Es sah so aus, als ob Conchita alle Leute anschwärzen wollte, die ihr irgendwann einmal zu nahe getreten waren und Pep hatte das Gefühl, die Konversation schleunigst beenden zu müssen. Die Einzigen, die es zurzeit zu verhören galt, waren der Friseur und der Fleischer.
Für die beiden noch unerfahrenen Inspektoren, die eigentlich noch gar keine Indizien hatten und vor einer schier unlösbaren Aufgabe zu stehen schienen, war eines bewusst, ein Motiv war nicht zu erkennen.
Hier war ein Serientäter am Werk, der sich wahllos unter den Huren eine aussuchte, um sie bestialisch zu ermorden. Er hatte wohl keine Beziehung zu seinen Opfern, er beraubte seine Opfer nicht und war an Sex nicht interessiert. Es war ein Albtraum, aus dem man nicht so schnell wieder erwachen sollte. Und eines war klar: Der Täter würde nicht aufhören zu töten, bis er gefasst würde.
Als die beiden Inspektoren am späten Abend den Friseurladen in der Carrer Sant Pau betraten, war der Salon noch voller Leute, die alle darauf warteten, frisiert oder rasiert zu werden. Die Türen und Fenster standen offen, um ein wenig Luft hineinzulassen. Es war außergewöhnlich warm und in dem kleinen Friseursalon roch es nach Tabak und billigem Rasierwasser.
Die Ventilatoren unter der Decke des Raumes wirbelten die stickige Luft durch den Raum und sorgten eigentlich nur wenig für Erfrischung. Die wartenden Kunden diskutierten heftig über Fußball.
Die Gespräche verstummten sofort, als die beiden Polizisten den Raum betraten. Jeder hatte so einiges zu verbergen und überhaupt, man wollte mit der Polizei nichts zu tun haben.
»Bernardo, wir haben was mit dir zu besprechen«, sagte Pep zu dem kleinen Mann, der eifrig damit beschäftigt war, einem Kunden die Haare zu schneiden.
»Worum geht es denn?«, fragte der kleine Friseur unschuldig und zugleich etwas nervös und legte den Zigarettenstummel, den er in seinem Mund trug, in einen Aschebecher.
»Das werden wir dir schon sagen. Entweder, wir nehmen dich jetzt mit oder du beantwortest mir jetzt sofort einige Fragen. Lass mal deinen Chef weitermachen und wir unterhalten uns draußen vor der Tür.«
Bernardo tat, wie ihm geheißen, und als er auf die Straße trat, stellte Pep fest, dass der Friseur mit seinem schmutzigen weißen Kittel noch kleiner war als er ihn in Erinnerung hatte.
Er mochte wohl kaum einen Meter sechzig groß sein und er konnte sich nicht vorstellen, wie der kleine Mann eine Frau wie Melisa umbringen könnte.
»Wann warst du am Mittwoch bei Melisa?«
Der kleine Friseur schaute den Inspektor verdutzt an. Er schien etwas verwundert, dass man schon herausgefunden hatte, dass er am Tatabend bei der Ermordeten gewesen war.
»Ich war in der Zeit von elf Uhr bis elf Uhr dreißig bei Melisa, ich habe sie nur eine halbe Stunde gesehen«, sagte Bernardo nervös. »Als ich ging, war sie noch munter wie ein Fisch.«
Er hatte sicherlich etwas zu verbergen, aber Mord, das war eine Nummer zu groß für den kleinen Friseur.
»Was rauchst du für eine Zigarettenmarke?«
»Ich rauche Ducados«, bemerkte Bernardo.
Der Friseur hätte zwar die Möglichkeit, mit einem scharfen Rasiermesser jemandem die Kehle durchzuschneiden, aber zum einen war er Rechtshänder und zum anderen konnte man mit einem Rasiermesser keine Stichverletzungen verursachen. Bernardo passte also nicht wirklich ins Täterprofil.
Eigentlich hatten die beiden Hurenmorde, die Vorgesetzten von Pep und Xavi nicht besonders beunruhigt.
Prostituierte lebten immer noch am Rande der Gesellschaft, und wenn man den Täter nicht gerade auf frischer Tat erwischte, wurden die Fälle ganz schnell zu den Akten gelegt. In der Vergangenheit kamen Kapitalverbrechen nicht an die Öffentlichkeit, weil es im ehemaligen Franco-Regime Verbrechen dieser Art nicht geben durfte. Solange kein öffentliches Interesse bestand, wurde gar nicht erst ermittelt. wollte.
Allerdings hatte sich die Situation ein wenig verändert Der Mord an Melisa Agramontes hatte es auf die erste Seite der Tageszeitung La Vanguardia geschafft. Die Medien waren der Meinung, dass der Bürger ein Recht habe, die Wahrheit zu erfahren. Die Tageszeitungen forderten endlich ihr Recht auf freie Berichterstattung und wollten selbstverständlich Details wissen. Pressekonferenzen wurden gefordert und denen, musste sich Lopez wohl oder übel stellen.
Es war mittlerweile einundzwanzig Uhr dreißig geworden und die beiden Inspektoren entschlossen sich, noch den Sohn des marokkanischen Metzgers zu verhören.
Sie betraten den Laden in der Carrer den Robador, der noch geöffnet war.
Es war gewöhnungsbedürftig, wie der Moro seine Produkte feilbot. An der Wand hingen einige größere Fleischbrocken, an denen sich bereits die Fliegen zu schaffen machten. Es schien Hammel oder Lamm sein.
Über dem Verkaufstresen hing eine Stange, an der auf einigen Haken Hühner zum Verkauf angeboten wurden.
Auf der Schulter des Marokkaners, der hinter dem Tresen stand, waren Bluttropfen, die wohl beim Hinüberbeugen über den Ladentresen von den Hühnern herabgetropft waren. Vor dem Tresen standen Frauen mit Kopftüchern, die noch auf die Bedienung warteten. Der Fleischer schien in diesem kleinen schmuddeligen Laden gute Geschäfte zu machen.
Die hygienischen Verhältnisse waren ein Fall für die Gesundheitsbehörde, aber das war eine andere Abteilung und deshalb war man auch nicht hier.
Die beiden Inspektoren zogen ihre Polizeimarken aus der Tasche und kamen sofort zum Punkt.
»Sie sind der Inhaber dieses Ladens?«, wollte Pep wissen.
»Ich habe jetzt leider keine Zeit, Sie sehen doch, dass ich noch Kundschaft habe«, sagte der Mann frech und verwies mit einer Handbewegung auf seine Kunden.
»Ich werde Sie gleich mit auf die Jefatura nehmen, dann haben sie die ganze Nacht Zeit. Und außerdem möchte ich mal Ihre Apertura, die Erlaubnis sehen.«
Der Fleischer zog jetzt etwas nervös und hastig seine Papiere aus einer Schublade hervor.
Die Dokumente schienen in Ordnung zu sein und Pep hatte längst festgestellt, dass der Mann, im Gegensatz zu vielen Muslimen, Rechtshänder war. Die Dokumente waren auf Hassan Maluó ausgestellt.
»Und Sie haben einen Sohn?«
»Ich habe drei Söhne, Señor, zwei leben in Sevilla und der älteste lebt in Barcelona bei mir.«
»Wie heißt Ihr Sohn und wo wohnt er?«
»Mein Sohn heißt genauso wie ich, Hassan Maluó, und ist seit ein paar Tagen verreist. Er ist einige Tage zu seinen Brüdern nach Sevilla gefahren.«
»Wann ist er denn gefahren und wann kommt er zurück?«, wollte Pep wissen.
»Er ist am Mittwochvormittag mit dem Zug gefahren und kommt morgen Abend zurück.«
»Zum Abschluss noch eine Frage: Rauchen Sie oder Ihr Sohn?«
Der Marokkaner verstand die Frage offensichtlich nicht und schaute den Inspektor erstaunt an.
»Ich rauche nicht, das verbietet meine Religion. Mein Sohn ist allerdings Raucher.«
»Und kennen Sie die Zigarettenmarke, die Ihr Sohn raucht?«
»Nein, leider nicht, aber Sie können ihn ja selber fragen, wenn er wieder da ist«, bemerkte der Fleischer. Eines war Pep sofort aufgefallen: Wie konnte der Moro Mittwochvormittag mit dem Zug nach Sevilla gefahren sein, wenn er am Abend von Conchita noch gesehen wurde? Entweder stimmte die Aussage der alten Conchi nicht oder der Fleischer log.
Xavi hatte sich alle Einzelheiten der Befragung akribisch aufgeschrieben und die beiden entschieden sich, die Ermittlungen am nächsten Tag fortzusetzen. Es war immerhin bereits dreiundzwanzig Uhr geworden.
Am nächsten Morgen schellte schon um neun Uhr das Telefon. Pep und Xavi waren gerade im Büro angekommen. Am Telefon war Laura, die Neuigkeiten hatte.
»Ich habe etwas zu den Fußspuren ermitteln können. Das Profil kann eindeutig einem Sportschuh der Marke Paredes zugeordnet werden«, sagte Laura stolz.
»Danke Laura, das könnte uns weiterbringen.«
Pep bedankte sich freundlich, obwohl er dachte, dass es in Barcelona sicherlich einige hunderttausende gab, die diese Sportschuhe trugen.
Inzwischen war auch Kommissar Lopez eingetroffen, der sich, wie immer, zunächst einmal den obligatorischen verbalen Bericht geben ließ.
Für das schriftliche Protokoll war Xavi zuständig, der sich dieser unerfreulichen Arbeit wie immer mit einer unglaublichen Akribie annahm.
Lopez war aufgefallen, dass die beiden etwas überarbeitet aussahen und brachte das mit einem »ihr solltet mal etwas früher ins Bett gehen« zum Ausdruck. Pep und Xavi konnten dem gut gemeinten Rat ihres Chefs, der sich eher nach Spott anhörte, nichts abgewinnen.
Pep hatte unlängst Doc Montes gefragt, wie er das Erlebte vom Tage verarbeite und Montes hatte gesagt: »Du musst lernen, den Dreck nicht mit nach Hause zu nehmen. Sonst bist du bald reif fürs Irrenhaus.«
Der Doc hatte sicherlich recht. In den letzten zwei Tagen war sehr viel passiert und die Bemerkung des Kommissars hatte sicherlich seine Berechtigung.
Beide mussten lernen, sich in Gelassenheit zu üben und sich nicht von Gefühlen leiten zu lassen.
Immerhin war nach Ansicht ihrer Vorgesetzten nicht viel passiert. Es waren ja ›nur‹ zwei Huren umgebracht worden.
Inzwischen hatte sich Xavi eine große Sperrholzplatte aus einer Tischlerei besorgt und diese an der Bürowand der beiden Inspektoren anbringen lassen. Auf diese Platte heftete er das Bild der Ermordeten. An den linken Rand schrieb er, was man inzwischen ermittelt hatte. Er versuchte, auf diese Weise eine Art Täterprofil zu erstellen. Pep war beeindruckt von der Kreativität seines Kollegen und froh, dass er jemanden hatte, der ihm diese Arbeit abnahm. Allerdings wussten die beiden unerfahrenen Polizisten auch, dass sie nichts Verwertbares hatten. Sie kamen sich vor wie zwei, die hilflos in einem Heuhaufen stocherten und nach der berühmten Stecknadel suchten.
Es waren Tage vergangen und die beiden Polizisten saßen sich einmal mehr nachdenklich gegenüber und schauten auf das von Xavi angefertigte Profil. Am nächsten Morgen fuhren die beiden Inspektoren in ihr Viertel, um weitere Verdächtige ausfindig zu machen.
Conchita hatte beiläufig etwas von dem Zigeuner Manolo erzählt, der täglich durch das Barrio Chino fuhr und seine Dienste als Scherenschleifer anbot.
Er fuhr ein altes Motorrad der Marke Bultaco, auf dem am hinteren Teil ein Schleifstein angebracht war. Angetrieben wurde das Gerät mit einem Keilriemen über das Hinterrad, welches aufgebockt werden konnte und mit laufendem Motor den Schleifstein zum Rotieren brachte.
Manolo kündigte sich immer mittels einer art Panflöte an, die so laut war, dass jeder im Viertel sofort wusste, dass der Scherenschleifer in der Nähe war. Die Leute kamen mit ihren Messern oder Scheren aus ihren Häusern, um sich diese von dem schmuddeligen Zigeuner schärfen zu lassen.
Der Zigeuner war dafür bekannt, dass er einen großen Teil seiner täglichen Einnahmen zu den Huren trug. Conchita hatte ihn wohl neidisch erwähnt, weil Manolo sich inzwischen den jüngeren Frauen zuwandte.
Ihn ausfindig zu machen war relativ einfach, man brauchte nur dem Gedudel seiner Flöte nachgehen.
Xavi und Pep mussten das Verhör auf der Straße führen. Sie konnten den Scherenschleifer auf keinen Fall auf die Jefatura mitnehmen, weil das zwangsläufig dazu geführt hätte, dass Manolo das Motorrad hätte stehen lassen müssen. Am nächsten Tag wäre der Mann garantiert arbeitslos gewesen, weil das Gefährt innerhalb kürzester Zeit seinen Besitzer gewechselt hätte.
»Hola Manolo«, begrüßte Pep den Scherenschleifer freundlich.
»Hola Pep.«
Der Scherenschleifer hatte sich bestimmt seit Tagen nicht gewaschen und seine Kleidung hatte sicherlich seit geraumer Zeit kein Wasser mehr gesehen. Sein Körpergeruch war so penetrant, dass Pep die Distanz zwischen sich und dem Zigeuner vergrößern musste.
»Wo warst du in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag?«
»Nee, Pep, damit habe ich nichts zu tun. Ich war bei meiner Familie zu Hause und bin schon früh schlafen gegangen.«
»Ich staune, dass du weißt, worüber ich mit dir reden will.«
»Ist doch klar, alle im Barrio reden nur über dieses Thema.«
»Kann jemand bezeugen, dass du zu Hause warst?«
»Auf jeden Fall kann meine ganze Familie das bezeugen«, sagte der Scherenschleifer.
Manolo wäre aufgrund der Werkzeuge, mit denen er täglich hantierte, sicherlich in der Lage gewesen, diese Tat auszuführen. Allerdings war er Rechtshänder und Zigarrenraucher. Wenn seine Familie bestätigen konnte, dass er in der Tatnacht zuhause war, und das würde sie mit Sicherheit tun, kam er als Täter erst einmal nicht infrage.
»Wann, hat der Moro gesagt, kommt sein Sohn zurück?«, fragte Pep.
Xavi zog seinen kleinen Schreibblock aus der Tasche, auf dem er alles aufschrieb, was ihm wichtig erschien.
»Ich meine, er hat heute Abend gesagt, wobei er keine Uhrzeit genannt hat.« Er ärgerte sich, nicht danach gefragt zu haben.
»Na gut, dann werden wir ihn heute Abend mal aufsuchen.«
Es war inzwischen einundzwanzig Uhr geworden und die beiden Polizisten hätten sich um diese Uhrzeit sicherlich etwas Besseres vorstellen können als irgendwelche Verdächtige zu verhören. Es war August und die Geschäfte waren bis dreiundzwanzig Uhr geöffnet, so auch das des marokkanischen Fleischers.
Als sie den Laden betraten, bemerkten sie, dass ein Mann mittleren Alters hinter dem Tresen stand. Er sah dem Mann sehr ähnlich, den sie am gestrigen Abend verhört hatten. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein und Pep erkannte sofort, dass er der Sohn des Fleischers war.
»Sie sind der Sohn von Hassan Maluó?«
»Das bin ich, und wer sind Sie?«, fragte der Mann höflich.
»Mein Name ist José Cardona«, sagte Pep und hielt ihm seine Polizeimarke unter die Nase.
»Sie werden mir jetzt mal sagen, wo Sie am Mittwochabend waren.«
»Ich bin am Mittwochmorgen mit dem Zug zu meinen Brüdern nach Sevilla gefahren.«
Der Mann drehte sich um und zog aus einer Schublade zwei Billetts, die Ähnlichkeit mit Flugtickets hatten.
Es waren die Hin- und Rückbillets der Renfe, der spanischen Eisenbahngesellschaft. Das war ziemlich eindeutig und zugleich ernüchternd für die beiden Polizisten.
Die Billetts waren auf Hassan Maluó ausgestellt und er hatte am Mittwoch den siebenundzwanzigsten um neun Uhr zwanzig seine Reise auf dem Bahnhof Estación Sants in Richtung Sevilla angetreten.
Der Mann war Linkshänder und zugleich starker Raucher, was man unschwer an seinen gelben Fingern erkennen konnte.
Pep vermied es bewusst, den Marokkaner nach seinen Rauchgewohnheiten zu fragen, weil es für ihn sicherlich ein Leichtes gewesen wäre, eine andere Zigarettenmarke zu nennen.
»Also hat der Moro auch ein wasserdichtes Alibi«, sagte Pep enttäuscht.
»Es sei denn, er hat klugerweise zwei Bahnbilletts gekauft und benutzt dieses auf den siebenundzwanzigsten August ausgestellte als Beweis«, sagte Xavi.
Pep war von der Theorie seines Kollegen überrascht und schaute ihn eine Weile an.
»Das könnte sein, aber für so schlau halte ich den Moro nicht und außerdem, wie sollen wir das beweisen?«, meinte Pep nachdenklich.
In den nächsten Tagen wurden noch einige Leute befragt, die für die Tatzeit ein Alibi hatten, oder zum fraglichen Zeitpunkt gar nicht vor Ort gewesen waren.
Pep und Xavi waren mit ihren Ermittlungen in eine Zwickmühle geraten, aus der es kein Entrinnen zu geben schien.
Comisario Antonio Lopez regte das alles nicht besonders auf. Er war aus einer Zeit, in der man Hurenmorde als Randnotiz zur Kenntnis genommen hatte. Wenn man den Täter nicht in flagranti erwischt hatte, wurde die Akte schnellstens geschlossen. Überhaupt war man in Sachen Polizeiarbeit nicht besonders fortschrittlich gewesen.
Fingerabdrücke versuchte man in tagelanger und mühsamer Kleinarbeit, den Tätern zuzuordnen. Man war schlecht ausgerüstet und es würde sicherlich noch Jahre dauern, um den europäischen Standard zu erreichen.
Die beiden Polizisten sahen das Ganze nicht so gelassen. Sie verspürten zwar keinen Druck von oben, aber immerhin wollten und brauchten beide den Erfolg. Sie waren ehrgeizig und wollten diesen Fall trotz ihrer Unerfahrenheit baldmöglichst zum Abschluss bringen.
Es waren bereits einige Wochen vergangen und man war wieder zur Normalität übergegangen. Im Barrio war, bis auf die Tatsache, dass die Huren sich ihre Freier jetzt besser anschauten, wieder alles beim Alten.
Allerdings hatten die Damen, die ihre Liebesdienste in Barrio Chino anboten, inzwischen Konkurrenz bekommen.
Es hatte sich eine Vielzahl von Südamerikanerinnen in Barcelona angesiedelt, die den alteingesessenen Huren mit einer schnellen Nummer hinter irgendeiner Hausmauer die Preise verdarben. Der Straßenstrich in El Raval war geboren.
Es war bei der Vielzahl an Ausländern schwer geworden, zu erkennen, wer sich legal und wer sich illegal im Lande aufhielt. Die Südamerikaner sprachen die gleiche Sprache und die geografische Lage der katalanischen Hauptstadt erlaubte es irgendwelchen zwielichtigen Gestalten, in El Raval Unterschlupf zu finden und genauso schnell wieder zu verschwinden. In dieser Zeit verstand man es bei der Polizei, die Situationen sehr pragmatisch zu lösen.
Wenn man einen Illegalen oder eine illegale Hure aufgelesen hatte, wurde dem Delinquenten ein wenig Wegzoll abverlangt und danach war er oder sie wieder frei. Es war immer noch alles käuflich, auch die Freiheit. Das sollte sich in naher Zukunft nicht so schnell ändern.
Die Inspektoren Pep und Xavi taten weiterhin ihren Dienst im Barrio und versäumten nicht, immer wieder Leute zu verhören, die eventuell im Zusammenhang mit dem Mord an Melisa Agramontes oder dem ersten Opfer, Helen Baker, etwas hätten aussagen können. Beiden war klar, dass sie es hier mit einer außergewöhnlichen Situation zu tun hatten. Ein Serienmörder hat keine Beziehungen zu seinem Opfer. Hier wurden die Opfer weder beraubt noch sexuell missbraucht, was die Sache nicht einfacher machte. Das einzige, was allen klar war, war, dass es bald wieder passieren würde. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis ihre Befürchtungen bestätigt wurden.