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I.

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un stand man, nach Frühstück und Brotfassung, seit Stunden schon vor den Baracken und wartete auf den Marschbefehl. Vor den Drahtzäunen und auf der Straße, vor dem Eingang zum Barackenlager, drängten sich hunderte, tausende Angehörige der Soldaten. Polizei war aufmarschiert und hielt in Gemeinschaft mit der verstärkten Lagerwache die unruhige Menge fern.

Transferierung! Ganz unvermutet, am späten Abend erst, war der Befehl gekommen. Die Landstürmer, die in Wien daheim waren, konnten noch einmal nachhause zu jähem, überraschendem, durch die Plötzlichkeit das Quälende dieser letzten Stunden peinvoll steigerndem Abschied. Die Deutschböhmen und die Mährer und die Tschechen, die keine Verwandten in Wien hatten, waren nach schmerzlichem Herumwälzen auf den schmutzigen, zerlegenen Strohsäcken in traumvollen Schlaf gesunken, knapp ehe der Weckruf durchs Lager gellte. Sie hatten in stummer Zwiesprach noch einmal Abschied genommen von Weib und Kindern, die sie vor vier Wochen verlassen, um ¬¬— Taugliche der dritten Nachmusterung — nach dem fernen Wien zu fahren. Denn Wiener waren auch sie, wenn sie auch der Stadt, aus der in längst vergessenen Zeiten ihre Ahnen ausgewandert, nicht innerlich verbunden waren. Die Väter oder sie selber hatten versäumt, das Heimatsrecht zu erwerben an den Orten, in die sie auf der Suche nach Erwerb geraten waren . . .

Die ersten Abteilungen sind auf der Straße. Ein wirrer Schrei begrüßt sie. Tausend Hände heben sich, winken, recken sich grüßend den Männern in den schleißigen, zerflickten Uniformen entgegen, den Männern, die kleine abgewetzte Kofferchen tragen oder auch nur schnurumwickelte Pakete. Sturzfluten von Zurufen überschütten sie. Kein Wort wird verständlich. Der Einzelruf wird verschlungen vom wildaufbrausenden Meer der Schreie der Liebe, des Schmerzes, des Bangens, der Freude über das letzte Wiedersehen, der Qual des letzten Abschiedes. Noch ist die Masse geschlossen, noch gilt ihr Ruf der Gesamtheit der Marschierenden — aber nun, da sich diese in langen Kolonnen auf der Straße vorwärts zu schieben beginnen, löst sich die Menge auf. Männer, Weiber, Kinder laufen neben den Marschierenden, laufen vor und zurück, Namen rufend, nach einem lieben Angesicht spähend.

Landsturmrekrut Dorniger stöhnt unter der Last seines Koffers. Ihm hilft niemand beim Tragen. Und er hatte nie so schwere Last geschleppt. Wie wäre ein Buchhalter dazu gekommen? Gab es etwas zu tragen, so nahm man sich einen Dienstmann. Er wechselt den Koffer von einer Schulter auf die andere, trägt ihn dann wieder ein Weilchen mit der rechten, mit der linken Hand — findet keine Art des Tragens, die weniger peinvoll ist. Warum man nicht mit der Straßenbahn fahren durfte? Welch ein Unsinn, zu so weitem, beschwerdevollem Marsch zu zwingen, zu einem Marsch mit den Koffern! So hatte er sich den Anfang nicht vorgestellt, so nicht!

Gegen das Marschieren hatte er nichts. Ein deutscher Turner ist das Marschieren gewöhnt. Aber mit einem so unbequemen Gepäck! Ganz schöne Strecken Marsches hatte es manchmal gegeben, wenn der Verein ausgerückt war. Aber da war man leichtbeschwingt marschiert, unbelastet, na ja, und keinem so ungewissen Ziel entgegen. Kein Mensch hatte ja eine Ahnung, wohin man getrieben wurde. Man stellt sich das Soldatenleben doch ein wenig anders vor, solang man es nicht kennt. War ich wirklich einmal so blöd, dass ich mich schämte, nicht dabei zu sein? Gar nicht so lang ist’s her. Wie die großen Siegesmeldungen aus Ostpreußen gekommen waren und wir einen Umzug gemacht haben, mit der Turnvereinsfahne voran, da war ich noch denen neidig, die beim großen Russentreiben mit dabei sein konnten. Na ja, ich hab mich ja dann abgefunden, und dann, wie die ersten Verwundeten heimgekommen, da war ich schon froh — aber zu sagen hab ich mich’s nicht getraut. Wär eine schöne Schande gewesen! Ein deutscher Turner, der den Krieg lieber nicht mitmacht! Und jetzt muss ich doch . . . jetzt marschier ich doch mit . . .

Schwerer wurde die Last. Tiefe rote Furchen schon hatte der eiserne Griff des Soldatenkoffers in seine Hände geritzt. Wund schon waren die Schultern. Dorniger wankte, sah sich vergebens nach Hilfe um — ach, es war ja jeder mit sich beschäftigt, mit seiner Last, mit seiner Qual, mit seinem Leid!

Aber nicht er allein war matt geworden. Waren ja alle „Scheißer“, die Landstürmer. Verdorben durch Berufs- und Familienleben — ja, und wenn sie etwas wert wären, dann hätte man sie doch nicht erst bei der dritten Nachmusterung genommen. Verächtlich schauten die Offiziere nach dem „Sauhaufen“. Nichts zu machen mit diesen Leuten, man musste ihnen eine Rast gönnen. Auf ihre Koffer ließen sich die müden Soldaten nieder, ihre Frauen, ihre Kinder kauerten neben ihnen.

Keuchend, die schmerzenden Hände auf den Oberschenkeln, hockte Dorniger auf seiner Last.

„Sö! — ja. Sö mit die Augengläser!“

Dorniger sprang auf, pflanzte sich salutierend vor dem Gefreiten auf, der nachdenklich in der Nase bohrte.

„Sö san g’wiss a intelligenter Mensch! Springen S’ durt umi zum Greisler und holen S’ mir a Flascherl Bier! Abtreten!“

Dorniger, ein Dutzend Flüche verschluckend, sprang über die Straße, kaufte eine Flasche Bier, wollte sie dann einfach dem Gefreiten geben.

„A, so g’müatlich mochen wir dos net! Wann S’ vor mir steh’n, da müassen S’ stramm stehn! Und dann melden: Herr Gefreiter, melde gehorsamst, do is dos Bier! . . . So, guat is! So is recht! Hochdeutsch brauchen S’ mit mir net z’ reden, aber a Haltung will i haben, a Haltung! So – abtreten!“

An die Bezahlung des Bieres dachte der Herr Gefreite nicht und Dorniger wagte ihn nicht daran zu erinnern. Seufzend ließ er sich auf seinem Koffer nieder.

„Mi brauch me dos nit!“

„Was brauchen wir nicht?“

Erstaunt fragte Dorniger den neben ihm kauernden Mann, der an einer erloschenen Pfeife saugte, die zwischen zusammengekniffenen Lippen hing.

„Das Marschieren. Und iberhaupt das Militär. Und ganze Krieg!“

„Natürlich brauchen wir den Krieg nicht. Aber jetzt ist er einmal da und da kann man nichts mehr machen. Jetzt muss man seine Pflicht erfüllen!“

„Stimmte! Kann me jetzt nix machen gegen Krieg. Aber Pflicht? Meine Pflicht ise, an Hobelbank stehen und arbeiten für Frau und Kindel. Und alles andere — mi brauch me dos nit!“

„Prochaska, du bist eben ein Böhm, du verstehst das nicht so! Ihr Böhm’ denkt halt über den Krieg anders . . .“

„Wenn’s die Zeitungen schreiben, dass das eine deitsche Krieg is — was gehte dann mich an? Aber du weißt, dass ich kein Behm bin, sondern Wiener, Tscheche, aber Wiener. Da bist doch eher du ein Behm, weil du wohnst in Behmen . . .“ „Weil ich fünf Jahre in Komotau als Beamter leb’, bin ich noch lang kein Böhm. Du weißt doch, dass man unter einem Böhm nicht einen Menschen aus Böhmen versteht, sondern einen Tschechen! Das wär noch schöner, wenn wir uns mit euch verwechseln lassen sollten! Wir Deutschen wissen wenigstens noch, was Treue ist . . .!“ „Wenn ein Deutschböhm und ein Böhm zusammenkommen, müssen sie streiten!“ Zornig mengte sich ein anderer ins Gespräch. „Und dabei bist du doch nur ein gelernter Deutschböhm, Dorniger – bist doch erst ein paar Jahre fort von Wien! Und was hast du denn dem Prochaska oder den anderen Tschechen vorzuwerfen? Bist du vielleicht voller Begeisterung eingerückt? Wer hat denn noch vor ein paar Tagen bei der Präsentierung gehofft, dass er loskommt, weil er im vorigen Jahr Gelenksrheumatismus gehabt hat? Der Dorniger! Aber mein Lieber, fürs Gehabte gibt der Jud nichts — du kennst doch noch den alten Wiener Spruch? — und für eine gehabte Krankheit gibt der Regimentsarzt nichts. Nicht einmal für eine wirkliche Krankheit! Das gibt’s nicht, dass sich einer drückt und im Bett stirbt! jetzt gilt nur der Heldentod!“

„Antreten!“

*

Nicht genügend ausgeruht, durch das Gespräch mit den Kameraden auch keineswegs aufgemuntert, keucht Dorniger unter dem drückenden Koffer dahin. Keucht und stöhnt, glaubt zusammenbrechen zu müssen und hält doch aus, marschiert doch weiter, stürzt doch nicht zusammen, hält sich doch aufrecht, kommt doch, mit tausend anderen, die keuchen und stöhnen und fluchen, zum Bahnhof.

Ein großes hölzernes Gittertor, bewacht von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Auch Polizei ist aufmarschiert. Nun sollen die Angehörigen sich losreißen von ihren Freunden, sollen sie losgerissen werden von ihnen. Aber vergebens stürmen die Polizisten gegen die schreienden und kreischenden Weiber, wider die heulenden Kinder. Die Männer lassen nicht von ihren Frauen, schließen die Arme um sie und marschieren so durchs Tor. Ein starker Bursche hebt lachend sein altes Mutterl hoch und trägt es triumphierend mit sich. Und die Kinder — die Kinder finden immer wieder Lücken, durch die sie in den Rangierbahnhof eindringen können. Achselzuckend geben schließlich die Polizisten ihre Bemühungen auf und nun wälzt sich, triumphierend aufschreiend, der Wirbelnde Strom der bunten Menge, in der neben den grauen und blauen Soldatenblusen die Farben der Frauenkleider brennend leuchten, durch das Tor.

Lange Lastzüge. Viehwagen, deren Schiebetüren weit offen stehen. Die Rekruten schaudern: Da sollen wir hinein! In ihre Ohren bohrt sich das Gejammer der Weiber: Ich lass dich nicht fort! Ich lass dich nicht!

Kommandorufe dröhnen. Aber die Menge entwirrt sich nicht. Offiziere reden begütigend und scheltend auf die Soldaten und ihre Begleiter ein. Vergebens. Aber nun kommt eine Abteilung Soldaten in geschlossener Formation, im Gleichschritt. Bosniaken! Wutgeschrei der Weiber und Mädchen stürzt ihnen entgegen. Bosniaken! Mit denen kann man nicht reden — die verstehen nicht, was man ihnen zuruft. Sie marschieren wie Maschinen gegen die Menge. Nun müssen die Frauen ihre Männer loslassen. Nun müssen die Väter ihre Kinder auf den Boden stellen, sie den Müttern zuführen. Nun muss man nach letztem Kuss sich trennen.

Vor den Wagen sammeln sich die Abteilungen. Die Frauen, die Kinder, die alten Männer, die lauter zu schreien, wilder zu jammern beginnen, werden langsam zurückgedrängt, in der Richtung zum Tore. Und während die Rekruten in die Wagen klettern, die vorsorglich schon in Friedenstagen mit der Aufschrift versehen worden sind: vierzig Mann oder acht Pferde — schieben die bosnischen Soldaten die tumultuierende Menge zum Tor hinaus, das nun eilig geschlossen wird.

Kommandorııfe, das Pfeifen der Lokomotiven und das verzweifelte Schluchzen und Stöhnen und das wütende Heulen der vor dem Bahnhof sich stauenden Angehörigen stürzen ineinander, steigen gemeinsam als chaotisches, erschütterndes Getöse zum Himmel auf.

Der Marsch ins Chaos

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