Читать книгу Der Marsch ins Chaos - Josef Hofbauer - Страница 8
V.
Оглавление„Wo sind wir denn?“
„Im Dreck. Mehr weiß ich nicht.“
Bis zu den Knöcheln standen die Soldaten im aufgewühlten Straßenkot. Dreckig alles, wohin sie schauten: die moorige Straße, der kleine Bahnhof, die Wagen, die Menschen. Dreckig die Hülle, die einen Teil des seltsam geformten Geschützes, das dicht an der Bahn stand, bedeckte. Eine Fliegerabwehrkanone, wie Kadlec erklärte. Und dreckiggrau der Himmel, der über das traurige, düstere, schwimmende Land gespannt war.
In den Dreck hinein stieß der Marschbefehl die Truppe. Nach wenigen Minuten schon war jeder kotbesprengt bis über die Knie. Bei jedem Schritt spritzte die verflüssigte Erde hoch. Dreckklümpchen setzten sich auf die Ärmel, auf die Brust, sprangen ins Gesicht. Schwer wurden die Füße. Dicke Kotkrusten umrandeten die Schuhe, die klatschend sich in den Schlamm bohrten, mit wimmerndem Ächzen sich ihm entrissen.
Klatsch-klatsch ! K1atsch-klatsch!
Takt des Marsches im Schlamm, durch den Schlamm.
„jessasmarandjosefl Schau durt umi!“
Ein Gehöft, auf dessen Dach eine weiße Fahne mit rotem Kreuz angebracht ist. Aber nicht die Fahne ist’s, die den Entsetzensschrei weckt. Vor dem Gebäude stehen und sitzen Gruppen Verwundeter. Verbundene Köpfe, verbundene Arme, Hände und Beine. Verschmutzte Binden, durch die das Rot des Blutes gesickert ist. Sind die Verbände frisch, weiß, dann brennt das Rot umso schrecklicher. Tragbahren, auf denen verdreckte Gesichter sich langsam den Vorbeimarschierenden zuwenden. Auf Rucksäcken, die unter ihrer Last tief in den Schlamm gesunken sind, kauern müde Männer in kotbraunen, verwahrlosten Uniformen, die bartstoppeligen Gesichter so schmutzig wie ihre Kleidung, heben stumpfgleichmütig die Blicke zu den erschütterten, von lähmendem Entsetzen gepackten „Neuen“. Schrecken springt denen an die Brust. Der Schritt stockt. Die zitternden Beine wollen nicht gehorchen.
„Vorwärts! Vorwärts!“
Mechanisch heben und senken sich die Beine, pressen sich die Füße in den Schlamm, entwinden sich seiner Haft. Die Marschierenden wissen es nicht. In ihren Köpfen formen sich keine Gedanken, geistert, auch wenn sie die Stirne senken und die Augen schließen, das blutige Bild, das sie an ihrem Wege geschaut. Dorniger wollte zu seinem Nachbarn reden, aber Angst, ungeheure Angst würgte seine Kehle.
„Links halten!“
Auf der rechten Straßenseite wälzte sich ein braunes Meer heran. Soldaten, die aus der Stellung kamen. Das wusste man, ohne zu fragen. Gelbbrauner Lehm bedeckte sie bis zum Halse. Schmale, verhärtete Gesichter, schmutzig wie die Uniformen. — Schweigend marschierten sie vorüber, nur ihre Augen sprachen, wenn sie sich den „Neuen“ zuwandten, denen, die dorthin zogen, Woher die Abgelösten kamen
Marsch! Marsch!
Eine Ortschaft, die zerschossene Häuser zeigt. An allen Fenstern, vor allen Türen Soldaten. In einem Torbogen eine Feldküche. Wieder eine weiße Fahne mit rotem Kreuz. Wieder Verwundete.
Vorwärts! Vorwärts!
Manchmal wendet sich — man marschiert nicht ganz in dieser Richtung — der Blick jener Gegend zu, aus der das Rollen, das andauernde Rollen des Artilleriefeuers kommt. Das war nun nicht mehr fernes dunkles Donnern. War nicht mehr so gleichmäßig, so eintönig — man unterschied schon schwächere und lautere, hellere und dumpfere Klänge. Nahe, unheimlich nahe schon war man dem Herd dieses ewigen Gewitters.
An einen breiten, wirbelnden, braune Fluten eilig forttragenden Fluss kam man, trabte über eine wuchtige Holzbrücke nach einer großen Ortschaft, marschierte nach einer weiten Fläche, die früher einmal eine Wiese war, nun aber durch den Regen vieler Tage und die Tritte unzähliger Soldaten in einen Morast verwandelt war. Die Leute sanken, wuchsen in den Sumpf. Verängstigte Blicke glitten hinüber nach den grauen Häusern, die anders gebaut waren als in den slovenischen Dörfern, in denen man bisher gehaust, leichter und luftiger. Und weiter huschten die Blicke zu den schmutzig braunen Zeilen wartender Kolonnen, die hinter, neben ihnen im Dreck wurzelten wie sie — zu Offiziersgruppen, zu Wagenreihen, zu schweren, von Soldaten gelenkten Automobilen, die ratternd auf der Straße sich vorwärts schoben, gewaltige Schlammwogen aufwerfend.
Was nun geschah, das erlebte Dorniger wie ein Zuschauer seines eigenen Tuns. Befehlende Rufe dröhnten ans Ohr, er machte willenlos Drehungen und Wendungen, marschierte ein paar Schritte, stand, marschierte wieder, stand — kam erst wieder zu sich, als eine schrille, krächzende Stimme in hartem Deutsch schrie:
„Chabt acht! Ihr seid’s erste Zug von dritte Kompagnie! Zugskommandant Cherr Fähnrich Radevic. Cherr Fähnrich kommte gleich. – Ruht! – Chabt acht! Rechts schaut! Cherr Fähnrich, melde gehorsamst: erste Zug, . . . zig Mann!“
Ein großer, schlanker, noch junger Mann mit glattrasiertem Gesicht, die Augen hinter den Gläsern einer Brille geborgen, stand vor dem dienstführenden Feldwebel, einem gedrungenen, übertrieben stramm sich gebärdenden Mann, der einen ergrauenden Spitzbart grimmig vorstreckte. Über diesem Bart, der die unteren Gesichtspartien verbarg, ein buschiger, an den Enden gezwirbelter Schnurrbart.
Die Nase gebogen, aber nicht in Form eines Adlerschnabels — sondern dick, klobig, brutal. Buschige Brauen, unter denen kleine Augen zwinkerten. Des Mannes Haltung wirkte wie eine Karikatur des Strammstehens. Weit war die Brust vorgewölbt, aber zugleich war das breite, üppige Gesäß. wuchtig nach rückwärts gepresst. Dieser dienstführende Feldwebel, das wusste Dorniger, war nun der eigentliche Zugskommandant, er war gewaltiger Gebieter, Herr der Gnade und der Strenge, und er würde, das zeigte sein ganzes Wesen, eher ein strenger als ein gütiger Vorgesetzter sein . . .
Ein paar Worte des Fähnrichs. „Zu Befehl!“ Der Zug marschierte ab.
Dorniger fragte seinen Nebenmann: „Wo sind wir denn jetzt!“ — „Nix deitsch!“ Ein gutmütig grinsendes Gesicht, lustige Äuglein. Ein netter Kerl musste der Nebenmann sein. Aber wenn er nicht Deutsch verstand — das würde ein rechtes Kreuz werden.
„Mach dir nichts draus, Dorniger!“ erklang es hinter ihm. „Ein paar von den ‚Alten’ sind schon noch da.“
Kirschenbauer rief es.
„Ich bin da in der Reihe hinter dir, dann der Schmied Karl, der Prochaska — der ist froh, dass er noch einen Böhm im Zug gefunden hat — und ich glaub, auch der Heinzelmeier, der Federl, der Kudernatsch und der Skala sind im Zug. Wohin die andern kommen sind, weiß ich nicht. Sonst sind lauter Slovenen da. Und ein paar Steirer. Mit einem hab’ ich schon gesprochen — bei einem slowenischen Jägerbataillon sind wir. Der Steirer hat gesagt, dass wir auf den Monte San Michele gehen. Da können wir uns freuen!“
Marsch durch das soldatenüberflutete Dorf. Soldaten marschieren, Soldaten stehen an den Wänden der Häuser entlang, lümmeln an den Toren, lehnen in den Fenstern. Vereinzelt nur zwischen den Uniformierten ein alter Mann in Zivilkleidung. Unheimlich lebendig dieses ausgestorbene Dorf. Autos, alte Kutschen, Trainwagen, Lazarettwagen, Tragtiere, Feldküchen, Stapel von Kisten, Fässern und Ballen, Eisentraversen, Balken, Bretterstöße. Große Bündel stacheligen Drahtes. Überall verdreckte Uniformierte in Tätigkeit. Balken werden geschichtet, Wagen abgeladen, andere bepackt, an den Feuern der Feldschmieden, die in alten Scheunen und in Torbogen untergebracht sind, werden Pferde beschlagen, Reifen ausgebessert. Hämmer klingen, Eisen klirrt, Autos röcheln, Holz splittert, Pferde wiehern und Männer fluchen in unverständlichen Sprachen. Und zwischen all dem Wirrwarr die Linien marschierender Soldaten. Soldaten, Soldaten, Soldaten!
Rast auf einem Dachboden, dem eine Seitenwand fehlt. In großen Säcken und Zeltblättern werden Lebensmittel angeschleppt. Jeder bekommt einen Wecken Brot, drei Fleischkonserven, ein Stück Käse, ein paar Zigaretten. Jedem werden zwei Pakete Patronen zugeworfen.
„Packen! In einer Stunde wird abmarschiert!“
Gepackt ist in einer Viertelstunde. Dann stürzen alle die Leitern hinunter, man will noch einkaufen: Schokolade, Kerzen, Tee, Zündhölzchen, verschiedene Kleinigkeiten. Aber nichts ist zu haben. Die meisten Kaufläden geschlossen. In den Gastwirtschaften bekommt man nur Wein. Man trinkt und lässt sich die Feldflaschen füllen. Eilt wieder zurück — es ist Zeit zum Antreten!
*
Marsch über die Brücke.
„Das ist die Wippach“, sagt Kirschenbauer. „Und der Ort, in dem wir waren, heißt Ranziano.“
Die Leute haben sich nun doch ein bisschen mehr nach ihrer inneren Zusammengehörigkeit gruppiert. Dorniger, Kirschenbauer, Schmied und Federl marschieren in einer Reihe. Die Wiener haben sich, so gut es möglich war, zu kleinen Gruppen, wenigstens aber zu Paaren zusammengefunden. Den Slowenen war es recht. Auch ihnen war es lieber, mit Kameraden zu marschieren, mit denen sie sich verständigen konnten.
In der Reihe hinter Dorniger erzählt ein Steirer vom Monte San Michele. Er sagt „Michele“, mit dem Ton auf der ersten Silbe.
„Der Michele, “ sagt er, „der Michele, der is da a Luader! D’ Stellungen san nix net wert, ganz zerschossen. Kannst a koani richtinga Stellungen net mocha, sant lauta Stoana oben, lauta Stoana! Und da Katzelmocha spuckt ganz höllisch auffi auf’n Michele — wohl, Wohl, ganz höllisch spuckt a auffi! Mia ham a Verluste g’habt, Verluste, sag i da! G’rad ‘s halbete Bataillon is z’ruckkema ‘s letzte Mol.
Wohl, wohl, grad ‘s halbete Bataillon. Waßt d’, wann di net a Kugel trifft oder a Eisentrümmerl, so darschlogt di a Stoan. Wohl, Wohl, dann darschlogt di a Stoan! Na jo, wirst es ja seh’gn, wirst es ja seh’gn!“
Quälender konnte keine Erzählung sein als diese im gemütlichsten Plauderton vorgetragene: Schilderung des Steirers. Wenn man nur nicht hinhören müsste! Aber Dorniger musste hinhören, er lauschte sogar aufmerksam nach rückwärts, um nichts zu verlieren von des Steirers breiten Erklärungen.
Marsch auf den Monte San Michele! Nicht selten war der Berg in den Kriegsberichten genannt worden, mit ein paar kurzen Worten. Und er hatte sich nichts dabei gedacht, wenn er sie gelesen hatte. Was sollte man sich auch dabei denken, wenn man las: „Der Monte San Michele lag tagsüber wieder unter schwerem Feuer“ oder „Italienische Angriffe gegen unsere Stellungen auf dem Monte San Michele wurden abgewiesen“? Was sollte man sich dabei denken? Jetzt erst verstand Dorniger, was er früher gelesen, wurden die Worte lebendig, sah er zwischen die Zeilen und hinter die mageren Berichte. Jetzt, da er selber auf den Monte San Michele marschierte . . .
Aber dieser Marsch! Ebene zunächst, verschlammt, zerfließend, auf der die Wege und die Straßen nur kenntlich waren durch tiefe Fußstapfen und tiefe Rillen der Räder. Straßen, an denen zerschossene und verbrannte Häuser standen, arme Häuserruinen. Straßen, auf denen sich endlos lange Schlangen vorwärts wanden. Kolonnen Marschierender, Tragtierkolonnen, Autoreihen, Kolonnen kleiner Trainwagen. Manchmal gleitet ein Auto vorbei, Gefährt eines hohen Offiziers. Dann werden die Marschierenden von Springfluten aufgewirbelten Drecks überschüttet.
Der trübe Tag wird von früher Abenddämmerung verschluckt. Zu gespenstischen Schatten werden die Marschierenden. Rauchverbot! Im kurzen Glühen jäh aufsprühender Raketen treten Bergkonturen für einige Augenblicke scharf hervor. Schwer fällt ins Dunkel das Gepolter der Kanonade. Am Fuße einer Anhöhe, die daliegt als ein schwerer Klotz, dehnen sich Barackenbauten. Neidisch schielen die Soldaten hin. Wenn man da unterkriechen könnte! — Die Straße beginnt sich bergan zu winden. Langsam kriecht die Kolonne aufwärts. Tiefer wird das Dunkel. „Achtung! Anschließen!“ — Fluchend stoßen die Leute einander. „Gib doch Acht, du Trottel! Du hast mich mit deinem Prügel in die Rippen gestoßen!“ — „Porco dio!“ — „Neugierig bin i, wia ma aus derer Scheißgassen aussakumman!“ — „Kruzifix! Himmelherrgottblutiger! Nimmt denn der Weg ka End mehr?“ — „Porco di Madonnal“ — „Scheiß di net an! Mi ham’s a schon auf die Fiaß treten!“ — Die Schatten keuchen, die Schatten stöhnen. Die Rucksäcke werden schwerer und schwerer. — „Links halten!“ — Tragtiere hasten vorbei. Metall klirrt. „Die schaffen die Menage in die Stellungen!“ — Sssss-Bumm-Krach! – Entsetzt springen die Leute beiseite. Prasseln im Gestrüpp. Tropfen hören sie niederfallen, klirrende, dumpf aufschlagende Tropfen. — „Was war denn das?“ — „Ah, nix! A klani Granaten. Wird eahna no mehra geb’n!“ — Der Dienstführende kommt. „No ja, die tapfere Wiener! Scheißen sich gleich an, wenn’s Granate hören. Ise nix dabei. G’wehnt me sich dran, wie an Schnaps. Vorwärts! Anschliess—ssen!“ – Man ächzt die steiler werdende Straße hinan. „Vorwärts! Vorwärts!“ Halblautes Fluchen. „Die können leicht schreien, die haben nix z’tragen als ein Bajonett!“
— „Z’was sollen denn mia uns so abschleppen?“ Federl wirft die Reserveschuhe, die er außen auf dem Rucksack aufgepackt hatte, mit wütendem Schwung ins Gebüsch. Dann schleudert er den Brotlaib weg. „Liawa friss i drohen nix, als dass i do liegen bleibl“ — Bei jedem Schritt knicken die Beine ein. Zornig versucht man den Rucksack höher zu heben. Die Riemen schneiden ein. Man versucht abwechselnd die Daumen zwischen Riemen und Schulter zu stecken und so den Schmerz zu mildern, und dann wieder die Hände auf den Rücken zu legen und so den Rucksack zu tragen. Es gibt keine Methode, den Druck von Rucksack und Gewehr zu mildern. Fast alle taumeln, aber keiner wagt sich zu setzen. Die Steirer warnen: „Wann da Feldwebel oan sitzen siecht, dann haut er ‘n! Er hat mit sein Staberl schon Leut g’schlagen, dass sie g’flennt haben!“ — So keucht man weiter, stumpf, resigniert, hoffnungslos.
„Halt! Kurze Rast.“ — An den Seiten der Straße sinken die Müden nieder. Der Rucksack wird zur Lehne für die schmerzenden Rücken. Die Arme liegen locker gespreitet, die Hände geöffnet. Tiefes, gieriges Atmen. Jetzt fühlt man erst, wie müde man ist. In den Halsadern spürt man das hastige Jagen des Blutes. Wenn man jetzt liegen bleiben und schlafen könnte! Die Augen schließen sich . . .
„Wohl, wohl! Da rast’n ma fast an iad’s Mol, jo. Weil weiter vorn d’ Straßen an Bogen macht und durt pfeffert der Italiener immer hin. Und do muaß ma dann Worten, bis dass a wieada aufhört.“ — O, jetzt hört man wieder stärker und näher Einschläge der Geschosse. Hat man sich schon so daran gewöhnt, dass man sie nicht mehr beachtete? War man zu müde, zu zermürbt, um noch hören zu können? Dorniger lauscht dem Krachen und Dröhnen, dem dumpfen, wuchtigen Aufschlag der Granaten, dem schmetternden Hall des Zersplitterns und Aufwirbelns und Niedersausens des Gesteins — lauscht und hat doch eine Empfindung des Unwirklichen, Phantastischen, Unmöglichen. Ist das wahr: Er, Franz Dorniger, Buchhalter aus Komotau, liegt hier an der Lehne eines Karstberges, liegt hier zermartert und müdgeschunden, bepackt wie ein Lasttier, verdreckt wie ein Buschneger, liegt hier in später Nacht, hört Granaten einschlagen, lauscht, wie Geschützdonner die Nacht zerwühlt — in einem fremden, ihm völlig gleichgültigen Lande — wie unwirklich das alles! Und er weiß doch, dass es Wirklichkeit ist, dass er einer der tausend Verfluchten ist, die auf diesen verdammten Berg hinaufgezwungen werden . . .
„Auf!“ Matt, noch müder nach der kurzen Rast als vorher, taumeln die Männer in die Höhe. Und nun sieht Dorniger, wie viele seiner Freunde dem Beispiel Federls folgen. Reserveschuhe werfen sie weg, Brot, allerlei Kram, den sie bisher mitgeschleppt, Schuhbürsten, Schachteln. Nur die Patronen wagen sie nicht ins Gestrüpp zu schleudern. Und doch werden die Rucksäcke nicht leichter! Und die Beine — wie steif und starr die Beine geworden sind! Wie jeder Schritt schmerzt!
„Vorwärts! Anschliess—ssen!“ Der Feldwebel bellt es. In der Hand schwingt er ein dünnes Stöckchen. „Vorwärts! Wird’ ich eich Beine machen, eich Krokodilen!“ Rasch läuft er — er trägt ja kein Gewehr und keinen Rucksack — nach rückwärts. „Anschliess—ssen!“ Hilfloses Gejammer wird laut. Leichtfüßig eilt der Feldwebel wieder vorbei. Flüsternd sagt es einer dem andern: Er hat den Banyan geschlagen und mit dem Fuß getreten, weil der Schneider zusammengefallen ist!
„Vorwärts! Wir müssen schauen, dass wir da vorbeikommen! Hier liegt die Straße oft unter Feuer! Tummelt euch, es liegt in euerem Interesse, dass wir rasch über die Biegung hinwegkommen!“ Fähnrich Radevic steht an der Straße, ermahnt unermüdlich die Leute, sich zu beeilen, und die freundlichen Worte, noch mehr aber die Angst wirken Wunder, die Abgehetzten gewinnen neue Kraft, rascher kommen sie weiter. — Und nun wird auch die Straße ebener, nun kann man leichter ausschreiten.
Aber — — —
Sonderbares Summen und Sausen. Als flögen Bienen in rasender Eile vorbei. Aber pfeifender ist dieser Ton. — „Dös san d’ G’wehrkugeln. Braucht’s gor net drauf z’hören. Dö flieag’n überoll umaranand.“ — Man gewöhnt sich wirklich bald an das Vorbeihuschen der Kugeln, an ihr eiliges Gesumm. Gewöhnt sich so sehr daran, sehr bald schon, dass man es nicht mehr beachtet. Aber man hört es doch. Hört es, wie man alle zernervenden Geräusche dieser peinvollen Nacht hört: das Grollen der Geschütze, das dumpfe Niedersausen der Granaten, das Gescharre hunderter, das Dunkel durchtastender Füße, das metallische Klirren der Tragtierlasten, Getrappel vieler Hufe, das Ächzen und Stöhnen der Menschen, die halblauten Flüche, die ganze chaotische Vielfalt wirrer und verwirrender Töne. Man hört es, nimmt es auf ins Ohr, füllt mit den Schreckensvorstellungen, die es weckt, das wunde, überreizte Hirn — und marschiert weiter, weiter . .
„Obacht! Da is aner umg’fallen!“
„A was – umg’fallen!“ sagt lachend der Steirer.
„Ös seidis jo no die reinen Kinder – umg’fallen! Dem tut koa Banel mehr weh _ dös is a Toter. Miaßt’s halt drübersteig’n!“
O ja, man steigt über den Toten — auch .Dorniger steigt über ihn hinweg. Aber ein wilder Schauer durchläuft ihn. So vergessen — so unbeachtet am Wege liegen . . .
„Weiter! Weiter!“
Nun wird kein Wort mehr laut. Dorniger weiß es: jeder denkt an den Toten, der quer über der Straße lag, an den Toten, über den heute Nacht Hunderte hinwegsteigen, den hundert Füße stoßen, über den hundert Männer stolpern . . . Der erste Tote! Und der Steirer hat doch erzählt, dass in den letzten Tagen so viele, so viele gefallen sind . . . Wie viele mochten weiter oben liegen, auf dem Berge des Schreckens? Au — au — aaah! . . . Aaah! Auah! Zwei Reihen vor Dorniger stürzt ein Mann zusammen, brüllend, wild herumschlagend. Alles drängt sich herzu, möchte gleichzeitig weglaufen, ist bestürzt, verwirrt . . .
„Sanität! Sanitääät!“ Zwei Männer schleppen den Verwundeten beiseite, legen ihn am Straßenrand nieder . . .
„Vorwärts! Vorwärts! Ihr bledn Krokodielen! Ise nix weiter g’schehen. Bissel blessiert. Kennen wir nicht wegen jeden Blessierten chalten. Vorwärts!“
Weiter, weiter! An dunklen Mauerresten vorbei, an phantastischen Baumstrünken, an Soldatenreihen, die zurückmarschieren, an gespenstisch sich bewegenden Gruppen. Weiter, weiter! Durch die summende, klirrende, donnernde, stöhnende Nacht. Weiter, weiter!
„Erste Zug – chalt!“
Man steht am Rande eines gewaltigen schwarzen Loches, in dessen Tiefen ein paar dürftige Lichtlein funkeln. „Zeit, dass ihr kommt!“ — „Wir haben lauter Neue, die noch nicht in Stellung waren. Bis wir mit denen weiter gekommen sind!“ — „Na, da wird’s ihnen gefallen, da heroben in dem Schloss! Servus!“ — „Servus!“ — Der Fähnrich hat mit einem Offizier, der die abgelöste Truppe führt, gesprochen. Der ruft nun in die Tiefe: „Vorwärts! Marsch!“ Dunkle Gestalten entsteigen dem Loch, werden einen Augenblick lang, wenn sie sich abheben von dem doch etwas lichteren Hintergrund des Himmels, deutlicher sichtbar, huschen vorbei, verschwinden. Und ihnen folgen andere, folgen ganze Züge. Darauf setzen sich auch die Jäger wieder in Bewegung. Stumpf, willenlos lässt sich Dorniger schieben, hinab in das Dunkel, über steinerne Stufen, in einen engen, schmalen Gang, wird fortgedrängt, steht nun dicht gepresst an seinen Vormann, fühlt das Drücken des hinter ihm Vorgestoßenen, steht plötzlich, weil auch der Mann vor ihm stehen geblieben ist, wird nach links geschleudert, sinkt auf Bretter, befolgt, halb schlummernd schon, den undeutlich vernommenen Befehl, Gewehr und Rucksack abzulegen, weiß nicht mehr, wohin er sein Gewehr steckt, fühlt sich eingekeilt zwischen zwei andere Männer, weiß nicht, wer sie sind, will es nicht wissen, fragt nichts mehr, denkt nichts mehr, stürzt jäh in schweren Schlaf.
*
Dorniger richtete sich auf, rieb sich die Augen, starrte um sich. „Hat der Herr gut geruht? Wünscht der Herr vielleicht, dass ihm der Kaffee ans Bett gebracht wird?“
„Steig mir auf den Buckel!“
Schmied lachte.
„Ich hab mir wirklich oft den Kaffee ans Bett bringen lassen, wenn ich zu faul war zum Aufstehen. Na ja, ich bin doch spät genug zum Schlafen gekommen. Wie ich noch bei der Salonkapelle war, da hab’ ich doch bis eins, zwei gespielt, dann ist man noch so gemütlich ein Bisserl beisammen gesessen — und gar, wenn ich im Ausland war. Mein Lieber, ich bin weit herumgekommen in der Welt. In Bukarest war ich, in Deutschland, in Amsterdam — wer weiß, ob so schöne Zeiten wiederkommen! In Bukarest hat’s einen feinen Kaffee gegeben, alle Achtung! Aber heut — heut kriegen wir unser G’schlader erst in der Nacht. Früher kann man mit der Menage nicht in die Stellung.“
„Und i hab” schon so Hunger!“
„Gelt, hast auch dein Brot gestern wegg’schmissen? Jetzt tut’s jedem leid. Am ärgsten treibt’s der Federl. Na ja, der is ja auch der dickste. Alle hat er schon um ein Stückerl Brot an’bettelt. Hat aber keiner was. Kannst d’ deinen Käs fressen. Na, und unser Hotel willst dir gar nicht anschauen? Ein Vieretagenbau, komfortable Fremdenzimmer, livrierte Diener, Friedhof und Totengräber zur Bequemlichkeit der p. t. Gäste im Hause . . .“
Wider Willen lachend sah Dorniger sich um. Wenn er den Rücken nicht straffte, konnte er sitzen, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Ober seinem Haupte lief eine lange Bretterreihe dahin. Sie lag auf schweren, starken Balken. Die Rückwand der Behausung wurde durch eine Felswand gebildet. Im Halbdunkel sah man liegende und kauernde Gestalten. Andere schoben sich vor dem langgestreckten Loch einen engen Gang entlang. Dorniger kroch dem Lichte zu, in diesen Gang. Nun erst konnte er den Unterstand ein wenig übersehen.
In einem tiefen Steinbruch war aus dem Material, das es hier in verschwenderischer Fülle gab, aus Steinen, ein ganz eigenartiger Bau hineingestellt worden. Aus aufeinandergeschichteten Steinen waren mächtige Pfeiler geformt worden, auf denen verbindende Balken ruhten. Die Seitenwände, die Vordermauer gleichfalls aus Steinen gebildet. Ein Pfostengerippe war in die Steinwände hineingebaut. Zwei Stockwerke hatte das Haus, das in Form eines offenen rechtwinkeligen Dreieckes an die steilen Hänge der Schlucht gepresst war. Aber es war doch kein „Haus“. War nicht mehr als ein dürftiger Notbau, zugig, kalt, feucht, finster, dreckig. In jedem Stockwerk konnte man sich an der Außenseite einen schmalen Gang, der knapp Platz bot für einen Mann, entlangwinden. Neben dem Gang war der Schlafraum, zugleich Wohnraum — eine Bretterlage in Fußhöhe und eine zweite in halber Mannshöhe. Wer im Untergeschoss wohnte, wurde beneidet – er brauchte nicht erst sich ächzend hinaufziehen zu seinem Lager. Dorniger gehörte zu den Günstlingen des Geschicks, die nicht klettern mussten, sondern sich bloß zu bücken und zu kriechen brauchten, um zu ihrem Schlafplatz zu kommen.
Im Gange fand Dorniger schon seinen Freund Kirschenbauer vor, der durch ein Lichtloch der Vorderwand hinausstarrte.
„Nicht viel zu sehen da. Bloß da gegenüber die Wände der Schlucht. Und wenn du den Kopf ‘naussteckst, kannst rechts oben ein Stückel von der Straße sehen. Aber keinen Menschen. Wenn nicht so viel geschossen würde, könnt’ man glauben, dass der Krieg wegen schlechter Witterung verschoben wurde. ‘s regnet ja noch immer. Da unten am Grund des Steinbruches hat sich schon ein kleiner See gebildet.“
Dorniger hörte jetzt erst, da der Freund ihn darauf aufmerksam machte, das Schießen.
„Ich hab’ ganz gut geschlafen, trotz der Schießerei. Man gewöhnt sich daran. Aber Hunger hab’ ich – an’s Nichtessen gewöhnt man sich doch nicht so leicht. Wenn ich nur gestern nicht mein Brot weggeworfen hätt’!“
„]a, das haben mir auch schon ein paar andere gesagt. Ich hab’ schon fast alles hergegeben, was ich gehabt hab’. Schau, da ist noch ein Bröckerl. Iss halt recht langsam, dass d’ das Hungergefühl besser betäubst.“
„Und waschen möcht ich mich doch auch – aber ich weiß nicht, wo’s das Wasser gibt.“
„Mei Liawa,“ mischte sich der Steirer Lippmann ins Gespräch, „a Wasser gibt’s do überhaupt net. Net zan Waschen und net zan Trinken. Zan Trinken kriag’n ma auf d’ Nacht an Wein und an Schwarzen. Wohl, wohl, des kriag’n ma, aber ka Wasser net. Solang ‘s d’ do herobn bist, gibt’s koa Waschen. Macht weiter a nix net, weil’s ja jetzt so allerweil regn’t.“
Nicht waschen, nicht Zähne putzen, beim Schlafen nicht einmal die Schuhe ausziehen — mit einer Masse anderer schlafen, geschichtet und gepresst wie eingelegte Heringe — Dorniger hatte wohl das Gesicht verzogen, denn Kirschenbauer fragte ihn spöttisch:
„Gelt, in Komotau, beim Turnverein und bei der Gesangsriege, da hat der Krieg doch ein bisserl schöner ausgeschaut?“
„Hör’ auf, Kirschenbauer! Wer weiß denn, wie der Krieg ausschaut, eh’ er mitten drin’ steckt!“
Die Freunde schwiegen. Zu reden gab es nichts mehr, zu sehen auch nichts, so krochen sie wieder zurück auf ihre Plätze. — Die Kameraden spielten Karten. Dabei wurde einem wenigstens ein bisschen warm. Denn die Mäntel vermochten die Kälte nicht abzuhalten. Es war nicht der Frost des nordischen Winters, der in die Höhle kroch. Vielleicht war es gar nicht so besonders kalt. Aber feucht war alles. Feucht waren die steinernen Wände, feucht das Holz, feucht die Luft. Feucht waren auch die Mäntel und die Decken. Und wenn einem schon nicht wärmer wurde beim Kartenspiel, so achtete man doch die Kälte und die Nässe weniger, und ein Zeitvertreib war es auch. Die Karten krachten auf die Bretter, die Fäuste schlugen auf, kräftige Worte begleiteten das Spiel. Am leidenschaftlichsten gebärdeten sich die Slowenen, die ununterbrochen ganze Kaskaden von Flüchen über die Lippen sprudeln ließen, wovon nicht wenige dem Italienischen entlehnt waren. Aber diese italienischen Flüche, die übrigens nach wenigen Stunden auch alle Wiener verstanden, waren noch verhältnismäßig harmlos. Die Slowenen, durch alte Kameradschaft und die Nationsgemeinschaft miteinander enger verbunden, spielten in gesonderten Gruppen, und die Wiener schlossen sich auch zu kleinen Gesellschaften zusammen.
„Spielst d’ net mit, Kirschenbauer?“ „Nein; du weißt, dass ich nicht spiel! Ich kann’s nicht. Es macht mir keine Freude. Ich les’ lieber. Unser früherer Zugskommandant, der Kadett Deutsch, hat mir ein paar Reclambüchel geschenkt. — Wenn ich mich mit dem Kopf zum Gang hinlege, kann ich so viel Licht einfangen, dass ich lesen kann.“
„Gib nur Acht, dass dich keiner auf den Schädel tritt!“
Karten klatschen, Flüche pfauchen, Schlafende schnarchen, über den Steinbruch hinweg sausen Granaten durch den beharrlich rieselnden Regen — manchmal dröhnt in der Nähe ein Einschlag, dann lässt man wohl erschreckt die Hände mit den Karten sinken, schaut nach der Richtung, in der der Donner niederging, aber man will ja nicht lauschen, man will ja nicht wissen, was geschieht — man spielt weiter.
Ein Befehl wird weiter gesagt: Gewehre putzen! —
Ein paar Eifrige machen sich an die Arbeit. Dorniger mag nicht. Die meisten sind zu faul, zögern, dem Befehl zu gehorchen. Dann aber bezwingt sie die Furcht vor der Gewehrvisite. Fluchend greifen sie nach dem Gewehr, suchen Putzschnur und Lappen und Fett hervor.
„Ich dir putzen — du mir Zigaretten geben!“
Ein junger slovenischer Kamerad macht Dorniger das Angebot. Es wird gerne angenommen. Wenn man sich durch eine Handvoll Zigaretten von einer so unangenehmen Arbeit befreien kann! Her mit den Karten! Wir spielen weiter! Es gibt noch andere, die entweder gegen Bezahlung oder gegen Entschädigung anderer Art bereit sind, die Gewehre zu putzen.
Aber bald wird es zu finster zum Spielen. Da bleibt dann nichts anderes übrig, als zu schlafen, zu sinnieren, zu plaudern, nichtstuend die Nacht und mit ihr die Menage zu erwarten.
Die Nacht kommt und macht den Berg lebendig. Von der Straße herab klingt Klirren und Stampfen, tönen Marschschritte, hallen unterdrückte Rufe. Wieder wird jenes Lärmgemisch laut und füllt die Nacht, das während des Marsches auf den Monte San Michele zum ersten Male so verwirrend und erschreckend auf die „Neuen“ eingedrungen war. Die Männer im Steinbruch wissen nun, dass sie bald Essen bekommen werden. Sie suchen die Menageschalen hervor, vergewissern sich, dass der Löffel in der Gamasche des rechten Beines steckt, wo jeder ihn aufbewahrt, obwohl der vorgeschriebene Platz dafür der Brotsack ist, und harren so des Befehles zum Antreten. Noch geraume Zeit müssen sie warten — sie haben sich schon selber, ohne ein Kommando abzuwarten, im Gange bereit gestellt und drängen, als endlich der Ruf „Menage“ zu ihnen dringt, ungestüm hinaus, über die Steinstufen empor, an die Straße.
Dorniger kriecht hinter Kirschenbauer, gefolgt von Schmied, mit den Schuhen vor jedem Schritt tastend, ungeschickt die schlüpfrige Treppe hinauf. Andere steigen, vorsichtig die Schale vor sich haltend, neben ihnen wieder abwärts. Oben an der Straße, dicht neben dem Steinbruch, stehen Tragtiere, steht eine Gruppe von Männern. Aus rechteckigem eisernen Behälter, dessen runder Deckel abgeschraubt ist, bekommt jeder Vorbeischreitende einen Schöpflöffel voll Suppe. Im spärlichen Lichte einer Kerze, die durch ein vorgestelltes altes Blechstück vor Sicht geschützt ist, erfolgt die Ausgabe des Essens. Der Koch drängt: „Schaut’s dazua, Leutln, schaut’s dazua! Mia miassen schau’n, dass ma za’ruckkumman. Wann da Katzelmocher auf d’ Straßen spuckt, san ma petschiert!“ Hastig fährt der Schöpflöffel in die Menagekiste, das Essen klatscht in die vorgehaltene Schale, der Beteilte wendet sich, schon steht der Nächste wartend da, empfängt sein Essen, tastet sich fort, klimmt in die Schlucht hinab. Aber im Gange des Unterstandes kann man sich nicht bewegen, sich nicht drehen und wenden, einander nicht ausweichen, es bilden sich Stauungen, die Soldaten wissen nicht, wo sie essen sollen, so tappen viele hinab in den Grund der Schlucht, in den Morast, stehen tief in Dreck und Wasser, während sie gierig löffeln — dick eingekochte Suppe, die Fleischbröckchen, Reis, Bohnen, Nudeln zu einem zähen Brei verbindet. Noch sind die ersten kaum mit dem Essen fertig, fliegt ihnen schon der Ruf zu: Kaffee! Löffelnd, kauend, schmatzend steigen sie wieder nach oben, formen sich neuerlich zu Reihen, ziehen wieder am Koch vorbei, bekommen in die Schale, aus der sie eben die letzten Brocken herausgekratzt haben, einen Schöpfer warmen schwarzen Kaffee, machen einen Schluck, fahren angewidert zurück — mit dem Kaffee werden nicht nur Reiskörner und Teigstückchen und fad schmeckendes Fett in den Mund geschwemmt — aus dem lauen Trank steigt auch ekler Fuselgeruch auf, ein starker, aufdringlicher, hässlicher Geruch.
„Da hat man uns wieder einmal eine Wohltat erwiesen, man hat uns eine Zubesserung gegeben. Aber vor dem Schnaps, den sie in den Kaffee geschüttet haben, muss jedem Branntweiner grausen. Da bleibt nichts anderes übrig, als den Kaffee wegzuschütten.“
„Tua’s net, Kirschenbauer!“ warnte Lippmann. „Tua’s net! I moan da’s guat! Stell die Schal’n mit ‘n Kaffee weg. Morgen wird’n ma uns a Feuerl mochen, wohl, und da wird’n ma uns den Schwarzen hoaß moch’n. Wann a recht hoaß is, oft kannst d’n grod trinken. Wohl, aber recht hoaß muaß a sein, dann riechst den Schnaps net so aussa!“
Die „Neuen“ trugen nun so wie die Alten, von denen sie belehrt wurden, den Kaffee in den Unterstand. Dort tauchten nun auch die Leute auf, welche die „Fassung“ brachten: Brot, Käse, ein Stückchen Butter, Tabak, Zigaretten. Die Ausgabe dieser Kostbarkeiten wandelte die Stimmung. Zu essen gab es, zu rauchen — man konnte sich fast behaglich fühlen. Dorniger schwankte zwischen Rauchgelüst und Hunger, überlegte, ob er erst eine Zigarette rauchen oder vorher ein Stück Brot essen sollte, entschied sich für das Essen, schnitt mit dem Taschenmesser ein großes Stück Brot ab, schob mächtige Brocken in den Mund, kaute mit vollen Backen, empfand beglückt das Gefühl des Sattwerdens. „Die Wampen g’füllt und a Zigaretterl im Maul — do loßt si’s schon ausholten,“ meinte Federl, „jetzt no a klani Tarockpartie und dann pülseln (schlafen)!“ „Fang ma liewa net erst an mit ‘n Spiel’n, “ riet Lippmann, „in aner Viertelstund wird’n ma do schon antret’n miass’n!“ — „Was, jetzt in da Nacht antreten? Du hast wohl narrische Schwammerln g’fressen?“ — „Wirst es schon seh’gn, mei Liawa! Die Leut’, de net in da Stellung san, miass’n jede Nocht arbeiten. Wirst es schon seh’gn!“ — „Aber was denn für Arbeit?“ — „Na, so allerhand, was ‘s halt z’tuan gibt.“
Die Leute begannen zu murren und zu fluchen, einige aber, die meinten, der Steirer mache sich mit den Neuen einen Spass, wickelten sich in die Decken, betteten die Köpfe auf die Rucksäcke, probten, ob sich’s auf der rechten oder linken Seite besser liege. Aber sie kamen zu keinem Ergebnis, sie konnten keine Lage richtig ausprobieren, denn ehe sie noch schlafensbereit waren, kam der Befehl zum Antreten. Wütend schleuderten sie die Decken fort, krochen in den Gang, tasteten sich, die Steinmauer abfühlend, in ihm vorwärts und schlichen die zertretenen, schlüpfrigen Stufen hinauf.
„Achtung! Die zwei ersten Schwärme vom ersten Zug gehen mit dem Korporal Rammler! Marsch!“
*
Noch immer rieselnder Regen, aber so fein, so zart — wie ein ununterbrochenes Niedersinken feuchter Schleier war dieses Regnen. Es störte nicht sonderlich. Wenn es nicht schlimmer wurde! Da war das zischende Schwirren, Surren der Kugeln schon unangenehmer. Man war versucht, sich umzuschauen nach den unheimlichen Teufelsdingern, nach den unsichtbaren Kleinvögeln des Krieges, aber man wusste doch, dass sie schon vorüber waren, wenn man sie hörte, wenn die zirpende Botschaft des rasenden Fluges das Ohr kitzelte, und doch riss es einem den Kopf auf die Seite, nach der Richtung des seltsamen Tons. Freilich, man sagte nichts. Man schämte sich, Furcht zu zeigen. Waren doch Leute dabei, die so unbekümmert dahin gingen, als wäre das Summen der Kugeln das selbstverständlichste Geräusch der Welt. Es war ja auch töricht, sinnlos, sich vor diesem Sausen zu schrecken. Die Kugeln, die man hörte, konnten doch nichts mehr tun.
Jetzt sah man erst, wie belebt die Straße war, die man gestern so schlaftrunken, erschöpft, betäubt von Angst und Grauen, heraufgekeucht war. Da marschierten ganze Kolonnen, die Material in die Stellungen trugen: Balken, Eisenschienen, Bretter, Patronenkisten, Stacheldrahtbündel. Da knarrten Wagen, von Soldaten begleitet, da trabten Reihen von Maultieren, jedes mit zwei Menagekisten beladen, klirrend, angetrieben von ungeduldigen Köchen und Rechnungsunteroffizieren, die sich heimsehnten und rasch aus dem Feuerbereich kommen wollten. Da marschierten Patrouillen — und da trugen Sanitätssoldaten Verwundete. Es war schon romantisch, dieses bewegte Bild unzähliger aneinander vorbeihuschender Gestalten — es wurde noch romantischer, als der Regen nicht mehr niedersank und für Augenblicke durch Wolkenrisse der Mond lugte. Dann blinkten die Menagekisten, die Läufe der Gewehre, und deutlicher sah man, wie die Köpfe der Maultiere nickten, wie rasch die Tiere trippelten, wie gravitätisch, schwerfällig neben ihnen die Männer ausschritten. Das alles war sicher romantisch und die Romantik wurde gesteigert durch das Heulen der Granaten, die hoch über den Köpfen unsichtbar dahinsegelten, durch die krachenden Einschläge — aber die Leute, die durch die Nacht tasteten, krochen, marschierten, hatten keinen Sinn für Romantik, und die für sie empfänglich gewesen wären, waren leider nicht auf dem Monte San Michele. Auch Dorniger, Kirschenbauer, Kudernatsch, die am ehesten Verständnis für die Reize der gespenstischen Nacht hätten aufbringen können, empfindsamer als viele andere, Männer mit wachen Ohren und offenen, schauenskundigen Augen, hatten nicht die geringste romantische Empfindung, sondern nur das Gefühl des Zornes, am Schlafen verhindert zu sein — ja, und auch ein wenig Angst, denn wenn sie auch nicht mehr so durch das ungewohnte Surren der Kugeln und das schwere Sausen der Granaten erschreckt wurden, wie in der Nacht des Marsches auf den Monte San Michele, so waren sie doch noch nicht eingewöhnt genug, um nicht immer wieder zusammenzuzucken, wenn ein Artilleriegeschoss in der Nähe einschlug, Steine und Erde aufwühlend und die Trümmer in weitem Umkreis ausstreuend, oder wenn eine Kugel allzu nahe ihren Ohren zirpte.
„Schau, da muss einmal ein Dorf gewesen sein!“ raunte Dorniger seinem Nachbar zu. „Mauertrümmer, stehen gebliebene Wände — und da ein halbes Haus — wieder eine Mauer — und da schau: da ist noch Licht in den Fenstern! Da gibt’s sogar noch bewohnbare Räume!“
Vor einem halbzerfallenerı Gemäuer blieb man stehen. Der Korporal tauchte ins Dunkel, wurde nach wenigen Minuten wieder sichtbar, hieß seine Mannschaft näher treten, aus einer Torwölbung tauchte ein Soldat auf, der Schaufeln und Krampen herausreichte. Jeder packte eines der Werkzeuge und folgte dem Korporal, der seine Schar nur noch ein paar Schritte weiter führte, dann vor einem zusammengebrochenen Tor, das von Mauertrümmern flankiert war, halt machen ließ und nun erst erklärte, welche Aufgabe den Leuten zugedacht war:
„Da is der Friedhof. Der Friedhof von Kotitsche oder wie das Nest früher geheißen hat. Wir müssen Tote eingraben. Die Sanitäter schleppen sie nur bis daher und schmeißen sie an der Mauer nieder, denn wann sie’s auch noch eingraben wollten, würden sie überhaupt nicht fertig. Schaut’s halt, wo’s a Platzerl find’ts und macht’s a Loch und legt’s die Toten eini und dann schaufelt’s die Erden wieder d’rauf. Aber gebt’s Acht dabei! Der Katzelmacher schießt natürlich auch auf den Friedhof!“
Beklommenes Schweigen. Still schlichen die Männer durch die Reste des Tores. ja, da lagen in nächster Nähe, dicht nebeneinander, die Toten. Kameraden, die man nicht gekannt hatte. Und doch Kameraden. Keinem wäre es in den Sinn gekommen, ihnen den letzten Dienst, den man ihnen zu leisten vermochte, zu weigern. Aber sie schritten doch nur zögernd, ängstlich näher, verzweifelnd sich mühend, das Grauen niederzukämpfen. Mein Gott, wie sahen die Leichen aus! Entsetzt starrte Dorniger auf sie nieder. Verschmutzte, eingefallene, verzerrte Gesichter, bläulich-bleich schimmernd im dünnen Lichte des Mondes. Verrenkte Arme, geballte Fäuste, verkrampfte Beine. Aufgerissene Bäuche, zerfetzte Brüste, zerfleischte Arme, zermalmte Köpfe. Wie schrecklich musste der Anblick der Toten bei Tag sein! Jetzt sah man, wenn nicht gerade der Mond ein paar Strahlen auf die gespenstische Gruppe streute, nicht viel, ahnte man das Grässliche mehr, als man es schaute.
Dorniger taumelte zwischen wild ihn bedrängenden Empfindungen, wollte beten, Wollte fluchen, wollte weinen, wollte anklagen, konnte den Blick nicht lösen von der schaurigen Gruppe der Leichen, versuchte die Augen zu schließen und wusste doch, dass er auch dann den Knäuel zerhackter, zerstückelter Leiber gesehen hätte, fühlte Brechreiz in seinem Halse hochsteigen, zitterte und umklammerte krampfhaft, wie im Suchen nach einer Stütze, den Schaft der Schaufel — riss. sich erschöpft auf, als der Korporal mahnte, die Zeit nicht zu vertrödeln. — Die Krampen schlugen in den Boden, wühlten die Erde auf, die Schaufeln hoben .sie hoch, senkten sie, türmten sie zu Haufen neben dem großen, breiten Grab, das die hastige, vom Grauen getriebene Arbeit eilig schuf. Aber das Grab war ja der leichtere Teil der nächtlichen Arbeit — nun mussten die Toten von der Mauer zur Grube getragen und hineingesenkt werden — und davor, die Toten anzupacken, schauderten alle zurück. Der Befehl des Korporals zwang sie. Zu zweit packten sie die Leichname, schleppten sie zum Grab, ließen sie hineinsinken. Kirschenbauer und Dorniger ergriffen einen Mann, dessen Bauch eine einzige große klaffende Wunde war, ein scheußliches Loch, aus dem die Gedärme herausgequollen waren, die nun in Streifen herabbaumelten, da Dorniger den Toten bei den Füßen fasste, während Kirschenbauer unter den starren Armen durchgriff. Wie schwer der Tote war! Keuchend schleppten die Kameraden die Leiche zum Grabe, stöhnend ließen sie die Last hineinsinken. Da — die Gedärme waren nachgeschleift — lagen am Rande des Grabes — Dorniger langte nach der Schaufel und schob mit ihr die scheußlichen Schnüre in die Grube – warf die Schaufel weg, sprang, von Ekel und Entsetzen geschüttelt, zur Friedhofsmauer.
Ssssssssss — Wumm — Krach!
Erde spritzt auf, in hohem Bogen, Steine prasseln, stürzen krachend nieder, bis zur Mauer, an der die Leute kauern, fliegen Splitter. Schreiend springen sie auf, springen in gewaltigen Sätzen über die Gräber hinweg, drängen sich durch das Tor — hinaus, nur hinaus aus dem Friedhof, weg, weg von diesem Orte des vielfachen Todes! Jetzt packen sie auch die Flüche des Korporals. So eine Eselei, wegen einer kleinen Granate gleich auszureißen! Wenn die Italiener noch eine hergeschickt hätten, wären sie mitten in sie hineingesprungen. Besser im Dreck zu liegen, als von einer Granate erwischt zu werden. Übrigens sei das nur ein vereinzelter Schuss gewesen. Jetzt sei schon wieder alles ruhig. Jetzt brauche man nur noch die Werkzeuge abzugeben, dann könne man schlafen gehen.