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III.

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Aus den Kastenwägen, in denen sie steifgefroren waren und sich müde gelegen hatten, tasteten die Soldaten stolpernd hinaus in die Nacht. Den Abhang des Bahndammes trippelten, stelzten, glitten, rollten sie hinab, Nachbarn und Vordermänner, die vorn Dunkel verschluckt waren, stoßend und tretend. Am Fuße des Dammes sammelten sich nach verwirrtem Suchen, denn man erkannte einander nur an der Stimme, die schwarzen Haufen der Züge. Große Glühwürmer krochen den Damm entlang — Offiziere suchten, mit elektrischen Taschenlampen das Gelände ableuchtend, nach ihren Abteilungen, schimpften über die Schlappheit der Kerle, die stehend einschliefen, weckten sie mit ihrem Geschelte, gaben Marschbefehle und führten die Truppen auf eine Wiese oder ein Feld, riefen die Unteroffiziere zu sich, gaben ihnen allerlei Anweisungen und verschwanden im Dunkeln.

„Pyramiden! — Dann könnt ihr bis zum Morgen rasten!“

Richtige Gewehrpyramiden zu stellen, das ist selbst auf den Kasernenhöfen noch selten so gelungen, dass prüfende Vorgesetzte völlig zufrieden waren. Aber es ist eine verflucht schwere Aufgabe, sie in finsterer, frostiger Nacht mit erstarrten Händen zu bauen. Gewehre stürzen, Köpfe prallen aneinander, Körper stoßen auf Körper, Fluch antwortet auf Fluch, Freund beschimpft den Freund, hundertmal geübtes Tun will nicht glücken, es vergeht schrecklich viel Zeit, bis die Gewehre so ineinander, aneinander gelehnt sind, dass sie sich gegenseitig am Fallen hindern.

Man ist dabei ins Schwitzen gekommen und friert doch, es ist ein das Kältegefühl steigerndes Schwitzen — man sehnt sich nach einem heißen Schluck, nach einem trockenen Plätzchen, sich auszustrecken, denkt an die Strohsäcke in den Baracken wie an ein fernes, verlorenes Glück, kauert ratlos auf den Rucksäcken, kältedurchschauert bis ins Innerste. Endlich erlösendes Beispiel der Unteroffiziere, die Decken und Zeltblätter aus den Rucksäcken ziehen, sich sorgfältig einwickeln in diese Hüllen und zum Schlafen hinlegen. Einer sagt es dem andern: Die Decken und die Zeltblätter sollen wir uns nehmen! – Hastiges Suchen an den Rucksackschnüren, Tasten der Hände, wütendes Zerren. Irgendwie findet doch jeder eine Hülle, mummt sich ein, streckt sich lang, bettet den Kopf auf den Rucksack, versucht zu schlafen.

„Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht schlafen!“ raunt Dorniger dem dicht neben ihm kauernden Kirschenbauer zu. „Mir wird immer kälter. Aus der Erde steigt immer mehr Kälte auf. Pass auf, da krieg ich wieder meinen Rheumatismus!“

„Dann sei froh, da kommst d’ ins Spital. Aber bild dir nicht zu früh was ein! Ich sag dir nur so viel: Wenn du nicht steif wirst wie ein Holzklotz, giltst du nicht als krank!“

„Und die Offiziere“, grollt Dorniger, „die Offiziere, die stecken sicher schon irgendwo in den Federn. Und unsereiner kann sich da den Tod holen!

„Ob da oder wo anders — das ist doch Wurst! Aber ich glaub nicht, dass wir da ewig liegen bleiben. In der Früh werden wir schon dorthin marschieren müssen!“

„Dorthin? Was meinst d’ mit dem Dorthin?“

„Sei einmal ganz still und horch! Dann wirst du’s hören, wohin wir marschieren werden!“

Dorniger lauschte angestrengt, mit geschlossenen Augen, alle Aufmerksamkeit sammelnd in den Ohren. Zunächst hörte er nur das Schnarchen der Soldaten, ihr Gestöhne, ihre Bewegungen, die Schritte der Wachen — aber über diesen Geräuschen erhob sich, diese Laute durchtönte leises, dunkles gleichmäßiges Rollen. Ein nahendes Gewitter? Aber was hatte ein Gewitter mit ihrem Marschziel zu tun? Und so ohne Unterlass, so gleichartig, so gleich im Tone rollte kein Donner. Das war etwas anderes. Das war . . . Dorniger begann zu verstehen, und als sein Kamerad ihn fragte: „Na, hast du’s gehört?“ — da antwortete er nur mit einem gepressten „Ja!“ und vergrub sich in eine quälerische Grübelei. Morgen schon an die Front? So war man also dicht vor dem Ziele? Diesem fernen, dumpfen Rollen wird man entgegen marschieren, und je näher man kommt, umso stärker, gewaltiger, drohender wird es werden, und wenn man ganz nahe ist, wenn man an dem Ursprung dieses Donners ist, o mein Gott, dann marschiert man in ihn hinein und wird von ihm zermalmt! Als großes blutiges Maul sah sein überhitztes Gehirn die Front, als einen gigantischen Rachen, in den die armen Soldaten hineinmarschierten.

Doch mit diesen gräulichen Bildern, die sie durch seinen Schädel jagte, löschte seine Phantasie auch das Bewusstsein aus, schenkte sie ihm schon die ersten Traumerscheinungen, und war der Traum auch schreckensbunt und martervoll, so War er doch Begleiter des Schlafes, der den Müden überwältigt hatte.

Kälte weckte im grauenden Morgen den Erstarrten, andere hatte sie schon früher aufgetrieben. Fröstelnd krochen die Leute aus ihren Decken.

Zitternd stampften sie auf und ab. Verdrossen begannen sie ihre Rucksäcke zu packen. Dorniger sah nach seiner Uhr. Erst sechs! Und doch war an kein Schlafen mehr zu denken. Kameraden, die bereits auf Erkundigungen ausgezogen waren, kamen über die Wiese hergewandert.

„Nur zehn Minuten von da ist ein Dorf, ein paar dreckige Hütten nur, aber ein Wirtshäusel gibt’s auch!“

Da trotteten auch Dorniger, Kirschenbauer und noch einige andere nach dem Gasthaus. Die niedere Stube war überfüllt. Soldaten, Soldaten! Sie drängten, schrien, verlangten Kaffee oder Tee.

„Nix Kava! Nix Tschai!“ rief ihnen die Wirtin zu. „Vino!“

„Na, so geben S’ uns an’ Wein!“

Lachend hob Kirschenbauer das Glas:

„Dorniger, du kennst doch das Oktoberlied von Storm! Der vierundzwanzigste Oktober ist heut, und ein trüber Tag, und er bleibt’s, wenn vielleicht auch später die Sonne scheinen sollt’. Da kann man das brauchen: Schenk ein den Wein, den holden! Wir wollen uns den grauen Tag vergolden, ja vergolden!“

„Aber nicht mit einem solchen Krätzer!“ antwortete Dorniger, der schon den Wein gekostet hatte und sich schüttelte vor Entsetzen. „So ein saurer Dreck!“

„Meiner Seel”“, bestätigte Federl. „Net amol in meine Schuah mag i so was, viel weniger in ‘n Magen!“

„Na siehst d’, Federl, du kannst dir nicht einmal mehr einen Schwips antrinken vor dem Marsch an die Front!“

„Wer red’t denn was von der Front? I hab’ mi schon erkundigt. Den Kadetten hab’ i g’fragt, der jetzt unser Zugskommandant ist. I kann ma’s schon erlauben, weili ‘n ja immer rasier — der hat ma g’sagt, dass ma no a Weil in da Etappe bleiben.“

Da zuckte Dorniger zusammen. Noch nicht an die

Front! Ein paar Wochen in der Etappe! Wer weiß, was in den paar Wochen alles geschah! Vieles konnte sich ändern. Und vielleicht — vielleicht kam man überhaupt nicht mehr an die Front. Vielleicht wollte man die Landsturmleute schonen. Vielleicht – aber tröstende Hoffnung umwob dieses „Vielleicht“ mit dem trügenden Schein der Gewissheit. Freudige Erregung packte die Soldaten. Die Angst verkroch sich, sogar die Ermüdung, die sie noch vor wenigen Minuten niedergebeugt, wurde nicht mehr gefühlt. Sorgloser lachten, munterer plauderten sie. Zeitgewinn! Daran klammerten sie sich. Zeitgewinn — das war vielleicht — wahrscheinlich — o nein, ganz gewiss Lebensgewinn!

Sie murrten nicht, als schimpfende Unteroffiziere sie holten. Sie marschierten ja nicht an die Front! Wohin sie sonst zu gehen hatten, War gleichgültig. Was sonst geschehen mochte, belanglos. Voll guter Laune waren sie beim Antreten, frohgemut marschierten sie, und als sie nach wenigen Minuten vor einem offenen Schuppen hielten, der ihnen als Quartier angewiesen Wurde, machten sie Witze über den „Palast“, scherzten sie über die „luxuriösen Betten“ — zertretene und zerlegene Strohschütten, auf die sie sich, eilig Gewehr und Rucksack abwerfend, lachend hinsinken ließen.

Das war ja, für die meisten wenigstens, so etwas wie ein Abenteuer, das Lagern im Stroh. In kindlicher Lust stürzten sie sich hinein, wirbelten es herum, verkrochen sich darin, so dass nur noch die grinsenden Gesichter herauslugten. Übermütig kitzelten sie einander mit den Ähren, langten sie durch die Haufen, um den Nebenmann zu puffen, und ragten irgendwo Füße heraus, so wurde an ihnen gezerrt, bis die Beine und schließlich der ganze kreischende, sich vergebens mit den Händen an die abwehrenden Kameraden klammernde Mann dem Halmgewirr entrissen war. — Die Gesichter röteten sich, wohlige Wärme durchflutete die Körper, vergessen war die peinvolle Bahnfahrt, das Frieren auf der kahlen Wiese, die Angst, die noch vor wenig mehr als einer Stunde alle geschüttelt hatte. So hemmungslos, als wären sie wieder zu sorglosen Buben geworden, gaben sie sich der Lust des Augenblicks hin, und so selbstvergessen trieben sie allerlei Schabernack, dass sie, als der Befehl zum Antreten sie traf, erstaunt auffuhren, einander verwundert anschauten, ein wenig verlegen über dieses Spiel gereifter Männer, langsam sich zurücktastend zur Wirklichkeit, der sie für ein Weilchen entschlüpft waren. Rasch schüttelten sie den Staub ab, streiften sie die Ähren und Halme von den Kleidern, packten die Gewehre, machten sie sich fertig zur „Beschäftigung“.

*

Slavina hieß das Dorf, in dem sie untergebracht waren. Ein kleines slovenisches Dorf in der Nähe Adelsbergs. In welchem Lande und in welcher Gegend des Landes sie steckten, hatten die Soldaten nun doch schon erfahren.

Der Zug, dem Dorniger, Kirschenbauer und ihre nächsten Kameraden angehörten, wohnte auf einem Heuboden. Angenehm warm lag man auf dem Stroh, und unter Decke und Zeltblatt schlief sich’s ganz wohlig. Breitete man die zusammengelegte Bluse über den Rucksack, dann hatte man auch eine feine Unterlage für den Kopf, wenn der Rucksack nicht zu ungeschickt gepackt war. Und für die nötige Müdheit, für die Bereitschaft des Körpers zum Schlafen sorgte die täglich härter und anstrengender werdende „Beschäftigung“.

Am ersten Sonntag wurden Dorniger, Kirschenbauer und ein paar andere, die auf die Teilnahme am Kirchgang verzichtet hatten, zu einer andern Andacht kommandiert. Anstatt, wie sie gehofft hatten, den Vormittag auf dem Stroh verfaulenzen zu können, mussten sie den Hof des Bauern, bei dem sie einquartiert waren, aufräumen und fegen. Man sah es nicht gern, dass Soldaten sich vom Kirchenbesuch drückten . . .

Aber der Nachmittag blieb frei. Nur ein paar Übereifrige, die dafür von den anderen mit grimmigem Hohn überschüttet wurden, putzten an ihren Gewehren herum. Ein paar Kameraden schrieben Briefe. Die meisten Soldaten suchten nach einem Plätzchen in der Hostilna, dem primitiven Gasthaus, in dem es nichts anderes gab als schlechten Wein. Aber so sauer er war — er feuchtete doch die Zungen und Kehlen der ihr Kartenspiel mit lauten Ausrufen begleitenden Männer, der aufgeregt ins Spiel sich einmengenden Kibitze, der unermüdlichen Debattierer. Dorniger und Kirschenbauer schlenderten vor das Dorf hinaus zu einer der Mauern, mit denen die Felder umsäumt waren, krochen hinauf und träumten ins Land.

Herbes, frostiges Land. In der Nähe nur Hügel, kahl und steinig. All überall Steine. Mauern, aus aufgeschichteten Steinen gebildet, umgürteten jedes Feld, jede magere Wiese. Wie mühsam musste hier die Bodenbearbeitung sein! So fern Dorniger der Landwirtschaft war, das begriff er doch, dass die Steinwälle, die oft in seltsam zackigen Linien die Äcker umgrenzten, die kostbare Erde schützten vor der stürmenden Bora. Schulerinnerungen stiegen in ihm auf, langsam kehrte ins Gedächtnis zurück, was er früher einmal gelernt, in seinen Bubentagen gelesen hatte vom Karst, von seiner Eigenart. Aber das war wohl nur Vorland des Karstes. Ja, dort im Hintergründe der waldlose Höhenzug, das war der Karst. Und dort — dort war die Front!

Von dort her kam auch das Rollen, an das man sich nun schon so gewöhnt hatte, dass man es nicht beachtete, eher erstaunt war, wenn es einmal verstummte. Aber die Front war doch’ noch etwas Fernes, räumlich und zeitlich Fernes — wozu an sie denken?

Dorniger ließ sich sinken in wehes Dämmern und Träumen. In die kahle, karge Landschaft träumte er die Komotauer Umgebung hinein, den Alaunsee, die sanften dunklen Höhen des böhmischen Erzgebirges, deren Wälder er so oft durchwandert hatte. Nicht die herbstlichen Wälder sah er — so erlebte er sie, wie er sie in den letzten Sommerwochen gesehen — ja, damals gab es am Alaunsee noch viele Badende, war es noch recht bunt und lustig, sprang das unbekümmerte Lachen junger Menschen über das Wasser. Freilich, es waren mehr Mädchen als Burschen, der Krieg hatte doch schon die meisten der jungen Männer fortgeholt. Es hatte im Turnverein auch schon Trauerkneipen gegeben, ein paar Freunde waren schon gefallen . . .

„Nein, du kommst nicht los vom Krieg! Du, musst an ihn denken, ob du willst oder nicht!“

„Aber Kirschenbauer! Red’ mir doch nicht ein, dass du meine Gedanken erraten kannst!“

„Na, das ist doch kein Kunststückel! Das sieht man doch jetzt leicht einem Menschen am Gesicht an, was er denkt! Wenn einer so ein starres Gesicht macht und so traurige Augen hat, dann grämt er sich über den Krieg. Ist kein Wunder. Ich kenn keinen, der begeistert ist.“

„Hast recht. Begeistert ist keiner. Aber ich glaub’, das erwartet man auch gar nicht. Von Familienvätern kann man doch keine Begeisterung verlangen!“

„So? Man verlangt sie nicht? Der alte Tepp, der uns in Graz die Abschiedsrede gehalten hat, ist sogar davon überzeugt, dass wir begeistert sind! Was weiß denn der von uns? Was wissen denn die Herren mit den silbernen und goldenen Krägen überhaupt von uns? Die sind doch in Offiziersschulen aufgezogen worden, die haben immer nur mit Offizieren und anderen Berufspatrioten verkehrt, die haben das so gelernt und haben das immer so gehört, dass die Untertanen freudig Gut und Blut für ihren Kaiser hergeben. Warum sollten sie dann nicht glauben, dass wir begeistert sind? Die wissen doch überhaupt nichts davon, dass wir unsere eigenen Gedanken haben und unseren eigenen Willen. Für die sind wir doch nur so etwas irgendwie Menschenähnliches . . .“

„Na, wenn einer von denen dich hören könnt’ — da kriegten sie doch eine Ahnung. Aber die andern reden doch nicht so wie du . . .“

„Weil sie überhaupt nicht viel reden von dem, woran sie immer denken. Reden lieber von ihrem Beruf, von ihren Weibern und Kindern, von der Heimat — und dann, sie können nicht die rechten Worte finden für das, was in ihnen vorgeht. Wenn man bei der Musterung das Wort „tauglich“ hört — das ist für die meisten, wie wenn sie einen Hieb über den Schädel kriegten. Da gehen sie dann herum wie blöd. Sie haben alle einen Knacks. Und wenn sie nicht grad bei einer Übung wie die angezogenen Affen herumhüpfen müssen oder nicht Karten spielen oder saufen — dann grübeln sie herum und grübeln und kommen zu keinem Ende. Und dann sagen sie sich: das ganze Nachdenken nützt nichts! ‘s ist gescheiter, wenn man sich ansauft. Dann vergisst man wenigstens.“

„Aber du — du bist mit deinem Nachdenken zu einem Ende gekommen?“

„Nein, zu einem Ende noch nicht. Aber ich hab’ über den Krieg schon nachgedacht, noch ehe er da war!“

*

„Schultert! — In die Hands! — Bei Fuß!“

Klapp, klapp! — Klapp, klapp! — Klapp, klapp!

Gleichmäßiges rhythmisches Klatschen der die Gewehrschäfte packenden Hände begleitete die Kommandos. Die Gewehre hoben sich, flogen über die Schultern, rutschten in die Hände, sausten wuchtig auf den Boden.

„Schultert!“ — Klapp, klapp! — „In die Hands!“ Klapp, klapp! — „Bei Fuß!“ — Wupp!

„Du schau, do kommt der Alte! Wia blöd dass a daherstagelt!“

Oberleutnant Stümmerl stelzte hastig über das Feld, der Truppe zu, die eben mit ihrer Nachmittagsbeschäftigung begonnen hatte und sich der Unterbrechung innig freute.

Der Oberleutnant, dem die Zugskommandanten diensteifrig entgegenstürzten, blieb nachdenklich vor der Truppe stehen, nahm die Kappe ab und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Den Klemmer rückte er zurecht und sah prüfend über die Soldaten hin.

„Ruht! — Und jetzt aufgepasst! Ich brauch fünfzig Mann, aber intelligente, tüchtige Leute, für eine sehr heikle Aufgabe. Wer meldet sich freiwillig?“

Der ganze Zug meldete sich. Man wollte beisammen bleiben. Weil man Abtransport der Fünfzig an die Front befürchtete, wollte man sich nicht von vertrauten Kameraden trennen. „Also probier’n wir’s mit dem ganzen Zug!“ seufzte der Oberleutnant. „Hoffentlich läuft alles gut ab! Kinder, in einer Viertelstunde müsst ihr marschbereit sein!“

Zwanzig Minuten später marschierte der Trupp auf der Straße nach Adelsberg. Vor dem Orte ließ Stümmerl halten und musterte nochmals seine Leute. Sein Blick blieb auf Dorniger und Kirschenbauer haften.

„Ihr macht einen intelligenten Eindruck. Ihr tretet aus, wenn wir beim Bahnhof halten. Und Sie und Sie auch!“ Damit deutete er nach dem Heinzelmeier und dem Skala. „Und jetzt vorwärts!“

Die Abteilung marschierte in Adelsberg ein, durchquerte den Ort, der weniger Zivilisten als Soldaten zeigte, zog nach dem Bahnhof und wurde dort in das Heizhaus geführt. Hier hielt Oberleutnant Stümmerl im Flüsterton eine Ansprache:

„Kinder, Seine kaiserliche Hoheit, der Feldmarschall Erzherzog Friedrich kommt nach Adelsberg! Wir müssen den Bahnhof bewachen. Eine große und verantwortungsvolle Aufgabe! Zugsführer Kreistner, Sie gehen mit mir, die Leute aufstellen. Die weitere Umgebung des Bahnhofes ist schon besetzt. Wir haben hier im Innern Wachen aufzustellen. Es muss so geschehen, dass Seine kaiserliche Hoheit keinen der Posten sehen kann. Jeder muss also in guter Deckung aufgestellt werden — hinter Signalhäuschen, dort hinter den Wagen — wo halt ein geeigneter Platz zu finden ist. Und dass sich keiner von euch zeigt! Dass mir keiner hervorkriecht, weil ihn die Neugier packt! Seine kaiserliche Hoheit wäre sehr, sehr ungehalten, wenn er auch nur einen von euch zu Gesicht kriegen würde! Und ihr habt auch ja nicht nach dem Hofwagen zu schauen, sondern sehr sorgfältig die Umgebung zu beobachten. Sobald der Hofwagen einfährt, dürft ihr keinen Menschen mehr passieren lassen, keinen Mann, keine Frau, auch keinen Eisenbahner! — So, Kreistner, führen Sie die zwanzig Mann auf! Die anderen können einstweilen da in dem Wagen rasten!“

Die Hälfte der Mannschaft kroch in den Viehwagen, der im Heizhause bereitstand, die andere folgte dem Zugsführer. Die vier Auserwählten aber geleitete Stümmerl in ein kleines Wartezimmer.

„Jetzt passt ‘s gut auf! Ihr habt die allerschwierigste Aufgabe! Dorniger und Kirschenbauer – ihr werdet vom Korporal Meindl in dem Augenblick, wo der Zug Seiner kaiserlichen Hoheit einfährt, beim Hofwagen aufgeführt. Der eine hat sich links, der andere rechts von der Tür aufzustellen. Und dann macht ihr ‚Rechts schaut!’ und steht stramm, wenn der Herr Erzherzog den Zug verlässt — aber ihr müsst stehen, wie wenn ihr aus Eisen wär’t! Keinen Muckser dürft ihr machen! Und so steht ihr, bis der Herr Erzherzog drinnen im Bahnhof ist. Dann erst dürft ihr ‚Ruht!’ machen. Dann werdet ihr auch bald abgelöst — aber ihr dürft das Zimmer da nicht verlassen, bis der Herr Erzherzog wieder wegfährt. Da müsst ihr wieder Ehrenwache sein — ‘s ist am besten, dass wieder ihr zwei beim Wagen steht, weil ihr euch dann schon auskennt. — Kinder, Kinder, macht’s es gut! Macht mir keine Schand! Denkt’s daran, dass Seine Hoheit die erste Person nach dem Kaiser ist! — So, jetzt legt die Rucksäcke ab – lasst’s euch noch einmal anschauen, ob die Adjustierung in Ordnung ist — so, und jetzt könnt’s no a bisserl rasten!“

„Geh hörst d’, so schön hat no kaner g’sungen, wann er mit uns g’red’t hat. Muss der a Angst haben, dass ‚n Friedrich was net g’fallt an eich!“ meinte Heinzelmeier. „Na, i bin eich net neidig drum, dass ös beim Wagentürl stehn und eichern Servus reißen miaßt’s. Mir is’ schon liaber, i bin nur Reserve im Wartezimmer!“

Nach zwanzig Minuten stürzte Stümmerl ins Zimmer, hastend, aufgeregt, den Klemmer nahm er ab und setzte ihn wieder auf, und wieder musterte sein ängstlicher Blick die stramm Stehenden.

„Der Hofwagen kommt schon! jetzt nehmt’s euch zusammen. Recht stramm! Nur recht stramm! Korporal Meindl!“

„Befehlen!“

„Machen Sie die Tür auf — so — ja, dass ihr sofort hinauskönnt! Achtung!“

Langsam glitt der Zug heran. Schon marschierte Meindl mit seinen zwei Leuten aus dem Zimmer, über den Bahnsteig, dem langgestreckten Prunkwagen zu. Die Tür öffnete sich. Ein Offizier sprang heraus. Zwei Soldaten folgten, die eine Treppe herabließen. Rechts und links von den Stufen postierten sich Dorniger und Kirschenbauer. Dorniger riss den Kopf nach rechts, aber er schielte doch noch ein wenig nach dem Bahnsteig und sah nun, wie zwei Soldaten im Vorspringen einen langen roten Teppich aufrollten, bis zum Fuße der Treppe. Dann hüpften sie rasch zurück. Korporal Meindl war schon verschwunden. Tiefe Stille lag über dem Bahnhof, dessen Vorplatz sich rasch mit Uniformierten aller Art gefüllt hatte.

„Habt Acht!“

Laut schmetterte das Kommando. Unbeweglich stand auf dem Bahnsteig die Gasse der hohen Offiziere, die Köpfe dem Hofwagen zugewendet. Statuenstarr, wie gegossene Figuren, standen Dorniger und Kirschenbauer.

Dem Wagen entstieg, mit jedem Arm sich stützend auf einen Offizier, ein alter plumper Herr in blaugrauem Soldatenmantel, unter dem die breiten roten Generalsstreifen hervorlugten. Ein dicker Pelzkragen verhüllte fast ganz das stumpfe Gesicht, in dem eine Brille funkelte. Langsam schritt der Erzherzog, gestützt auf seine Begleiter, über den breiten Teppich nach dem Bahnsteig, durch die Doppelmauer der Offiziere, in den Bahnhof.

Jetzt öffneten sich auch die Türen der anderen Wagen. Offiziere und uniformierte Männer, die Dorniger für Hofbeamte hielt, entstiegen ihnen – ein Mann mit einem federgeschmückten Jägerhütchen, dann Feldgendarmen, einer so unförmig dick, dass Dorniger staunend auf die nach allen Seiten überquellende Fülle glotzte, die aussah wie eine Presswurst in Uniform. Lachend wälzten sich die Gefolgsleute, im Weggehen Scherzworte mit den dicken, blühweiß gekleideten Köchen an den Fenstern des Küchenwagens wechselnd, dem Bahnhofe zu. Aber noch waren nicht alle Sensationen vorüber. Dorniger und Kirschenbauer, die nun wieder ihre Starrheit verloren hatten, sahen, wie aus einem der Wagen ein großes Automobil ausgeladen wurde. Der Wagen war besonders gebaut für diesen Autotransport. Eine Seitenwand wurde auseinandergeschoben, ein großes Schiebebrett klappte nieder, das Auto rollte langsam auf den Boden, glitt aus dem Bahnhof — der Erzherzog führte auf seinen Bahnfahrten ein Auto mit!

Korporal Meindl holte die Wachen und führte sie zurück in das kleine Wartezimmer.

„I kann eich gor net sog’n, wia i zittert hob! Aber guat habt’s es g’macht, recht guat! Da Herr Oberleutnant wird a z’frieden sein!“

Langsam schlichen die Stunden dahin. Nacht wurde es. Den Warteraum der Soldaten hatte man natürlich nicht geheizt. So konnten sie auch nicht schlafen, trippelten sie ungeduldig in der kleinen Stube umher, insgeheim den Erzherzog und das Hauptquartier der Isonzoarmee, das in Adelsberg war, und den ganzen Krieg wild verfluchend. Einmal schlich sich Dorniger hinaus nach dem Wagen im Heizhause, in dem er die Kameraden wußte. Die klapperten vor Kälte, schimpften und fluchten in allen Tonarten und verlangten zu wissen, wie lange sie denn noch hier in Frost und Dunkel hocken mussten.

„Da muaßt d’ z’erst a Stund in der Kälte draußen stehn, net amol umaranandgehn derfst d’, damit di net zufällig aner vom Erzherzog seine Offiziere siecht, und wannst d’ dann abg’löst wirst, musst a wieder in der Kälten sitzen. Ma waß net, is’ draußen kälter oder da herin”. Und da Friedrich, der sitzt derweil wo in an wacherlwarmen Zimmer und sauft Champagner.“

Dorniger konnte den Kameraden nichts Tröstliches sagen, denn dass er es in seinem Wartezimmer wenigstens bequemer, wenn auch nicht sonderlich wärmer hatte, konnte die anderen nicht erfreuen. Aber auch diese Stunden des Wartens vergingen, wie so viele verwartete Stunden vorher, und gegen zwei Uhr nachts wurden Dorniger und Kirschenbauer wieder zur Tür des Hofwagens postiert. Die Hofbeamten rückten an, der Mann mit dem flotten Jägerhütchen und den beiden grünen Streifen an den Hosen, die Feldgendarmen kamen, und alle gruppierten sich auf dem Perron. Die hohen Offiziere tauchten wieder auf, und es bildete sich wieder eine lebende Mauer — und der Erzherzog tauchte aus dem Tor, schritt, gestützt auf seine Begleiter, an den salutierenden und ihm mit langsamem Wenden der Köpfe folgenden Offizieren vorbei, über den Teppich zu seinem Wagen. Dorniger und Kirschenbauer reckten sich, strafften sich, erstarrten, rissen die Köpfe herum, blickten unbeweglich nach dem Feldmarschall. Der stockte am Fuße der Treppe — den Bruchteil einer Sekunde vielleicht nur — ein teilnahmsloser Blick glitt durch die funkelnden Gläser über den Soldaten — glitt von ihm weg, wandte sich dem Wagen zu. Langsam stieg, indes seine Arme auf denen der Adjutanten ruhten, der Erzherzog die Treppe empor, die Offiziere folgten, die Treppe wurde aufgezogen, die Tür schloss sich.

Ein paar Minuten später marschierten die beiden Wachen ab, eine Viertelstunde später schlich die ganze Abteilung, krochen die durchfrorenen Soldaten aus dem Bahnhof, formierten sie sich zum Zug, um die Stadt des Generalstabes der Isonzoarmee zu verlassen . . .

Als am zweitnächsten Tage Zeitungen kamen, meldeten sie, dass der Feldmarschall Erzherzog Friedrich an der Isonzofront geweilt habe, inmitten seiner geliebten Soldaten, von deren Kampfgeist er sich neuerlich überzeugt habe.

Der Marsch ins Chaos

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