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Kapitel 2 VERLOREN

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Kühle frische Luft füllt langsam den Raum.

Vertreibt alten, schweren, von Krankheit geschwängerten Mief nach außen in die Vergangenheit.

Gardinen schweben, leicht spielend wie Federn, vor den geöffneten Fenstern.

Ab und zu mischt sich ein wärmerer Lufthauch dazwischen - ein leises Ahnen des nahenden Frühlings.

Der verschwommene Blick nimmt die fernen Konturen der Bergsilhouette kaum wahr.

Das Weiß der schneebedeckten Bergrücken verschwimmt mit dem milchigen Himmel.

Die Gedanken entschweben.

Mischt sich da nicht auch der Geruch von Lokomotivenrauch in die Nase?

Wirre Geräusche - Stimmen - Kommandos - weinende Kinder - Rufe - das Fauchen der Lokomotiven - das Rattern von Zügen? Tscht-tscht – tscht-tsch - klack-klack – klack-klack - klock-klock – tock-tock – toni-toni - toni-toni … Toni ….

Kalt wird’s langsam im Zimmer. Der Mann kniet auf dem Boden und liegt mit dem Oberkörper über dem Bett. Wie viel Zeit ist vergangen?

Eine Stunde? - Ein Tag? – Jahre? - 40 Jahre?

Die Hände sind ineinander verschlungen.

Seine langen Haare bedecken das liebe, kalt werdende Gesicht der alten Frau.

„Toni – Toni … mein Bub …“

Der Zug rattert weiter: Toni-Toni - mein-Bub – mein-Bub, Bub-Bub…

Ihre Hand gleitet aus seiner…

Wie im Film schweben die Wolken in der Ferne vorbei.

Neue tauchen auf, um auch wieder auf der anderen Fensterseite zu entfliehen.

Seine Gedanken führen einen Kampf - sie wollen bei der Mutter bleiben.

Die Wolken verlocken sie jedoch sich anzuhängen, mit ihnen zu fliegen, - lassen sich nicht mehr bändigen - sie fliegen … fliegen… fliegen…

* * *

Durch den beißenden Rauch erscheint, zuerst unklar, auf der Bahnstation unbeschreibliches Chaos. Details werden immer deutlicher: abgestellte Transportwagen, Vieh-Transporter, teils zu Schrott bombardiert, ebenso viele Militärfahrzeuge, Panzer, zerstörte Gebäude.

Dazwischen eine Unzahl von Soldaten, Zivilisten. Ohrenbetäubender Lärm.

Ausgemergelte Gestalten in zerlumpten Wehrmachtsuniformen oder was noch davon übrig blieb, bemühen sich, teils mit primitivem Werkzeug, teils von Hand, die Gleise zu reparieren. Andere hantieren an Schrott-Fahrzeugen. Überall Bemühungen, in das Chaos Ordnung zu bringen. Was man vom Schrott irgendwie verwerten kann, wird ausgebaut, um andere Teile wieder gangbar zu machen.

Erbärmlich gekleidete Soldaten, aber mit Waffen im Anschlag beaufsichtigen die Bauarbeiter, die offensichtlich Gefangene sind. Dazwischen hörte man deutsche Sprachfetzen. Mancher wird mit einem Gewehrkolben zur Eile angetrieben.

Neugierige Zivilisten werden auf Distanz gehalten. Jeglicher Kontakt mit diesen bedauernswerten Menschen ist verboten.

Die Zivilisten halten sich sowieso auf Abstand, schon damit sie möglichst nicht mit diesen Soldaten zusammen kommen, mit diesen will niemand etwas zu tun haben.

Vereinzelte Worte in einer fremden Sprache sind zu vernehmen, offensichtlich russisch.

Nur ein Kommandant pflegt offiziellen Kontakt mit der Seite der Zivilisten.

Ein Lagerkommando, bestehend aus ausgedienten Wehrmachtsangehörigen, versucht, etwas Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen.

Fernes Pfeifen und dunkler Rauch kündigt einen neuen Transportzug an.

Fauchend nähert sich die Lokomotive im Schritttempo.

Ein neuer „Vieh“-Transport fährt ein, die Menschenmassen weichen zurück, Frauen ziehen ihre Kinder fort - Rufe, Schreie.

Der Zug hält - die schwarze Lokomotive steht drohend!

Heißer Dampf zischt seitlich ins Freie. Besonders die sich nahe befindlichen Personen drängen sich gegen die hinter ihnen stehenden Menschen, um nicht verbrüht zu werden. Menschen fallen übereinander.

Erbarmungslos hat sich die Lokomotive Platz gemacht.

Die Männer der mitfahrenden Wachtruppe springen von den Trittbrettern, eilen auf die einzelnen Wagen zu und stoßen mit den Gewehrkolben die Türriegel auf.

Wychodi – Wsem wychodtj! (raus! – alles raus!)

Mehr oder weniger zerlumpte Gestalten quellen aus dem Inneren und stürzen auf das Schotterbett, nachfolgende darüber. Kinder und Alte fallen heraus.

Zu Bündel geschnürte Habseligkeiten werden ins Freie geworfen, deren Besitzer springen hinterher, um sie wieder einzusammeln. Hingefallene entfernen sich kriechend. Angehörige versuchen Hilfe zu geben.

Unbeschreibliche Szenen spielen sich ab: Mütter mit kleinen Babys, in einem Tuch um die Schultern gebunden, andere ziehen die schon etwas größeren Kinder hinter sich her – nur schnell weg vom Zug. Männer drängen wieder zurück, um die sich noch in den Wagen befindlichen Habseligkeiten herauszuholen. Mancher findet seine Sachen nicht mehr, ein Anderer hat es wohl brauchen können.

Wo sollen sie hin?

Viele Menschen - sind es Hunderte? Tausende? - lagern schon in der Umgebung.

Jede Möglichkeit suchend, ob Bauruine, zerschossener Wagen, Lkw – egal. Manche haben irgendwelche Planen gespannt, Hauptsache man ist etwas geschützt.

Dazwischen qualmender Rauch, der zu Tränen reizt.

Feuer sind entfacht. Frierende Hände werden aufgewärmt. Kleidungsstücke hängen darüber zum Trocknen. Hin und wieder verteilt sich auch ein angenehmer Duft –

in Töpfen brutzelt irgendwas zu Essen.

Das neue Jahr 1946 hat erst angefangen.

Minus 10 ° C, nachts sogar noch etliches darunter. Niemand kann es messen.

Es liegt zum Glück wenig Schnee. Was heißt Schnee, hier am Lagerplatz ist davon sowieso nur wadenhoher Matsch übrig, der nachts gefriert. Den Schnee können die Menschen aber sogar gebrauchen. Sie gehen mit diversem Geschirr hinaus, um außerhalb des Lagerplatzes sauberen Schnee einzusammeln – kostbares Wasser zum Trinken, zum Kochen und um sich etwas zu waschen.

Zum Glück liegt ein kleiner Wald in der Nähe.

Mancher sucht ihn auf, um seine Notdurft zu erledigen. Andere aber haben sich hier unter den schützenden Bäumen ihr Lager eingerichtet.

Dorf-Gemeinschaften, Familien mit ihren Angehörigen, versuchen beieinander zu bleiben. Wie und wann geht es weiter?

* * *

Die Aktion der Vertreibung begann bereits 1945.

Die geschlagenen deutschen Truppen waren schon lange fort. Diejenigen, die Pech hatten, befanden sich in russischer Kriegsgefangenschaft.

In allen Ländern, von der Ostsee bis nach Jugoslawien, lebten Millionen Deutsche. Vor Jahrhunderten hatten sich diese hier angesiedelt. Damals bot sich ihnen die Möglichkeit, zu eigenem Besitz zu kommen. Die Menschen wurden sogar mit Versprechen mancher Privilegien angeworben, sich hier niederzulassen. Deutsche waren überall sehr willkommen.

So haben die Einwanderer erheblich zur Aufwärtsentwicklung und Entstehung blühender Landwirtschaften beigetragen.

Aber der 2. Weltkrieg, von dem auch die Länder betroffen waren, in denen die deutschen Neusiedler ihre neue Heimat gefunden hatten, veränderte die Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen.

Aus Freunden wurden plötzlich Feinde, die man loshaben wollte.

So wie damals eine Völkerwanderung in Richtung Osten stattfand, erfolgte jetzt die Umkehrung. Ort für Ort wurde „gesäubert“.

Die Frage war aber: Wer war „Deutscher“ – das musste erstmals festgestellt werden.

Viele „Deutsche“ hatten auch, um bestimmte akademische Berufe oder ein Amt im Staatsdienst ausüben zu können oder aus sonstigen Gründen, ihre Namen in einen ungarischen umschreiben lassen.

Bereits bei der Volksbefragung zu Kriegs-Anfang mussten sich die Ungarndeutschen entscheiden, ob sie sich zu der ungarischen oder deutschen Staatsangehörigkeit bekennen wollten. Niemand hatte aber eine Ahnung, welche Auswirkungen dies einmal haben würde.

Die politischen Veränderungen wirkten sich verheerend aus: Solange die deutsche Armee siegreich war, waren viele Ungarndeutsche gern „Deutsche“. Viele, auch richtige Ungaren, dienten in der deutschen Armee, freiwillig oder auch zwangsrekrutiert. Mit den Niederlagen fand aber auch ein Gesinnungswandel statt.

Die bekennenden „Deutschen“ wurden in Listen – in Transportlisten - eingetragen.

Wieder wusste man nicht, was mit ihnen passieren würde.

Die sich zur ungarischen Nationalität bekannten, also die „Ungarn“ blieben in Ungarn. Es wurden aber alle enteignet.

So entwickelte sich ein richtiges Katz- und Mausspiel:

Die Leute versuchten auf verschiedene Weise und mit den raffiniertesten Tricks, ihre wertvollsten Gegenstände vor dem Zugriff zu verstecken. Manches wanderte nachts unter einen Strohhaufen, unter Sägespäne, Misthaufen oder man vergrub es in der Erde.

Einzelne Häuser wurden schon schrittweise von Fremden bezogen. Die rechtmäßigen Besitzer mussten ausziehen und schauen, wo sie unterkamen. Dies konnte in Scheunen, Ställen, bei der Verwandtschaft oder auch in den Weinkellern sein, die jeder hatte.

Gefährlich war aber das Verstecken von Gegenständen, alles war ja schon zu Volkseigentum erklärt. Überall Spitzel und Sympathisanten der Kommunisten.

Letztendlich waren aber die Bemühungen, sich den Enteignungen zu widersetzen, zwecklos. So verteilten sich andere Entwurzelte, auch Enteignete aus den Nachbarländern, auf die verlassenen Besitztümer – im Ungewissen, ob das für immer war und deshalb ohne besonderes Engagement.

Die zurückbleibenden Deutschen mussten so mit ansehen, wie ihr bescheidener Besitz größtenteils verwahrloste und verfiel.

Alles „Deutsche“ wurde auf jeden Fall untersagt.

Letztendlich hatten diejenigen Glück, die sich für „deutsch“ entschieden hatten – das zeigte sich aber erst nach vielen Jahren, nachdem sie in ihrer „neuen alten“ Heimat integriert waren und es ihnen besser ging.

Von „Glück“ zu reden, betraf aber nicht die Alten, von denen sich viele nie mit dem Verlust ihrer Heimat abfinden konnten.

Verloren

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