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Kapitel 6

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In aller Frühe steht schon ein Militärjeep vor dem Haus.

Andrej, Olga und Toni nehmen ihr Frühstück ein. Olga hat alles aufgefahren, keiner ist aber mit Begeisterung bei der Sache. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

Andrej ist stolz, hat doch Toni Gefallen an der Musik gefunden - wer hätte das gedacht. Olga ist im Musikfach tätig, aber für ihn hat die Partei einen anderen Weg vorgesehen.

Für Toni will er sich ganz engagieren und ihm jegliche Art von Unterstützung angedeihen lassen. Ihm möchte er zu einer großen Karriere verhelfen.

Heute beginnt der erste Schritt.

Momentan sieht aber Toni noch nicht aus wie ein Star.

Er ist ziemlich blass und kann kaum etwas essen - die Eltern denken, dass dies wegen des Abschieds ist. Sein Magen ist aber noch von gestern in Aufruhr.

Die letzten persönlichen Sachen, die er in seiner neuen Bude braucht, sind schnell im Auto verladen. Der Chauffeur fährt sie die kurze Strecke.

Im Burgviertel halten sie vor einem großen Haus mit vielen Fenstern an. Das ist wohl das Wohnheim für die neuen Schüler. Am Eingangstor werden sie von der Leiterin empfangen. Olga ist ihr ja bekannt. Andrej wird respektvoll begrüßt und mit Genosse Major angesprochen. Toni wird mit strengem Blick gemustert und mit Handschlag begrüßt.

Es ist klar, wer hier das Sagen hat.

Andrej und Olga dürfen nur mit auf das Zimmer bis der Fahrer Tonis Sachen dort abgestellt hat. Anschließend müssen sie sich verabschieden.

Und Toni ist jetzt allein.

Was heißt allein, zwei andere Jungs sind schon da und sitzen auf ihren zugeteilten Betten, neugierig, wer denn da jetzt kommt. Der letzte der vier Jungen, der zukünftig das Zimmer mitbewohnt, trifft dann auch ein. Die Leiterin macht alle vier miteinander bekannt und weist auf eine Mappe hin, die die Hausordnung und sonstige Verhaltensregeln enthält, die strengstens zu befolgen sind.

Zack ist sie draußen.

Nun räumt Toni erstmal seine Sachen in die ihm zugeteilten Möbel ein. Möbel ist aber etwas zu viel gesagt. „Seine“ Möbel bestehen aus dem Bett und einem Regal ohne Türen, wahrscheinlich damit man alles sofort im Blick hat. Oh je, denkt Toni, das ist also meine neue Welt.

Er hat auch das Gefühl, dass jetzt seine sorglose, behütete, glückliche Kinderzeit vorbei ist…

Zu jedem Anlass und zu jeder Aktion schrillt eine durchdringende Alarmklingel.

So werden sie Punkt 12 Uhr zum Essen aufgerufen.

Aber nicht so mir nichts dir nichts:

Händewaschen im großen Gemeinschafts-Waschraum.

Zu den Mahlzeiten müssen sie ein bestimmtes Oberteil

anziehen

12 Uhr 15 im Hof antreten.

Pro Stockwerk müssen die Schüler in Viererreihen und im Gleichschritt über den Hof zur Kantine marschieren,

zukünftig mit Lied, das man aber erst noch lernen wird.

Essen fassen und an den zugewiesenen Plätzen

aufstellen.

Die Leiterin tritt vorne auf ein Podest zur offiziellen Begrüßung.

Anschließend wird die Sozialistische Internationale gesungen.

Jetzt setzen.

Das Essen ist nun fast kalt - und schmeckt scheußlich.

Guten Appetit.

Eine Stunde Ruhezeit.

14 Uhr. Heute Rundgang mit Bekanntmachung der diversen Räumlichkeiten.

Ansonsten Nachmittagsunterricht, in der Regel bis 17 Uhr.

Ab 19 Uhr finden oft Proben für regelmäßige Aufführungen, auch vor Publikum, statt.

22 Uhr Licht aus.

Morgens um 6 Uhr ist Wecken. Unterrichtsbeginn 7 Uhr 30.

Samstags jedoch nur bis ca. 12 Uhr Unterricht.

Das bedeutet aber nicht, dass dann das Wochenende frei ist.

Vielerlei Aufgaben, freiwillige und unfreiwillige, stehen auf dem Programm. So sind die Schüler für Sauberkeit und Ordnung ihrer Kleidung, Instrumente und der Gebäude zuständig.

Hausaufgaben müssen aber nebenbei auch noch gemacht werden. An den Samstag- und Sonntag-Abenden finden oft Musik-Konzerte und Gesangsvorführungen statt.

Für Toni, und natürlich auch für seine anderen Mitschüler, ist diese Arbeitsbelastung kaum zu bewältigen.

Sie fallen, sooft es ihnen irgendwie möglich ist, total kaputt in ihr Bett.

Das Burgviertel ist eine geschlossene Ansiedlung.

Die Anfänge der Erbauung der Schlossanlage gehen ins 13. Jahrhundert zurück. Das Schloss war die Residenz sämtlicher Königsdynastien. Diesen wunderschönen Gebäudekomplex dürfen sie nur mit Erlaubnis und zu besonderen Anlässen verlassen. Nach Hause dürfen die Schüler nur alle vier Wochen, auch Toni, obwohl es für ihn nur zwei Kilometer sind. Dies alles soll das Gemeinschaftsgefühl stärken.

Toni hat aber zu alledem ein seltenes Glück: Er trifft ja seine Mutter mehrere Stunden in der Woche bei Klavier- und Gesangsunterricht. Das sind für Toni die schönsten Stunden. Da können sie sich natürlich auch ganz kurz privat austauschen. Offiziell sieht man das nicht gern, es soll für niemanden eine Bevorzugung geben. Toni will sich bei ihr aber nicht über das harte Leben hier beklagen.

Es bleibt ihr dennoch nicht verborgen, dass ihr Junge an die Grenze seiner Kräfte kommt und langsam zu einem Sorgenkind wird. Muten sie ihm hier zuviel zu?

Als Mutter möchte man natürlich seinem Kind alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen und ihm beistehen. Doch das kann sie hier nicht.

Der Weg, den er jetzt geht, ist ein steiniger.

Als sie und auch Andrej in der Ausbildung waren, war es für sie auch kein Zuckerlecken und in Nowosibirsk waren die Umstände bestimmt nicht besser. Sie überstanden es auch. So tröstet sie sich immer wieder. Es tut aber trotzdem sehr weh, wenn sie Toni verlässt und sie weiß, dass er so schwere Tage durchstehen muss, ohne dass sie bei ihm sein kann.

Der Alltag von Toni ist wirklich hart.

Zuerst muss er sich daran gewöhnen, dass er mit drei weiteren Jungen ein Zimmer teilen muss.

Mädchen sind übrigens nicht im gleichen Gebäude untergebracht. Sie wohnen etwas entfernt. Sie marschieren ebenfalls in adretter Uniform, aber getrennt von den Jungen, zu ihren Unterrichtsstunden und zum Essen. Deren Speisesaal ist ein Stockwerk über ihrem. Manch scheue Blicke fliegen heimlich hin und her.

Durch die Schuluniformen erscheinen alle gleich, aber auch unnahbar – leider.

Mit zwei Jungs aus seinem Zimmer hat sich Toni gleich gut verstanden, das gibt ihm Trost und Hoffnung, dass sie die Zeit mit gegenseitiger Unterstützung schon durchhalten werden. Aber bei dem anderen hat er von Anfang an ein gemischtes Gefühl. Es geht seinen beiden Freunden genauso. Dieser vierte Zimmer-Mitbewohner hat eine aggressive barsche Art, ist sehr bestimmend und kann scheinbar alles besser.

Am ersten Tag geht es gleich los. Obwohl jeder seinen Bereich zugeteilt bekommt, hat dieser, Janos mit Namen, gleich das Bett neben dem Fenster in Beschlag genommen. Das bezieht er - basta.

Die Sanitäranlagen liegen auf dem Gang. Es kommt öfter vor, dass zwei, drei Jungs schon davor stehen. Wenn es Janos scheinbar eilig hat, drückt er die Wartenden einfach weg und schon ist er als nächster drin. Seine kräftige Körperstatur macht’s ihm möglich. Es ist ja strengstens untersagt, irgendwelche Raufereien anzufangen – wer überschüssige Kraft hat, soll sie gefälligst bei den sportlichen Aktivitäten oder im Arbeitseinsatz einsetzen. Und so halten sich die anderen zurück, sie wollen keine Konfrontation wagen. Im Waschraum kommt es dann auch mal vor, dass Janos keine Seife dabei hat, dann muss natürlich sein Nachbar aushelfen, ob es diesem passt oder nicht, da gibt’s dann keine große Frage. Wenn Janos dann vielleicht vergisst, dies „Geborgte“ zurückzugeben, hat derjenige eben Pech gehabt.

Toni setzt sich gern mit seinen beiden Kameraden an einen Tisch, wenn sie ihre Übungsaufgaben machen. Den Janos lassen sie links liegen. Das wurmt diesen natürlich wiederum und trägt nicht zu mehr Harmonie bei. Toni verspürt richtige Angst vor ihm. Wenn sie zu dritt sind, fühlt er sich sicherer.

‚Ach wär’ nur mein Attila hier, der fehlt mir so sehr’, denkt er oft.

Nach der ersten Woche hat dann dieser besagte Rüpel einen Dämpfer bekommen: Beim Zubettgehen macht eine Aufsichtsperson ihre Runde durch die Zimmer und kontrolliert, dass die Lichter aus sind und Ruhe einkehrt.

Dabei fällt ihr auf, dass dieser Janos doch tatsächlich in einem verkehrten Bett liegt. Da ist der Spaß zu Ende.

Wehret den Anfängen!

Alle raus. Appell. Meldung. Janos versucht abzuwiegeln. Nichts da. „Das lass ich mir nicht gefallen, mein Vater ist schließlich ein hoher Parteifunktionär“. Da kommt er aber an die Falsche. Janos muss sofort Bett und auch das Regal, das er widerrechtlich benutzt hat, räumen. „Morgen Früh um sieben Uhr alle Vier ins Rektorzimmer.“

In dieser Nacht hat keiner richtig geschlafen.

Punkt 7 Uhr rücken die vier Jungen kleinlaut an.

Die Rektorin thront hinter einem wuchtigen Schreibtisch.

Oh je, hier wird ein Exempel statuiert.

Die sechs Etagenaufsichts-Personen und die jeweiligen Gruppensprecher stehen beidseitig neben der Chefin in strammer Haltung. Sie sollen dem Geschehen beiwohnen und ihnen offensichtlich als Warnung für eventuell zukünftiges Fehlverhalten dienen. Toni hat ganz weiche Knie. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Er weiß auch gar nicht, warum er und seine zwei Kameraden antanzen müssen.

Aber er kannte ja bisher das System nicht.

„Schüler Janos vortreten!“

Der stellt sich vor den Schreibtisch, die anderen dahinter.

Die Etagenaufsicht legt ihren Bericht ab.

Die Rektorin, ihrer Macht bewusst, macht mit aller Schärfe deutlich, dass dieses Verhalten inakzeptabel ist, die staatliche Förderung der Jugend nur durch bedingungslosen Gehorsam funktioniert und so die gewünschten Früchte tragen kann. Jegliches Abweichen und Unterlaufen der geforderten Disziplin untergräbt die Autorität und stellt die Zielsetzung in Frage, ist unkollegial und kontraproduktiv.

Die höchstlöblichen Fördermittel verpuffen ins Leere, es ist praktisch eine Vernichtung der Staatsmittel. Jede Abweichung wird bestraft. Ein Beschuldigter erhält die Möglichkeit, durch freiwillige Zusatzdienste entstandenen Schaden wieder gutzumachen und so durch sein zukünftiges, vorbildliches Verhalten für die anderen ein gutes Beispiel abzugeben.

Der Schüler Janos wird eine Woche alle sanitären Anlagen in seiner Etage säubern, an anstehenden „freiwilligen“ Aufgaben wird er sich vier Wochen lang beteiligen.

Ein Eintrag ins Schwarze Buch erfolgt, sowie eine Benachrichtigung seiner Eltern.

Mitverantwortlich sind aber auch solche, damit wendet sie sich an die Zimmergenossen, die durch ihr Wegsehen und Dulden eines Fehlverhaltens dies fördern. Ihre Pflicht ist, jedes destruktive Verhalten sofort zu melden.

(Also, das ist ihr Vergehen).

Sie erhalten einen schriftlichen Verweis.

Es wird erwartet, dass auch ihr zukünftiges Verhalten vorbildlich ist.

„Abtreten!“

Wie begossene Pudel schleichen sie davon.

Der Unterricht an diesem Tag kostet sie sehr viel Anstrengung.

Abends auf ihrem Zimmer herrscht natürlich eine gedrückte Stimmung. Irgendwelche Gedanken, dem Schuldigen eins auszuwischen, stehen außerhalb jeder Möglichkeit, dies würde schlimmste Folgen haben. Janos übersieht sie künftig beflissentlich, was ihnen aber nur recht ist. In den nächsten Wochen ist Janos aber sowieso im Zimmer kaum bemerkbar.

Durch seine zusätzlichen „freiwilligen“ Dienste ist er froh, wenn der Tag zu Ende ist und er so schnell wie möglich ins Bett kommt. Er tut ihnen sogar langsam leid.

Es gibt aber auch schöne Momente.

Je nach Fortschritt ihrer Entwicklung werden spezielle Arbeitsgruppen gebildet, die dann für bestimmte Auftritte und Vorführungen von Musik- oder Gesangstücken proben. Zu diesen Proben kommt dann auch Olga, sie macht bei den Auftritten oft selbst aktiv mit. Dies sind Zeiten, da macht es Toni besonderen Spaß. Nichts von lästiger Mühe, hier ist er motiviert.

Das Burgviertel ist wie eine abgeschlossene Insel.

Entrückt vom Großstadtlärm und –treiben herrscht hier ein eigenes Leben. Sind die jungen Menschen hier durchgegangen, warten auf sie höhere Aufgaben in diversen Universitäten. Mit der Zeit ist sich jeder bewusst, dass er hier die erste wichtige Stufe durchwandert, die manchem eine große Karriere bringen kann.

In den wärmeren Jahreszeiten stehen die Fenster offen.

Musik und Gesänge jeglicher Art dringen hinaus und wetteifern mit den Stimmen der Vögel. Diejenigen, die gerade Freizeit haben, lassen sich auf den vor den Gebäuden stehenden Bänken nieder.

Toni sitzt oft dort, meistens hat er Übungsblätter dabei und „büffelt“. Aber es kommt auch vor, dass er die Augen schließt. Die Töne, die aus den Fenstern kommen, saugt er auf wie ein Schwamm. Immer mehr zieht es ihn dahin, wo die Mädchen ihren Unterricht haben.

Wenn er die Augen zu hat, fühlt er sich in die Zeit zurück versetzt, wo ihm Olga etwas vorgesungen hat. Da ist in ihm die Liebe zur Musik entstanden.

Diese Mädchen haben so schöne Stimmen und die romantischen Texte tun ein Übriges. Das Verlangen, so ein Mädchen in den Armen zu halten und selbst zu erleben, was der Text verspricht, wird ihm zum Traum. Wie gerne würde er in warmer Abendsonne mit einem Mädchen auf einer Bank sitzen und die Zeit anhalten. Das ist aber undenkbar. Mädchen und Jungen dürfen sich nicht zusammen aufhalten, schon gar nicht, wenn sie nur zu zweit sind.

Die Bänke sind übrigens auch farblich gekennzeichnet: rot für die Mädchen, gelb für die Jungen.

So sitzen die Jungen auf „ihren“ Bänken und etwas entfernt davon die Mädchen. Alle haben etwas zum Lernen dabei. Aber die Blätter bleiben auch öfter unbeachtet, umso mehr wandern die Augen und die Gedanken zu den nahen und doch unerreichbar entfernten Zielen ihrer Wünsche.

Es ist schon gewagt, beim Kommen oder Gehen zu dicht an einer bestimmten Bank, auf der ein Mädchen sitzt, vorbeizugehen oder gar an der Stelle den Schritt zu verlangsamen. Von stehen bleiben oder gar ein Wort zu wechseln, ganz zu schweigen.

Immer ist irgendwo eine Aufsichtsperson unterwegs.

Auch Schüler sind für diese Aufsicht zugeteilt. Solche Dienste sind im Allgemeinen sehr unbeliebt. Man steckt in der Zwickmühle. Drückt die Aufsicht ein Auge zu oder schreitet ein, wenn etwas Ungehöriges bemerkt wird?

Oder meldet es gar - was in der Regel verlangt wird?

Alles unterliegt einer permanenten Kontrolle, keiner kann dem anderen trauen. Aber bekanntlich macht Not ja erfinderisch.

Toni grübelt, wie er es anstellen kann, mit einem Mädchen in Kontakt zu treten.

Es bleibt nicht aus, dass ein Mädchen einer Gruppe, die für einen bestimmten Gesangsabend übt, sein besonderes Interesse weckt.

In der Gruppenaufstellung hat er es so eingerichtet, dass er schräg hinter ihr steht. Das kastanienbraune lange Haar weht im Lufthauch des geöffneten Fensters leicht hin und her. Ein zarter Duft von Rosenöl umschmeichelt sie. Toni vergisst oft, in seine Noten zu sehen. Er neigt den Kopf vor, eine Haarlocke wischt wie eine Feder über seine Nase, den Duft von Rosen saugt er ein. Es benebelt ihn richtig: Die zarte Haut ihrer Wangen, der schöne sanft geschwungene lange Hals, der Nacken mit kurzen Flaumhaaren, die kleinen Ohren. Wenn sie sich etwas auf die Seite dreht, sieht er ihre Stupsnase. ‚Ich glaube, ich werde Maler’ denkt Toni. Manchmal bekommt Toni ein schlechtes Gewissen, da es doch eigentlich unanständig ist, jemanden so intensiv zu studieren, ohne dass derjenige etwas davon weiß. Aber er will ihr ja nichts Böses. Das, was er ihr zu sagen hätte, wenn er es sich trauen könnte, würde ihr vielleicht gefallen. Also kann sie doch auch nichts dagegen haben. Was würde er ihr denn sagen? ‚Dass sie eine herrliche Stimme hat’ ‚Dass sie so wunderschön ist?’ ‚Dass sie so schöne Haare hat?’ ‚So schöne Wangen, eine niedliche Stupsnase?’ Oder gar: ‚Dass sie so einen wunderschönen verlockenden Mund hat?’

Dann denkt er wieder: ‚Wenn die das wüsste?’

Am liebsten würde er selbst aufhören zu singen, nur um ihrer Stimme besser lauschen zu können. Das Mädchen kommt ihm vor wie ein süßer Traum. So nah und doch unerreichbar.

So viel er weiß, ist sie schon fünfzehn, zwei Klassen über ihm und heißt Ildiko. Sie wird ihn noch gar nicht bemerkt haben, bestimmt ist er in ihren Augen noch ein kleiner Bub mit seinen 13 Jahren. Wenn er dann singt, strengt er sich ganz besonders an, er will ihr ja imponieren.

Das Schöne an den abendlichen Proben ist, dass die Schüler - und natürlich auch die Schülerinnen - einzeln bzw. mit ihrem direkten Nachbarn den Weg zurückgehen können. Ist Toni einmal früher fertig, drückt er sich noch so lange irgendwie herum, um dann zur gleichen Zeit wie sie den Heimweg zurückzulegen. Solange ihr Weg der gleiche ist, geht er hinter ihr her.

Einmal passiert es, dass er bis zu Ildikos Haustüre geht. Wie in Trance folgt er ihr und merkte dann erst, dass er falsch ist. Zum Glück ist er nicht vor der Türe stehen geblieben oder gar hineingegangen. Hätte dies jemand beobachtet, wäre seine Zeit hier zu Ende gewesen.

Na ja, es ist nochmals gut abgegangen.

Ganz beschwingt kommt er dann nach solchen Proben auf sein Zimmer. Das zu übende Lied geht ihm im Kopf herum, solange er singt, ist SIE ihm nah.

‚Ob sie schon gemerkt hat, dass sie mir gefällt?’

Er glaubt nicht, dass sie ihn überhaupt wahrnimmt, will aber die schönen Gedanken in seinem Kopf bewahren, damit er mit diesen einschläft und von ihr träumt.

Was er dann auch tut.

Das Leben hier in der Abgeschlossenheit, die Strenge, selbst die schwersten Aufgaben - alles erscheint ihm jetzt leicht und wunderbar.

Ach ist das Leben schön. Was ist nur mit ihm passiert?

* * *

Ab und zu denkt er mit Wehmut an seinen alten Freund Attila. Was der jetzt wohl macht?

Erst vier Monate nach ihrer Schul-Trennung sehen sie sich das erste Mal wieder. Toni hat schon gedacht, er würde ihn gar nicht wieder sehen. In der ersten Zeit, in der Toni im Vierwochen-Rhythmus heimkommt, klappt es nie.

Zuerst ist er ganz fertig und will nur ausruhen, auch hat er vom Internat Aufgaben mitgebracht, die er zu Hause mit Olgas Hilfe erledigen muss.

Es kommt immer was anderes dazwischen. Einmal will Toni ihn besuchen, aber da ist niemand da.

Und dann steht nach vier Monaten, als samstagnachmittags Andrej mit Toni in ihren Hof einfährt, SEIN Attila da und wartet auf ihn.

Welch eine Überraschung! Hat ihm Andrej doch verschwiegen, dass Attila schon einmal da war und nach ihm gefragt hat.

Toni springt aus dem ausrollenden Auto und fällt seinem Freund um den Hals.

Attila - groß und stark ist er geworden. Er ist ja auch fast ein Jahr älter als Toni.

Olga steht hinter dem Fenster, wie immer, wenn sie jemanden erwartet.

Sie öffnet das Fenster und ruft hinunter:

„Hallo ihr beiden, Attila soll doch mit heraufkommen, es gibt Tee und Kuchen!“

Diese Einladung können sie natürlich nicht ausschlagen. Toni will ja auch seine Mutter begrüßen, sich dann aber wieder Attila widmen.

Olga gibt Toni einen herzhaften Kuss, da steht Attila neidisch daneben.

Andrej legt einen Arm über Attilas Schultern und bemerkt zu ihm: „Wenn ich heimkomme, geht’s mir nicht so gut.“

Olga lachend: „Kommt her, heut’ bin ich so glücklich, heut’ könnt ich die ganze Welt umarmen.“ lässt Toni los, der Luft holen muss, weil ihn Olga so sehr drückt, geht auf die beiden Wartenden zu und umarmt auch sie.

Attila weicht mit hochrotem Kopf einen Schritt zurück; so eine Umarmung von einer so schönen Frau, das ist er nicht gewöhnt, es macht ihn ganz verlegen.

Die Teezeremonie dehnt sich lange aus. Toni muss viel erzählen. Aber dann hat Olga ein Einsehen: „So ihr beiden, jetzt könnt ihr gehen, ihr werdet euch bestimmt allerhand zu sagen haben.“

Toni und Attila springen von den Stühlen, Attilas Stuhl kippt um, er bedankt sich artig und schon sind sie zur Tür raus. Olga ruft noch hinterher:

„Um 19 Uhr gibt’s Abendessen, Attila kann auch mitkommen.“

Ob die zwei noch alles gehört haben, weiß sie nicht.

„Attila, jetzt musst du aber von dir erzählen, wie läuft’s in der Schule, hast du auch schon eine Freundin? Und… und… und...“

Attila berichtet von der Schule. „Viele Veränderungen finden statt. Verschiedene neue Lehrer haben wir erhalten. Warum die ‚Alten’ aufgehört haben oder ob sie entlassen wurden, weiß man nicht. Es wird viel gemunkelt.“ Toni ist ganz Ohr.

„Die Lehrer, die ausgetauscht wurden, waren irgendwie viel menschlicher. Die Neuen sind so richtige Parteibonzen, wir sind doch nicht beim Militär.“

„Oh Attila, bei uns ist es im Prinzip genauso, alles wird überwacht und man hört nur Partei-Propaganda. Wer sich da nicht unterordnet, hat verspielt.“

„Siehst du, so ist es meinem Vater doch auch gegangen, jetzt hat er einen schlecht bezahlten Dienst.“

„Das tut mir furchtbar leid für euch“, bedauert ihn Toni

„Ich hoffe, dass wir überhaupt noch in unserer Wohnung bleiben können, ich möchte dich grad beneiden. Ihr seid doch Russen, dein Vater ist hoher Parteifunktionär, euch kann nichts passieren.“

Toni schwächt aber ab: „Du, bei meinem Vater könnte es vorkommen, dass er zurückberufen wird nach Russland - und dann?“

„Der wird schon hier gebraucht, nur keine Bange.“

„Hoffentlich behältst du Recht.“

„Wenn ich nur wieder so einen Kumpel wie dich finden würde“, klagt Attila. „Meine Schulleistungen lassen nach, ich könnte ab und zu etwas Unterstützung gebrauchen.“

„Das geht mir genauso, nicht wegen der schulischen Aufgaben, bei mir sind es die menschlichen Probleme.“

Er erzählt ihm die Geschichte mit Janos.

„Auch funktioniert bei uns alles nur nach dem kommunistischen Prinzip. Wer nicht absolut linientreu ist, bekommt Schwierigkeiten. Der Lehrstoff ist immens umfangreich und schwer. Gott sei Dank kommt meine Mutter ein paar Mal in der Woche, bei der habe ich dann auch etliche Stunden. Das hilft mir dann, damit besser fertig zu werden.“

„Ich bin ja ganz gut im Sport, ich werde mich darauf mehr verlegen. Sport wird ja vom Staat sehr gefördert, vielleicht kann ich da was erreichen, dann habe ich auch bessere Karten“, meint Attila, „da wird man zwar auch ganz schön rangenommen, das liegt mir aber mehr als die schulischen Fächer.“

Zum Abendessen kann Attila leider nicht bleiben.

Sie verabschieden sich vor Attilas Haus.

Toni geht nachdenklich den Höhenweg heim.

Alles ist jetzt anders.

Die Kinderzeit möchte er festhalten – aber die Zukunft wartet.

* * *

Wenn Toni sonntagabends wieder ins Internat muss, geht er meistens zu Fuß und genießt die letzen Momente in „Freiheit“.

Er befindet sich eigentlich immer im Zwiespalt:

Er weiß, dass er kein Russe ist – das darf aber eigentlich niemand erfahren. Sie wohnen in einem noblen Haus in bester Wohnlage - er ahnt, dass dies nur ein Privileg aufgrund des hochrangigen Offiziersgrades von Andrej ist. Der Familie von Attila geht es nicht so gut, seit sein Vater seine gute Anstellung verloren hat.

Und er, Toni, besucht ein Elite-Internat. Er würde anschließend in eine Universität aufgenommen werden. Er weiß, dass die Stellung seines Vaters ein großes Gewicht hat.

Aber er kann sich darüber einfach nicht uneingeschränkt freuen.

Während seiner Schulzeit hat er praktisch keinen Kontakt zu „normalen“ Menschen. Entweder er hält sich im Burgviertel oder am Wochenende zu Hause auf.

In den Ferien werden die Schüler für bestimmte Zeiten für „freiwillige“ Gemeinwohl-Arbeiten eingeteilt. Da bekommt er dann allerhand mit, was ihn sehr nachdenklich stimmt. Er hört ja in der Schule nur, dass der Staat die besten Voraussetzungen schafft, um das Volk zu Wohlstand zu führen. In seinem Fall stimmt es ja, ihm bietet sich die Möglichkeit zu Höherem.

Was ist aber mit den Anderen?

Er hört auch, dass die Leute alle schwer arbeiten und zusätzlich noch freiwillige Dienste leisten. Trotzdem geht es ihnen nicht besser, das Gegenteil ist der Fall. Die Leute werden immer unzufriedener.

Über seinen Attila kann er nur staunen, der schon oft solche Gedanken und Beobachtungen geäußert hat. Er selbst konnte eigentlich nicht richtig mitreden. So langsam geht ihm aber ein Licht auf – irgendetwas läuft nicht so, wie es eigentlich nach dem sozialistischen Gedankengut sein sollte.

Aber was kann er, der kleine Junge, tun?

Verloren

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