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Kapitel 4
ОглавлениеDie Offiziere der russischen Truppen hatten die Möglichkeit, ihre Familienangehörigen nach Kriegsende nachkommen zu lassen. Es war sogar wünschenswert, dass sich Angehörige der Armee in den besetzten Ländern ansiedelten. Platz gab es ja jetzt.
Budapest war für die Russen, sowieso für diejenigen, die vom fernen Osten stammten, ein begehrter Ort. In Budapest, einer der schönsten Städte, war zum Glück nicht viel zerstört. Die meisten Zerstörungen waren erst von der deutschen Wehrmacht bei ihrem Rückzug verursacht worden.
Schöne alte Villen standen leer.
Und so hat besagter Major seine Frau schon vor Monaten nachkommen lassen.
Der Krieg war vorbei. Die Evakuierung der deutschen Bevölkerung würde auch irgendwann abgeschlossen sein.
Major Andrej Bori will dann seinen Dienst quittieren. Sie werden hier bleiben und eine neue Heimat finden. Eine schöne Zukunft in einer wunderbaren Stadt liegt vor ihnen.
Nur einen Wehrmutstropfen hat die ganze Sache – sie bekommen kein Kind!
Egal, was sie versucht haben, es blieb bisher erfolglos…
Andrej kündigt sich zum Wochenend-Urlaub an,
Mit seinen Gedanken ist Andrej schon bei seiner Olga, die immer am Fenster wartet, bis er heimkommt. Er freut sich darauf, wie er ihr sagen wird: ‚Mein Schätzchen, was glaubst du, was ich dir mitbringe?’
‚Hast du wieder von irgendwo Kaffee organisiert?’ – sie liebt Kaffee über alles und hofft immer, dass Andrej welchen mitbringt.
Tatsächlich - in sehnsüchtiger Erwartung steht Olga am Freitagabend am Fenster und schaut auf die Straße hinunter. Meistens kann er freitags früher Schluss machen, so dass er spätestens gegen 21 Uhr heimkommt. Sie wird schon unruhig, wer weiß aber, was ihn unterwegs aufgehalten hat.
Ein Schneegestöber - hoffentlich kein Unfall. Ist das Auto stecken geblieben? Viele Gefahren lauern auf der über 400 Kilometer langen Strecke im Winter.
Solche Gedanken gehen ihr durch den Kopf.
Sie setzt sich meistens in ihren bequemen Schaukelstuhl, eine warme Decke über die Schulter geschlungen und wartet auf ihren Held. Ja, für sie ist er ein Held.
Das Licht im Zimmer hat sie ausgemacht, nur eine Kerze brennt auf der Fensterbank. Der Samowar und eine Tasse mit dampfendem Tee steht daneben.
In der Stadt unten brennen wenig Lichter. Umso schöner glitzert die Donau. Normal würden ja die vielen unzähligen Lichter der Kettenbrücke brennen, was ein grandioses Schauspiel wäre. Aber kurz vor Kriegsende haben die Deutschen bei ihrem Rückzug noch viel zerstört, natürlich auch die strategisch wichtigen Brücken. Straßenbeleuchtungen sind Luxus geworden, daher stark minimiert.
Die Augen fallen ihr immer öfter zu. Hoffentlich geht die Kerze nicht aus, bevor Andrej kommt. Ihm gefällt das sehr - die brennende Kerze am Fenster, die ihm sagt: ‚Komm heim, du wirst sehnsüchtig erwartet’.
Es ist schon fast 23 Uhr - sie ist jetzt ernsthaft besorgt.
Kommt er vielleicht erst morgen früh? Da ist es bestimmt besser zu fahren als jetzt im Dunkeln. Viele bange Stunden und Tage hat sie schon mit Warten zugebracht, das war für sie oft unerträglich.
Sie träumt dann:
Beide wohnten in Nowosibirsk und haben sich schon in der Kinderzeit gekannt. Er war und ist noch immer ihre große Liebe. Beide haben Musik studiert und sich dabei kennen gelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Dass sie einmal heiraten werden, war ihnen sofort klar.
Der Krieg brachte dann aber alle Pläne durcheinander.
Andrejs Vater, selbst Berufssoldat, wollte immer, dass sein einziger Sohn in seine Fußstapfen tritt.
Aber Andrej verschrieb sich ganz der Musik. Und seit er seine Olga kannte, hatte er nichts anderes mehr im Kopf. Sie waren beide überglücklich. Dass er dabei seinen Vater kränkte, tat ihm weh. Aber mit Olga stellte er sich eben ein ganz anderes Leben vor.
Die Nachricht von einem Krieg der Deutschen, der den ganzen Osten erfassen wird, ging von Mund zu Mund. Für die jungen Leute war das aber kein Thema. Sie gingen in ihrer Musik auf.
Auch als Russland mobil machte, klingelten immer noch nicht die Alarmglocken.
Andrejs Vater ärgerte sich, dass sein Sohn gar kein Interesse an dem Geschehen zeigte. Bis zu einem bestimmten Tag, da sollte sich das Leben von Andrej gründlich ändern wie das von Millionen anderer.
Ein ganz unüblich aussehender Brief lag bei der Post.
Der Vater öffnete ihn zuerst, es war ihm gleich klar, was darin stehen würde. Und doch, als er es schwarz auf weiß vor sich hatte, musste er schwer schlucken. Es ist ja schließlich ein Unterschied, ob man in Friedenszeit Soldat ist.
Dies hier war aber etwas anders. Es würde Krieg geben, der auch sie betreffen würde, davon war er überzeugt.
Dieser Stellungsbefehl, den er in den Händen hielt, war für seinen Sohn bestimmt.
Die Unterhaltung beim Essen verlief an diesem Tag recht einseitig.
Irgendeinen Kummer hatte der Vater - ein besorgter Zug im Gesicht verriet es. Nach dem Essen ließ sich der Vater, entgegen seiner sonstigen Art, seine Pfeife bringen, die er sich ziemlich umständlich stopfte und langsam anzündete. Irgendwie wollte er Zeit gewinnen. Für Andrej und Olga war klar, es musste ihn irgendwas bedrücken. Sie sahen ihn immer strenger an, um ihm zu zeigen, dass er endlich mit der Sprache herausrücken sollte.
Richtige Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
„Andrej möchtet ihr einen Wodka, das Essen war heute ziemlich fett?“
Jetzt wurde es ihnen doch unheimlich, da ihm der Doktor das Rauchen und den Alkohol untersagt hatte. Natürlich tranken sie ein Gläschen mit.
Andrej tat ganz nebensächlich: „Und, gibt es sonst irgendetwas Neues?“
Wortlos legte ihm der Vater den Brief hin.
Olga fühlte, wie sich eine Klammer um ihr Herz schloss.
Andrej las und wurde blass.
Er hatte den Gedanken immer verdrängt, aber natürlich immer befürchtet, dass dies eintreten würde. In 14 Tagen sollte er sich schon in der Kaserne einfinden. Olga fiel ihm um den Hals und weinte. „Was wird denn jetzt aus uns?“
Der Vater war sich der ganzen Tragweite bewusst. Das wird kein normaler Militärdienst, der nach 24 Monaten beendet ist. Es geht an die Front. So hatte sich das der Vater nicht vorgestellt.
„Ihr wolltet doch heiraten, wenn ihr euer Examen abgelegt habt? Wie wäre es, wenn ihr dies schon vorher tun würdet? - meinen Segen habt ihr ja.“
Der alte Schlaukopf wusste, was alles passieren kann und hoffte, dass Olga dann bei ihm im Haus wohnen würde, er wäre dann nicht allein. So lange der Krieg dauerte, wohnte Olga dann tatsächlich in Andrejs Elterhaus.
Jetzt aber, zum Ende hin, wurde Andrej in Ungarn stationiert und da hatten sie die Möglichkeit, dieses Haus hier zu beziehen. Andrejs Vater war sehr traurig. Das Wichtigste war aber, dass der Sohn den Krieg überhaupt überlebt hatte - und zwar gesund.
* * *
Das Licht eines Auto-Scheinwerfers schreckt sie auf, schwenkt in ihren Hof.
Jede Müdigkeit ist weggeblasen, ihr Herz schlägt schneller – der Langersehnte kommt. Vier Wochen war sie diesmal allein.
Hoffentlich bleibt er ein paar Tage. Sie fliegt die Treppen hinunter und wird die Türe aufmachen, wenn sie seine Schritte direkt vor der Haustüre hört. Ein herzlicher Empfang ist ihm gewiss mit einem laaangen Kuss.
‚Na, wo bleibt er denn?’, sie weiß die Anzahl der Sekunden genau, die er vom Auto bis zur Haustüre braucht.
Diese Zeit ist aber schon überschritten – was macht er solange? Sie hat zitternd die Türklinke in der Hand.
Was murmelt er da? Nun hört sie seine Schritte auf dem Kies.
Jetzt steht er vor der Türe. Sie reißt sie auf und fliegt auch schon an seine Brust. Was trägt er denn vor sich her?
Ein Wimmern, als sie ihre Arme um seinen Hals wirft.
Hat er einen Hund mitgebracht?
Pssst, will Andrej machen, aber sie verschließt ihm schon seine Lippen mit einem Kuss. Die Umarmung missglückt etwas.
„Wir müssen erst nach oben gehen“, flüstert Andrej leise.
Er steigt die Treppen hoch und geht direkt ins Schlafzimmer.
Olga versteht gar nichts und geht voller Ungeduld hinterher.
Er versperrt ihr total die Sicht, als er sich über das Bett beugt, etwas behutsam niederlegt und gleich zudeckt. Olga macht das Licht an und steht schon neben ihm.
„Andrej! – ein Kind?! - was ist mit ihm?“
„Setzen wir uns hin, ich muss dir eine lange Geschichte erzählen.“
Voller Neugier lauscht sie seinen Worten. „… und das ist jetzt unser Kind.“
In dieser Nacht schlafen beide nicht.
Olga ist es unbehaglich zumute, schließlich hätte Andrej alles dransetzen müssen, um herauszufinden, wer die Eltern von Toni sind, ob sie noch leben und wohin sie verschickt wurden. Das Kind hätte an eine Suchstelle übergeben werden müssen und dies wäre gewiss ein langer bürokratischer Weg geworden. Das Kind würde man in Heimen unterbringen, immer in der Ungewissheit, ob es je seine Eltern finden wird.
Die Suchlisten sind sehr lang bei den Millionen Vertriebener aus dem Osten.
Dank seiner Stellung sind Andrej plausible Möglichkeiten gegeben, um das Kind als elternlos registrieren zu lassen. Dass dann so ein Kind eine Aufnahme in einer Familie findet, verkürzt die ganze Prozedur. Und schließlich steht da der starke Wunsch nach einem Kind im Hintergrund. Das ganze Jahr über, in dem sie schon in Budapest ihren Wohnsitz haben, ist es schließlich Olga gewesen, die sich sehr einsam gefühlt hat. Sie war immer hin- und her gerissen. Hätte sie doch bei seinem Vater bleiben sollen? Wohl ist sie jetzt näher bei Andrej, aber ob sie 4000 Kilometer von ihm entfernt ist oder 400 - allein ist allein.
Hätten sie Kinder, würde sie die Trennung von Andrej viel besser ertragen. Sie weiß, sie würde sie verwöhnen. Sie ist eine große Familie gewohnt, sie hatte schließlich noch sechs ältere Geschwister, zwei waren leider schon früh gestorben. Das Haus war bei ihnen immer voll, ein großer Tisch beim Essen. Es gab nie Langeweile. Dass Alleinsein so wehtun kann, hat sie hier erfahren. Wer weiß, wie lange Andrej noch beim Militär Dienst tun muss. Er kann ja auch versetzt werden, irgendwohin, weiter weg. Was dann?
Das Wimmern des Jungen weckt sie aus ihrem unruhigen Halbschlaf heraus. Jetzt, gegen Morgen, hätte man noch schlafen können. Es ist noch dunkel, vielleicht 5.00 Uhr.
„Mutter – Mutter“ klingt es leise suchend aus dem Dunkeln.
Olga ist überrascht: das Kind spricht deutsch!
Es ist ihnen klar, dass die ersten Tage sehr schwer sein werden und sie sehr behutsam das Vertrauen des Kindes gewinnen müssen. Mit viel Einfühlungsvermögen werden sie das Kind an sich gewöhnen müssen. Mit der Sprache wird es bei dem kleinen Kerl auch keine großen Probleme geben. Sie können beide gut ungarisch und das wird das Kind schnell lernen. Eins schwören sie sich gegenseitig: Der Junge darf nie erfahren, dass er vielleicht doch noch Eltern hat!
Mit dieser großen Lüge müssen sie leben. Sie werden bei Gelegenheit eine Geschichte auftischen, dass seine Eltern verschollen sind und der Schluss nahe liegt, sie seien tot.
Sie gehen aber auch davon aus, dass der Junge seine richtigen Eltern vergisst.
Andrej muss tatsächlich schon wieder am Montag zum Dienst.
Für Olga beginnt jetzt ein neues Leben.
Das Haus, das sie bewohnen, hat einen großen Garten. Es liegt ganz oben am Rande der Stadt, anschließend geht es weiter den Berg hinauf Richtung Budakesi. Hinter ihnen beginnen die Felder. So sind sie ganz abgeschieden. Sie kann sich ganz „ihrem Sohn“ widmen. Niemand ist da, der neugierige Fragen stellt.
Morgens gibt es ein reichhaltiges Frühstück. Schön gedeckter Tisch mit Tischtuch, Servietten, schönem Geschirr. Für Toni ist das alles neu und ungewohnt, ebenso dies große prächtige Haus. Er hat bis jetzt nur Bescheideneres gesehen. So viel Neues gibt’s da zu entdecken. Olga ist den ganzen Tag um ihn herum. Jeden Wunsch versucht sie zu erfüllen. Olga blüht auf. Ein Traum ist wahr geworden. Für sie hatte alles Bangen und Alleinsein ein Ende.
Der Krieg ging vorüber, ohne dass Andrej etwas zugestoßen war. Das waren schlimme Jahre gewesen. Gott sei Dank lebte sie damals bei seinem Vater; ihre Eltern wohnten auch nicht weit entfernt.
Nun freut sie sich schon auf den Frühling und auf wärmere, längere Tage. Mit Toni beginnt ein neues Leben.
Sie richteten ihm ein eigenes Zimmer ein, von dem er in den Garten und auf die Stadt schauen kann.
Direkt unter seinem Zimmer bauen sie einen großen Schneemann. Als Hut dient ein alter Kochtopf. Ein Stück Holz als Nase, zwei Steine als Augen und kleine Stücke Kohle als Mund - der nach oben lacht zu seinem Fenster. Wenn er dann morgens aufsteht, schaut er zuerst nach seinem Schneemann. Er hat immer Sorge, dass er über Nacht wegläuft.
Neue, dicke Kleidungsstücke ermöglichen auch, längere Zeit draußen zu bleiben. Bisher hatte er nicht solche mollige Sachen, da fror es ihn oft. Sogar Handschuhe bekommt er. Das alles und die viele Zeit, die Olga mit ihm verbringen kann, lassen ihn wieder ganz ausgelassen und sogar fröhlich werden. Als sie dann auch noch von einem freundlichen Nachbarn einen Schlitten geschenkt bekommen, ist er überglücklich. Schlitten gefahren ist er auch noch nie. Zuerst traut er sich gar nicht, den Hang bei ihnen hinunterzufahren. Olga zieht ihn dann ein Stück hinter sich her. Das war auch schön. Erst als Olga sich dann selbst mit ihm draufsetzt, ihn vorne zwischen ihre Beine nimmt und festhält, traut er sich einen kleinen Berg hinunterzufahren. Aber er wird immer mutiger. Am nächsten Tag versucht er es schon alleine. Dann gibt es kein Halten mehr.
Toni will seinen Schneemann mit auf den Schlitten nehmen. Dass das nicht geht, will er nicht glauben. Da kommt Olga auf eine Idee: „Wir bauen ein Schneemann-Kind, das setzen wir auf deinen Schlitten, dann kannst du mit ihm hinunter fahren.“
Gesagt, getan. Mit großem Eifer macht er mit.
Toni hinten drauf: „Ich halte dich, du brauchst keine Angst zu haben.“ Und auf geht’s. Aber leider nicht lange. Vor lauter sich selbst Festhalten rutscht der Schneemann vom Schlitten herunter. Toni will dies verhindern und das Ergebnis ist natürlich, dass sie in einen hohen Schneeberg kippen.
Olga eilt so schnell es geht hinterher, um zu helfen. Toni schreit schon wie am Spieß. Dabei rutscht Olga aus und fällt auch noch dazu. Sie zieht Toni, der den Mund voll Schnee hat, aus der Schneewehe. Es ist ja nichts passiert, es ist eben der Schreck. Als er dann sieht, dass sein Schneemännchen kaputt ist, heult er aufs Neue los.
„Nie mehr werde ich Schlitten fahren.“ Das hat er aber am nächsten Tag schon wieder vergessen.
So vergehen glückliche Wochen.
Andrej bemüht sich, jetzt öfter nach Hause zu kommen. Er will ja, dass Toni sich auch an ihn, den neuen „Vater“, schnell gewöhnen soll.
Der Frühling hält endlich Einzug.
Da ihr Grundstück an einem Osthang liegt, hält sich hier der Schnee noch hartnäckig. Unten in der Stadt ist hingegen nichts mehr davon zu sehen. Dort liegt jetzt dreckiger Matsch. Aber letztendlich - der Winter verliert. Von ihrem Schneemann im Garten ist zum Schluss nur noch ein verrußtes Häufchen übrig geblieben.
Toni weint: „komm bitte nächstes Jahr wieder.“
Im Garten bekommen die Bäume Knospen. Das Gras sprießt schon sachte. Schneeglöckchen lugen schon länger zwischen den Schneeresten hervor.
Wenn Andrej heimkommt, ist er jedes Mal glücklich, mehr als sonst. Er bemerkt jetzt erst, wie einsam Olga vorher war.
Sie ist jetzt richtig aufgeblüht. Eine wunderschöne Frau war sie schon immer, aber jetzt geht ein richtiges Strahlen von ihr aus. ER hat die schönste Frau der Welt.
Hat ER sie überhaupt verdient (?).
Als er so etwas zu ihr sagt, nimmt sie ihn nur zärtlich in die Arme und flüstert ihm ins Ohr: „Oh moj glupyj, malenjkij medwezhonok.“ (Oh du mein kleines Bärchen)
Olgas und auch Andrejs Leidenschaft war ja die Musik.
Wenn sie daheim war, spielte sie in jeder freien Minute.
Hatte sie vorher schwere sentimentale Lieder vorgezogen - in Gedanken oft abwesend – spielt sie jetzt viel beschwingter. Ihr befreites Singen in ihrem samtweichen Mezzosopran füllt die Räume aus wie hallender Glockenschlag.
Toni sitzt neben ihr auf dem Bänkchen und lehnt den Kopf an ihre Seite. Ihre Stimme und die Instrumenten-Töne durchdringen ihn. So ein Gefühl hat er noch nie erlebt. Die Musik fließt in ihn hinein.
Sie muntert ihn auf mitzusummen. Das sind in erster Linie russische Volkslieder. Bei einfachen Liedern traut er es sich sogar schon. So lernt er gleichzeitig leicht russisch. Ebenso war es nur eine Frage der Zeit, bis er seine Hand auf ihre legte.
Ja, und eines Tages kommt Andrej gerade freudig die Treppen herauf, steckt den Kopf zur Zimmertüre hinein und hat schon auf den Lippen: „Na, werde ich heute nicht an der Haustüre empfangen?“ - da wird er von zwei Engelsstimmen mit vierhändiger Klavierbegleitung begrüßt.
Es geht so schnell, darauf war er gar nicht gefasst:
Mit Tränen in den Augen, nichts hatte ihn bisher so sehr gerührt, steht er da wie erstarrt - dieser Moment soll nie enden. Was für ein Glück war in ihr Heim eingekehrt. Die Töne füllen den Raum, die Luft vibriert. Es durchrieselt ihn, er kann nicht dagegen ankämpfen. Die großen hohen Räume der alten Villa begünstigen die Wirkung. Wahrscheinlich würde dieser Effekt nur noch in einem hohen Kirchenschiff gesteigert werden können.
Olga und Toni bemerken ihn gar nicht. Andrej bleibt nichts anderes übrig, als reglos unter der Türe stehen zu bleiben.
Die Zwei haben sich gefunden. Fast wird er ein bisschen eifersüchtig.
Saß Olga früher vor dem Fenster und wartete ungeduldig auf ihn, empfing ihn dann stürmisch an der Haustüre, so bemerkt sie ihn jetzt gar nicht. Er wird sich damit abfinden müssen, dass sie jetzt zu Dritt sind und dass diese beiden jetzt viel mehr Zeit miteinander verbringen.
Sie hatten beide ja Sorge gehabt, ob sich Toni hier einleben - ob er sie akzeptieren würde. Es ließ sich aber sehr gut an.
Wohl haben sie am Anfang nachts an der angelehnten Türe gelauscht. Man vernahm ab und zu ein Wimmern, auch mal ein Weinen. Olga setzte sich dann gleich ans Bett, streichelte und beruhigte ihn behutsam.
„Es ist gut, Toni, du bist zu Hause“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr. Als er sich dann sogar nach einer gewissen Zeit in ihre Arme drängte und sie gar nicht mehr loslassen wollte, nahm sie ihn auch mal mit zu ihnen ins Bett. Da kuschelte er sich dazwischen und schlief beruhigt ein. Sie waren dann sehr glücklich und spürten, dass er sich bei ihnen wohl fühlte.
Und jetzt singt er mit Olga im Duett, spielt schon ein bisschen am Flügel. Für Olga und Andrej geht ein heimlicher Wunsch in Erfüllung. „Ihr“ Kind soll ihre Begabung übernehmen - Spaß am Musizieren haben.
So würde sich ihr Leben weiterhin hauptsächlich um die Musik drehen.
Andrej kommt erst wieder zu sich, als die Stimmen verklingen. Er wacht wie aus einem Traum auf. Leise fängt er an, in die Hände zu klatschen.
Da bemerken sie ihn erst. Beide springen auf und begrüßen ihn herzlich. Links und rechts nimmt er sie in seine starken Arme, hebt beide wie Puppen hoch und herzt sie.
„Ihr braucht mich ja gar nicht mehr“, sagt er gespielt beleidigt, „da muss ich gar nicht mehr heimkommen.“
„Ich werde dir darauf heute Nacht eine Antwort geben“, haucht Olga ihm ins Ohr.
Von nun an beginnen sie wieder, nach dem Abendessen zu musizieren. Olga und Andrej sind darüber sehr froh.
Jetzt ist wieder ein Hoffnungsschimmer zu erkennen.
Andrej wird darauf drängen, dass er bald seinen Militärdienst quittieren kann.
So wie es jetzt Olga geht, könnte sie sich vielleicht schon bald nach einer Beschäftigung umschauen. Budapest ist der richtige Ort dazu. In der Nähe gibt es eine Musikschule. Da muss sie Kontakt aufnehmen.
Ihr Toni ist ja schon ihr erster Musikschüler.
* * *
In dem Musikzentrum, in dem Olga vorspricht, ist man begeistert. So eine versierte Kraft kann man gebrauchen.
Das lässt sich gut an. An vier Tagen gibt sie jeweils drei Stunden Unterricht. Toni kann sie mitnehmen.
Der Fußmarsch von einer halben Stunde lässt sich gut bewältigen. Sie haben sich ein kleines Wägelchen zugelegt, in dem nimmt sie ihre Utensilien mit. Und wenn Toni müde ist, kann er sich auch hineinsetzen.
Ein schöner Frühlingstag.
Zur Einschulung kann es Andrej einrichten, auch dabei zu sein. Die Schule ist nicht weit weg von ihnen - fünfzehn Minuten Fußmarsch.
Alle Schüler erscheinen mit einer speziellen Schuluniform, wobei sich die Farbe für die Erstklässler von der für die höheren Klassen unterscheidet.
Toni mit gemischten Gefühlen. Neugierig, aber auch Angst vor diesem Schritt.
Im Schulhof sind die zweite und dritte Klasse aufgestellt und bilden ein Spalier. Die Neulinge werden mit einem Lied empfangen. Vor dem Eingangsportal steht das Lehrpersonal, voran die Rektorin.
Im Gang dürfen sich die Neulinge Hand in Hand in Zweierreihen aufstellen. Mit dem Partner wird jeder gleich bekannt gemacht, das wird der neue Tischnachbar sein.
Die Eltern stellen sich im Klassenzimmer auf, so sind die Kinder bestrebt, schnell dorthin zu kommen. Die erste Hürde wird so problemlos genommen.
Groß werden die Augen vor Neugierde. Die Wände sind mit vielen Bildern geschmückt. Auf jedem Tisch stehen Kärtchen mit den Namen und ein kleines Väschen mit einer Blume.
Die Kinder werden aufgefordert, das Kärtchen mit ihrem Namen zu suchen. Zögernd setzen sich die Kinder in Bewegung. Bei jedem Kärtchen bleiben sie stehen, die Mütter gehen mit, um eventuell ein bisschen zu helfen. Aber da meldet sich schon der Ehrgeiz: „Ich kann doch schon selber lesen.“ Es wird immer lockerer. Stolz sitzen die ersten schon auf ihren Plätzen.
Die Rektorin hält eine kurze Begrüßungsrede, stellt die Lehrer vor und natürlich speziell die Klassenlehrerin, eine Frau Ponti.
Ebenso machen sich die Eltern gegenseitig bekannt.
Die Eltern werden dann gebeten, den Raum zu verlassen, damit man den Kindern als Überraschung etwas vorführen kann – das ist schließlich nur was für Kinder.
Die Eltern verabschieden sich. Olga beugt sich zu Toni nieder: „Mach’s gut mein Großer, wir warten natürlich draußen auf dich.“
Seine kleine Hand hält ständig ihre umklammert, sie gibt ihm Sicherheit.
Zögernd lässt er sie los: „Warte aber bestimmt auf mich, Mama.“
Olga drückt ihm einen dicken Kuss auf die Wange: „Jawohl mein Liebling.“ Tränen treten ihr in die Augen.
Draußen fällt sie Andrej um den Hals:
„Das erste Mal hat er ‚Mama’ zu mir gesagt.“
Olga kann es so einrichten, dass sie an den Tagen, an denen sie an ihrer Schule unterrichtet, zeitgleich mit Toni den Weg gehen kann. Bis zum Schulschluss von Toni hat sie dann noch Zeit, Einkäufe oder sonstiges zu erledigen. In der Regel steht sie dann schon im Schulhof, wenn ihr „Großer“ herauskommt. Ihre Begrüßung fällt immer bemerkenswert herzlich aus. Es ist für sie ja nicht selbstverständlich, dass sie ein Kind hat. Das Geheimnis der Familie erahnt niemand.
Tonis Tischnachbar, Attila, wohnt zum Glück ganz in ihrer Nähe. Nach ein paar Wochen verkündet Toni: „So Mama, jetzt kann ich aber allein den Weg zur Schule gehen, Attila macht das schon die ganze Zeit.“
Das gibt ihr einen Stich ins Herz. Es ist wohl klar, dass Toni nicht ewig an ihrem Rockzipfel hängen wird, aber so früh, das will sie nicht wahrhaben.
„Schau Toni, ich gehe doch vier Mal in der Woche den gleichen Weg, dann bin ja ich alleine unterwegs.“
Das sieht Toni ein: „Also ich spreche mit Attila, dass wir dich mitnehmen können, aber für den Heimweg brauchst du auf keinen Fall auf uns zu warten, du hast ja schon früher Feierabend.“
Morgens pfeift Attila schon vor dem Haus, Toni ist bereit: „Auf Mama, Attila wartet.“
Sie marschieren frohgelaunt an ihr Ziel.
Toni und Attila sich an den Händen führend, Olga meistens zwei Schritte hinterher. Es ist eine Freude, den Jungs zuzusehen. Was haben die sich viel zu erzählen. Attila ist eine richtige Quasselstrippe, ein aufgeweckter, süßer Kerl. Attila ist etwas älter und ein Stück größer als Toni und hat immer Flausen im Kopf. Sie muss nur aufpassen, dass sie nicht zu übermütig werden. Mal hüpfen sie auf einem Bein, dann marschieren sie auf kleinen Mauern, die die Gärten begrenzen, dann wieder mit einem Bein auf der Straße und mit dem anderen auf dem Gehweg. Mit den Autos gibt es zum Glück noch kein Problem. Ihre Gegend ist sowieso ruhig.
Unterwegs muss sie tausend Fragen beantworten.
Von ihrer Seite hat man einen tollen Blick über den ganzen linksseitig der Donau liegenden Stadtteil Pest. Von allen interessanten Gebäuden wollen sie den Namen wissen. Und davon gibt es eine ganze Menge.
In erster Linie ist da der neugotische Bau, das Parlament, zu nennen. Das staatliche Opernhaus, die Margaretheninsel mit der gleichnamigen Brücke und die vielen anderen Brücken, vor allem die Kettenbrücke. Wenn die einmal wieder vollständig repariert ist und die vielen Tausend Lichter brennen, ebenso alle Beleuchtungen der Stadt installiert sind, lässt sich dieser Blick nicht mehr überbieten.
Vorne, auf ihrer Seite in Buda, sieht man die Fischer-Bastei, das Burgviertel, das imposante Schloss und weiter vorne dann noch die Zitadelle. Man sagt nicht umsonst, dass Budapest eine der schönsten Städte der Welt ist.
Sie ist froh, dass sich Toni so sehr für seine Umgebung interessiert.
Er wächst zweisprachig auf - ungarisch und russisch. Seine deutsche Sprache vergisst er langsam.
Von der Schule bringt er gute bis sehr gute Noten mit nach Hause, wobei Musik mit zu seinen Lieblingsfächern gehört.
Darauf sind Olga und Andrej besonders stolz.
Andrej hat seinen Dienst in der Armee quittiert und findet in der russischen Stadtkommandantur als Zivilist eine Stellung. Seine Dienststelle liegt auf der anderen Seite der Donau. So fahren Olga und Toni öfter hinüber, erledigen etwas oder bummeln auch nur. Abends fahren sie dann mit Andrej zusammen heim.
Viele wichtige Ämter werden von Russen geleitet bzw. stehen unter russischer Verwaltung. Von der zivilen Bevölkerung erhalten nur diejenigen eine wichtige Anstellung, die sich zum sozialistischen System bekennen. Dies betrifft auch die Schulen. Die Lehrbücher sind schon alle im sozialistischen Sinn verfasst. Die Lehrkräfte müssen natürlich voll hinter der Sache stehen. Und so bleibt es nicht aus, dass manche Lehrkraft ersetzt wird.
Die dritte Klasse, in die Toni jetzt geht, betrifft dies auch.
Eines Tages erscheint die Rektorin mit einer neuen Lehrerin mit strengem Blick, Haarnest und Bekleidung im Militärstil.
„Aufstehen!“
Kurze Begrüßung: „… und dies ist eure neue Lehrerin, die euch im Sinne von unseren hochverehrten Genossen Marx und Lenin erziehen wird. Jeden Morgen zum Schulbeginn wird die ‚Internationale’ gesungen.“ Allgemeines Murmeln unter den Schülern.
„Ruhe! – wer den Unterricht stört, wird bestraft!“
Abgang der Rektorin.
Jetzt hat auch hier die neue Zeit begonnen.
Sie bekommen eine neue Schuluniform. Die Buben sehen aus wie kleine Soldaten. Die Mädchenkleidung ist auch so geschnitten, dass das Mädchenhafte dahinter fast verborgen bleibt. Alle sollen gleich aussehen und so ist es auch. Das Lachen wird seltener. Wenn ihre Lehrerin oder auch andere Lehrer auf dem Schulhof oder auf dem Gang auftauchen, verstummt die Unterhaltung. Ein unbefangenes Herumtollen auf dem Schulhof findet kaum mehr statt.
Alles wird organisiert.
Spiele finden nur nach festen Spielregen statt.
Was es mehr gibt, sind Auszeichnungen für gute Leistungen. Wobei nicht immer diejenige eine Belobigung erhalten, dessen Leistung über der der anderen liegen.
Es bilden sich zwei Gruppen. Die einen verstehen sich sehr gut mit der Lehrerin, sind immer bemüht, ihren Anforderungen zu entsprechen und ihr Soll bestens zu erfüllen. Die bekommen auch die meisten Belobigungen und Auszeichnungen. Die anderen gehen leer aus. Die Leistung leidet darunter, weil ja die Motivation fehlt.
Zu jedem Quartalsende oder vor anstehenden Ferien - und im ganz großen Stil zum Klassenjahres-Schluss - werden auf dem Schulhof regelrechte Paraden abgehalten. Alle müssen in Festuniform in Reih und Glied Parade stehen.
Vorne ist ein Podest aufgebaut.
Von der Partei erscheint extra ein Funktionär, seine stolze Brust vollgehängt mit Verdienstorden. Zuerst wird die „Internationale“ gesungen. Ansprache des Funktionärs. Meldungen an ihn. Dann der große Moment: Die zu Ehrenden werden einzeln nach vorn gerufen. Von dem Funktionär höchstpersönlich erhält das Kind eine Urkunde und ein Abzeichen wird an sein Oberteil gesteckt. Im Anschluss werden nacheinander die verschiedenen Lehrer der jeweiligen Klassen aufgerufen und, je nachdem wie viele Auszeichnungen es für ihre Klasse gibt, auch ausgezeichnet.