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Kapitel 5
ОглавлениеToni ist zum Glück immer noch mit Attila zusammen.
Eine unzertrennbare Freundschaft verbindet sie, obwohl Attila ein ganz anderes Gemüt als Toni hat. Attila ist hitzköpfig und kann sich sehr schwer in das neue System einfügen. Ihm geht das Getue total gegen den Strich. Schon morgens, wenn es losgeht mit der „Blödennationale“, wie er zu sagen pflegt, stehen ihm die Haare zu Berge. Toni ermahnt ihn oft: „Reiß dich zusammen.“
Attila singt oft nicht mit oder verunstaltet den Text. Toni boxt ihn dann in die Rippen oder tritt ihm auf den Fuß. Einmal schreit Attila auf: „Autsch“. Die Lehrerin eilt wie eine Furie auf die beiden zu, ergreift unterwegs den Stock und schlägt auf sie ein. Strafarbeit, Meldung bei der Rektorin, Eintrag ins „Schwarze Buch“. Bei Wiederholung: Streichung eines Aus-flugs oder sonstiges.
Attila registriert, wie ein anderer Schüler schadenfroh grinst als sie Schläge bekommen. Auf dem Heimweg schmiedet Attila Pläne, wie er es dem schadenfrohen Schulkamerad heimzahlen kann.
Toni besorgt: „Attila sei so gut und mach dich nicht unglücklich, du weißt, der ist der Liebling der Lehrerin.“ Attila lässt sich aber nicht beirren.
In ihrer Freizeit treffen sie sich, so oft es geht.
Toni bleibt seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Musizieren, treu. Attila treibt Sport. Er braucht etwas zur Körperer-tüchtigung, seine Muskeln verlangen danach. Und trotzdem, obwohl sich ihre Interessen unterscheiden, verstehen sie sich sehr gut. Sie ergänzen sich praktisch.
Hat Attila eine Unsicherheit in einem Lernfach, kann er sich auf Toni verlassen. Andererseits steht Attila Toni bei, wenn er einmal von einem Mitschüler in die Zange genommen wird. Vor Attila haben sie Respekt.
Wenn sie schulfrei haben, halten sie sich oft an ihrem Lieblingsplatz auf: einem kleinen Wäldchen, ganz in ihrer Nähe. Am Waldrand haben sie ein Baumhaus errichtet, in dem sie oft sitzen. Von hier aus kann man die ganze Gegend unterhalb beobachten. Der Blick reicht über alle Häuser bis hinüber nach Pest.
Viele Jungs in ihrem Alter haben sich zu Banden zusammengeschlossen. Diese Gruppierungen bestehen oft nicht nur aus harmlosen Lausbubenvereinigungen. Sie werden von politisch angehauchten Anführern geleitet, sogenannten Jungpionier-Vereinigungen, die mit Militärliedern und –spielen beeindrucken. Mit all dem wollen Toni und Attila nichts zu tun haben. Da sind sie sich einig. Gegen die werden sie sich auch verteidigen.
Zu diesem Zweck haben sie auch vorgesorgt und dazu in ihrem Baumhaus allerhand Abwehrwaffen angehäuft. So z. B. Sand, der auf die Angreifer hinuntergeschüttet werden kann, ebenso Steine, Pfeil und Bogen, Speere, Schleudern. Auch steht immer ein Kübel mit Exkrementen parat. Was noch nebenbei den Vorteil hat, dass sie den Baum nicht verlassen müssen, ihr „Geschäft“ können sie praktischerweise gleich hier oben erledigen. Wehe, hier will jemand angreifen…
Sie merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. Die Beine baumeln hinunter. Die Stadt liegt im Abenddunst. Kaum dringt ein Laut an ihr Ohr, von der Stadt hört man sowieso nichts. Ab und zu fährt schon ein Auto mit Licht. Auf der Donau kommt ein schwer beladenes Schiff aufwärts gefahren, silberglänzende V-förmige Wellen hinterlassend. Alles sieht friedlich aus.
Und doch – große Veränderungen sind im Gange.
Toni ist eigentlich mit seiner Welt soweit zufrieden, so viel er weiß, auch seine Eltern. Der Vater hat offensichtlich eine respektable Stellung und ein gutes Einkommen. Hin und wieder wird er mit einer großen Limousine mit Chauffeur abgeholt, da fährt er dann zu Tagungen. Auch ist er schon per Flugzeug in Moskau gewesen – also ist er offensichtlich ein „Hohes Tier“. Die Mutter ist bestimmt auch zufrieden. Ihre Stellung in der Musikschule hat sie ausgebaut, sie unterrichtet jetzt an fünf Tagen. Zusätzlich gibt sie noch zuhause Privatunterricht.
Attila aber plagen offensichtlich schon andere Gedanken:
„Weißt du, Toni, bei dir ist es viel einfacher - ihr seid Russen“ - Toni schweigt.
„Aber meine Eltern haben’s nicht so gut. Mein Vater ist vor zwei Jahren entlassen worden, er hatte einen gutbezahlten Posten bei der Eisenbahn und jetzt schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Meine Mutter hat sich deshalb auch um eine Arbeit bemüht. Die hat sie natürlich bekommen, im kommunistischen System gibt’s ja keine Arbeitslosen, aber ihr ist eine Arbeit zugeteilt worden mit weniger Lohn.“
Toni bleibt stumm.
„Du kannst ja nichts dafür, dein Vater bestimmt auch nicht. Aber schau mal, wer in der Schule weiterkommt, sind nicht diejenigen, die wirklich eine hervorragende Leistung bringen, sondern die, die sich einschmeicheln und die ihre Fahne nach dem Wind hängen – die Arschkriecher.“
Sie sind erst zehn und elf Jahre alt. Aber das was da Attila sagt, gräbt sich bei Toni ein. Attila ist eigentlich schulisch gesehen nicht gerade der Beste, aber seine Gedanken sind sehr reif. Vielleicht auch begünstigt durch das Erlebnis mit seinen Eltern. Deshalb sieht er auch das Geschehen in der Schule mit besonderen Augen, er erkennt auch die Schattenseiten. Toni hält diese Freundschaft mit diesem wilden Burschen für sehr wichtig. Er begreift, dass er von ihm eine andere Sichtweise erfährt, die für ihn in seinem Zuhause fremd bleiben würde.
Sie fühlen aber auch, dass ihre Wege später einmal in ganz verschiedene Richtungen führen werden, schon wegen ihrer sehr unterschiedlichen Begabungen.
Diese Erkenntnis tut weh, aber deshalb müssen sie ihre Freundschaft umso mehr festigen. Eine Freundschaft muss das aushalten. Und wie sie sich jetzt durch ihre Unterschiedlichkeit ergänzen, stellen sie sich vor, dass ihnen das später auch mal von Nutzen sein kann. Also müssen sie sehen, dass sie immer Kontakt halten können.
Sie brauchen einen Plan, wie sie sich turnusmäßig austauschen können, sollten sie tatsächlich einmal getrennt werden.
Attila hat eine Idee: „Es gibt doch die Pal-Völgy - Tropfsteinhöhle in der Nähe, da suchen wir uns ein geheimes Versteck. Dort hinterlassen wir Nachrichten füreinander. Wenn wir uns trennen müssen, hoffentlich vergehen bis dahin noch viele Jahre, dann machen wir Näheres aus. Demnächst schauen wir uns dort um.“
Toni ist dies sehr recht, ihm wird es flau im Magen, wenn er an Trennung denkt.
„Aber vorher noch was Erfreuliches“ meint Attila, „jetzt überlegen wir, was ich mit dem Streber anstelle, der uns ausgelacht hat.“
„Von mir aus, verklopf ihn“, meint Toni, dem es ganz recht ist, dass das Gespräch eine andere Wendung nimmt.
Aber Attila ist vorsichtig, so einfach „verklopfen“ ist ihm zu riskant, er wäre ja erkannt und hätte somit anschließend seitens der Lehrerin mit Strafmaßnahmen zu rechnen. Er muss dem Kerl eins auswischen, so dass dieser gar nicht merkt, wer es war bzw. es nicht beweisen kann.
So erlebt ein bestimmter Schüler hin und wieder eine unangenehme Überraschung, sei es, dass er sich mal auf einen Reißnagel setzt oder seine Schuhabsätze von hinten mit Farbe angeschmiert sind. Es ist auch mal die Klotüre von außen verbarrikadiert, der „Arme“ wird erst bei der nächsten Pause befreit. Dass der Gefangene durch das Fehlen dieser Schulstunde eine Strafarbeit bekommt, darüber sind nicht alle traurig – ganz im Gegenteil.
Es bildete sich im Laufe der Zeit eine Zweiklassen-Gesellschaft.
Die Freundschaft von Toni und Attila wurde immer mehr strapaziert. Für Attila war klar, zu welcher Seite er gehörte - und gegen wen er opponierte. Das machte ihn auch stark. Er fand sich damit ab, dass er von niemandem was geschenkt bekam. Er würde auch nicht in eine höhere Schule wechseln - er würde eben ein Arbeiter werden.
Toni befand sich zwischen den Fronten. Seinen Freund verstand er absolut. Er selbst konnte sich aber aus Rücksicht auf seine Eltern nicht offen gegen die Lehrer oder sonstige Amtsträger stellen. Es setzte ihm psychisch zu, dass er ein Mitläufer sein musste.
Die Zeit kam, wo sich die Wege der beiden Kameraden trennten. Toni wurde ab der fünften Klasse in die staatliche Internatsschule aufgenommen; er würde auch im Burgviertel wohnen, also würde sich sein Leben hauptsächlich dort abspielen.
Als das bekannt war, wollten Toni und Attila ihre letzten Freizeitaufenthalte in ihrem Baumhaus noch intensiv nutzen. Nur saßen sie jetzt manchmal eine ganze Stunde nebeneinander und schwiegen. Viele Gedanken gingen ihnen durch den Kopf. Jeder versuchte sich auszumalen, wie es weitergehen würde.
Was wird die Zukunft bringen???
Am letzten Tag, bevor Toni ins Internat übersiedelt, wollen sie in der Tropfsteinhöhle ihr Versteck einrichten.
Sie treffen sich an ihrem Baum und machen sich auf den Weg, den sie schon oft gegangen sind. Sie kennen sich in der Höhle ganz gut aus, es ist aber trotzdem nicht ungefährlich.
Bei einem früheren Besuch hatte Attila einen passenden Stein aus der Höhle mitgenommen und ihn so bearbeitet, dass er jetzt von einer Seite ein Loch hat, in das man gut eine Flasche oder ähnliches stecken kann. Diesen Stein trägt er jetzt bei sich. Er wiegt immer schwerer in seinem Rucksack.
Toni hat unter anderem eine Taschenlampe dabei. Der Höhleneingang ist hinter dichtem Gebüsch versteckt, allerhand Felsbrocken liegen davor. Bevor sie direkt zum Eingang gehen, versichern sie sich, dass niemand zu sehen ist. Erst dann schleichen sie gebückt durch das Gebüsch und verschwinden in der Höhle. Taschenlampe an. Vorsicht ist geboten, links geht es steil hinab ins Dunkel. Sie wählen den rechten Gang, dieser ist leicht abfallend, aber viel Geröll macht das Eindringen sehr beschwerlich. Da geht niemand hinein, der nicht unbedingt muss. Dazu kommt, dass da allerhand unangenehme Dinge liegen, wie Exkremente von Tieren. Fledermäuse hängen an den mit Spinnweben überzogenen Decken. Der Geruch ist auch nicht gerade angenehm. Moder, verfaultes Aas oder sonstiges Undefinierbares. Attila geht natürlich voraus. Toni folgt dicht dahinter - ja nicht den Kameraden verlieren oder gar in etwas hineintreten, was man nicht sieht. Der Vordere hat ja die Taschenlampe.
„So, jetzt reicht’s“, stellt Attila fest und leuchtet mit der Taschenlampe hoch. Über ihnen ist eine Nische zu erkennen, die sie nur mit Hilfe eines Felsbrockens, den sie unter die Stelle wälzen um sich draufzustellen, erreichen können. Da soll der präparierte Stein hinein geschoben werden, der wunderbar in die Vertiefung passt. Kein Mensch, sollte je einmal jemand hierher kommen, würde etwas davon bemerken.
Beide kramen einen beschrifteten Zettel heraus und stecken ihn in eine Flasche, die sie dann verschließen und in die Steinaushöhlung legen. Anschließend schieben sie den Stein in die Vertiefung des Felsens.
„Wie bei einer Grundsteinlegung“ meint Toni. „Was hast denn du auf deinen Zettel geschrieben?“ „Das geht dich gar nichts an, ich weiß ja auch nicht, was auf deinem steht“ „Das wirst du sehen, wenn die vereinbarte Zeit gekommen ist.“
„Nun wollen wir aber diesen Akt feierlich besiegeln“, sagt Toni mit wichtiger Stimme. Sie reichten sich beide Hände.
„Wir werden immer Freunde bleiben, egal was kommen mag. Wenn wir uns nicht jedes Jahr sehen, werden wir hierher kommen und eine Nachricht hinterlassen, wo, wann und wie wir uns treffen können. Später können wir ja, je nach den Umständen, einen anderen Rhythmus vereinbaren.“
Sie nehmen sich in die Arme. Attila ist nicht für soviel Sentimentalität: „Nicht dass du mich auch noch küssen willst“, da hat ihm Toni aber schon einen Kuss auf die Wange gedrückt. So hart ist Attila dann auch nicht, wie er nach außen hin tut. Sie liegen sich in den Armen, „Toni, so einen Freund wie dich, werde ich nie mehr haben.“
„Jetzt hör aber auf“, winkt Toni verlegen ab - er ist froh, dass das Dämmerlicht seine Augen verbirgt.
Sie zünden noch zwei Kerzen an. Toni zieht ein Stück Brot und ein großes Stück „Herz-Salami“ aus seinem Rucksack. Attila staunt: „Was du alles mitgebracht hast!“ Sie lassen es sich schmecken. „Das ist ja wie eine Henkersmahlzeit“, feixt Attila. Er muss irgendetwas sagen, um die trüben Gedanken aufzulockern und die sentimentale Stimmung zu durchbrechen.
Toni ist aber noch nicht fertig. „Was wäre eine gute Mahlzeit ohne einen guten Schnaps“ und zieht noch eine kleine Flasche Barack-Palinka aus der Tasche. Attila ist total baff. Und zu allem Überfluss holt Toni auch noch ein Päckchen russischer Papirosy heraus.
Ein vorsichtiger Schluck Schnaps aus der Flasche.
Attila ganz abgebrüht: „Das braucht der Mann“ und reibt sich wohlig den Bauch. Toni verschluckt sich und hüstelt unterdrückt, er will ja schließlich auch ein „rechter Mann“ sein. Als dann die Zigaretten brennen und die ersten Züge gepafft waren, wird Toni weiß. Zum guten Glück sieht man es nicht in dem Halbdunkel. Der stinkende Qualm der Zigaretten mischt sich mit dem Modergeruch, das gibt ihm den Rest.
Und so kommt es, wie es kommen muss: Toni lässt die Zigarette fallen und wirft sich auf die Seite.
Die gute „Herz-Salami“ bleibt nicht lange in ihm, auch muss er sich schnellstens seiner Hosen entledigen, da ihm sein Körper oben und unten zeigt, dass sein Magen für diese Sachen noch nicht bereit ist.
Alles ist erledigt. So krabbeln sie mit gemischten Gefühlen zum Ausgang zurück.
In der Abenddämmerung treten sie den Heimweg an.
Die Lichter der Stadt liegen unter ihnen.
Schweigen. Es ist alles gesprochen.
Morgen fängt für Toni ein neues Leben an.
Beruhigend für ihn ist: Er wird wohl nicht weit weg sein von Attila und von zuhause, aber doch in einer eigenen abgeschlossenen Welt leben. Beruhigend ist auch, dass er mit seiner Mutter öfter zusammenkommen kann, weil sie ja dort auch Musik- und Gesangsunterricht gibt.
An den Wochenenden würde er auch öfter heimkommen.
Natürlich will er sich bemühen, Attila trotzdem so oft wie möglich zu sehen, aber ihre Wege werden eben nicht mehr die gleichen sein.
Sie werden auch nicht mehr zusammen lernen können.
Gedanken, Gedanken…
„Ach, wir sind schon da.“ Die Freunde nehmen sich noch einmal in die Arme. Toni verschwindet schnell hinterm Gartentor, bleibt aber noch kurz stehen, um sich zu fassen.
Olga ist hinterm Fenster zu sehen, sie wartet meistens, bis Toni heimkommt. Sie winkt Attila noch zu. Sie hat die Verabschiedung beobachtet und sich in etwa vorgestellt, was die beiden Freunde fühlen. Es tut ihr selbst weh.
Attila muss noch ein ganzes Stück weitergehen und bleibt mit seinen Gedanken allein. War das das letzte Mal, dass er mit Toni so gegangen ist?
Sein neues Schuljahr geht weiter, etliche seiner Klassenkameraden wechseln auf eine andere Schule.
Aber alle anderen sind ihm egal, den Platz von Toni - seines Tonis, würde niemand mehr einnehmen. Er fühlt sich allein und erbärmlich.
Zum guten Glück sieht niemand, wie er sich mit dem Handrücken über die Augen wischt - wahrscheinlich ist ihm eine Fliege ins Auge geflogen…