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Der Preis des flüchtigen Ruhms: »Dein Stamm aber sei ausgelöscht«
ОглавлениеGrétry leitete sein ganzes Unglück von seinem Ehrgeiz ab. »Ich wollte den Ruhm, ich wollte arme Eltern unterstützen, eine Mutter, die mir teuer war.« Wenn er jetzt daran denkt, stößt er bittere Rufe aus: »O grausames Schicksal! Mitleidlose Natur … Unerbittliche Natur! Zwar gestandest du mir zu, worum ich dich inständig und unter Schmerzen bat, aber nur, um dich an meinen Kindern zu rächen.«
Der zweite Teil der »Memoiren« schließt mit einem pathetischen Appell an alle Väter, ihr wahres Glück zu erkennen und seinem Beispiel nicht zu folgen: »O ihr allzuglücklichen Väter, hört auf mich: Genießt das Glück, euch in euren Kindern wiederzufinden! Möget ihr niemals den Kummer, sie verloren zu haben, kennenlernen. Ohne sie ist das Leben ein Nichts. Es gibt keinen Trost, keine wahre Freude mehr, weil man keinerlei Halt mehr hat, der eine schöne Zukunft erhoffen ließe. Wir alle wissen: Die Hoffnung ist es, die uns aufrecht hält und den Reiz unseres gegenwärtigen Glückes ausmacht, und alle Hoffnung ist zerstört, wenn man nicht mehr den süßen Namen Waten hören kann. Wacht daher über eure Kinder, mehr, als ich es getan habe! Glaubt nicht, dass besondere Talente ihr Glück bedeuten müssten; sie geben ihnen, im Gegenteil, einen zerstörerischen Ehrgeiz …«
Die Einmaligkeit seines Unglücks zwingt ihn zur Einsicht in sein fehlerhaftes Verhalten und zum Anerkennen der »Strafe«. Das Verdikt der »Natur« ist unerbittlich und unwiderruflich. Als Freund und Anhänger der Philosophen der Aufklärung erwartet er keinen Trost von der Religion und den Jenseitsverheißungen: »Gibt es wohl viele Beispiele für eine Verkettung von Unglücken denen vergleichbar, die ich erlitten habe? … Ich rufe das Vaterherz, das mehr als ich die Wonnen der Vaterschaft gekostet hat und die Qualen, ihrer beraubt zu sein. O unerbittliche, grausame Natur! Ich höre deine Stimme: ›Du willst‹, sagst du zu mir, »ausgezeichnet sein vor deinesgleichen? Durch Anstrengungen, die ich verdamme, willst du die Grenzen einer heilsamen Unwissenheit überschreiten? Es sei denn: Laufe der Chimäre einer Unsterblichkeit nach, aber erleide meine unwiderruflichen Beschlüsse (›l’irréfragabilité de mes décrets‹), die verlangen, dass das künstliche Glück erkauft sei mit dem Verlust des wahren Glücks. Lebe für einige Zeit im Gedächtnis der Menschen fort, aber sei tot in deiner Nachkommenschaft« (›Sois mort dans ta postérité.‹) – oder »Dein Stamm sei ausgelöscht!«, wie Dorothea Gülke frei und pointiert übersetzt.
Der Stamm war endgültig ausgelöscht. Ob er durch ein ehrgeizfreies Dasein Grétrys sich erhalten hätte, ist eine offene Frage. Die moderne Wissenschaft würde wohl kaum die selbstquälerische Analyse des Komponisten bestätigen, sondern andere Gründe ins Feld führen.
Als Grétry seine Selbstverdammung aussprach, glaubte er wohl kaum, dass er so schnell in Vergessenheit geraten würde. Seine Opern werden kaum noch aufgeführt, sie sind praktisch vergessen, wenigstens vom großen Publikum. Jedoch seine Memoiren, ein musikästhetisches Dokument ersten Ranges, werden immer wieder aufgelegt. Im Jahre 1798, nachdem er dieses Werk veröffentlicht hatte, erwarb er die berühmte Ermitage von Jean-Jacques Rousseau in Montmorency und verbrachte dort einen großen Teil seines Lebensabends. Das monumentale Werk, an dem er bis zu seinem Ende arbeitete, die »Réflexions d’un solitaire«, blieb unvollendet. André-Ernest-Modeste Grétry starb am 24. September 1813 in Montmorency und wurde unter großer Teilnahme der Bevölkerung begraben. Seine Manuskripte wurden an seine sieben Erben verteilt. Der kleine Teil, der nicht verloren ging, wurde mehr als 100 Jahre später veröffentlicht. Sic transit …
André-Ernest-Modeste: Grétry: Mémoires ou Essais sur la musique. Paris 1797.
Memoiren oder Essays über die Musik. Deutsch von Dorothea Gülke.
Leipzig 1973.
Réflexions d’un solitaire. Bruxelles 1919/1922.
Martin Witteck: Documents Grétry dans les collections de la bibliotheque royale Albert Ier. Bruxelles 1989.