Читать книгу Rolien & Ralien - Josepha Mendels - Страница 6

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Spielzeug

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Als Rolien aufwacht, steht die Sonne schon am Himmel. Die Katze Nellie liegt am Fußende ihres Betts. Sie stupst das Tier sanft in den Bauch. Aber Nellie will heute nichts von ihr wissen, sie mauzt und schlägt verwirrt ihre Krallen in die rosa Daunendecke. Oh, denkt Rolien, die schöne teure Seide geht kaputt. Sie springt aus dem Bett und ruft in den Gang: »Mutter, Mutter, Nellie zerfetzt das Rosa!«

Als sie mit der Mutter zurückkommt, ist Nellie damit beschäftigt, etwas abzulecken. Das Etwas lebt. Griet wird eilends herbeigeholt, sie bringt das zerfetzte Rosa und die inzwischen drei lebenden, tropfenden, abgeschleckten Winzlinge in einen leeren, unbewohnten Alkoven. Als Rolien ihnen kurz darauf einen Besuch abstattet, zählt sie schon fünf. Jetzt hat sie zu dem vielen Spielzeug, das sie neulich beim großen Hausputz von den Schwestern geerbt hat, noch fünf Kätzchen bekommen. »Danke, liebe Nellie«, sagt sie, »könntest du bitte noch viel öfter Kinderkriegen spielen?«

Die Kätzchen wachsen, und die Puppen leiden. Sie werden zwar rechtzeitig gewaschen, angezogen und gefüttert, aber ansonsten sitzen sie manchmal zwölf Stunden am Stück kerzengerade und mit der Schultasche unter dem Arm unten auf dem Lavabo, um von dort eilends in ihre Notwiege, eine gesprungene Schüssel, gebracht zu werden. Auch auf den Gute-Nacht-Kuss warten sie derzeit vergeblich, und das nur, weil man bei Morle und Pünktchen das kleine Herz in der Hand klopfen fühlt und weil sie aus unter Nellie verborgenen Fläschchen trinken und überall im Alkoven echtes Aa machen, ohne dass man es selber basteln muss, und weil sie balgen und kratzen und echte Töne von sich geben. Aber warum glotzen einen diese dummen Glasaugen jetzt so an, dass einem innendrin ganz mulmig wird? Die blonde Emmie, das stille Kind, blickt verächtlich unter ihren langen Wimpern hervor, und Dora mit den schwarzen Haaren, ihre Lieblingscharakterpuppe, tut gerade so, als würde sie nichts verstehen, wenn sie freundlich nachfragt, ob sie gut gelernt hat.

Deshalb rebelliert Rolien gegen die kleinen Menschen aus Kleie, Holz und Porzellan, gegen die unechten Zöpfe, die sich neben dem jungen, flauschigen Katzenhaar hart und trocken anfühlen. Sie gibt Dora grundlos eine Tracht Prügel dorthin, wo der Po sein sollte; die Scharniergelenke wehren sich, und Dora verliert im Kampf ihr rechtes Bein. Um es wiedergutzumachen, geht Rolien mit all ihren Kindern in den Zirkus, wo sie Bärchen und Affe auftreten lässt. Und bevor sie an diesem Abend alle miteinander in der geborstenen Schüssel im Kreis schlafen legt, wäscht sie ihr Gewissen rein: »Die Kätzchen, das müsst ihr doch verstehen, die sind noch so klein, deswegen mag ich sie so sehr. Aber sie werden größer, und ihr nicht, und wenn sie groß sind, drehen sie sich nicht mehr nach mir um, aber ihr, ihr braucht mich doch für immer, stimmt’s?«

Dora verbeugt sich zweimal und singt ein klägliches: »Mama … Mama …«

»Du verschlafener Faulpelz«, sagt sie zu Morle, der still in einer Ecke des Alkovens liegt, »ich such dich überall, warum versteckst du dich denn, du Frechdachs?« Sie streicht über sein Köpfchen und schaudert. Dann streichelt sie ihn mit der anderen Hand über den Rücken, schaudert abermals und muss dreimal schlucken, bevor sie wieder atmen kann. Morle schläft nicht einfach, Morle bewegt sich nicht, Morle kann sich nie mehr bewegen. »Leblos, leblos«, sagt sie laut, und dann wieder: »Ohne Leben«, noch ein Wort mit los, wärmelos, noch eins, spiellos, und zusammen leblos. Eine tote Katze wird irgendwo im Garten, an einer Stelle, die sie dir nicht sagen, in der Erde vergraben. Dann musst du auch nicht mehr daran denken. Und du hast ja noch Nellie und die vier anderen. Die führen kurz darauf vor, wie man eine Maus fängt. Sie pressen ihre Füße auf eine Steinstufe, damit sie nicht weglaufen kann, und lassen sie quieken. Dann ziehen die Kätzchen zu einem Cousin von Griet, nur Nellie bleibt da. Die Puppen bekommen wieder einen Gute-Nacht-Kuss, und Rolien kostet es aus, Nellie zu trösten, die im ganzen Haus nach ihren Jungen sucht, ja sogar bis in den Vorgarten der Nachbarn. Roliens Arm ist zu kurz, um das Tier durch die eisernen Gitterstäbe zurückzuholen. Der Arm eines großen blonden Mannes mit freundlichem Gesicht ist länger. »Vielen Dank«, sagt Rolien, aber warum … Der Mann läuft eilig davon, mit Nellie in dem Jutesack über seiner Schulter.

»So etwas ist Diebstahl«, erklärt ihr die Mutter.

»Aber das darf man doch nicht machen, und wenn man es trotzdem macht, dann ohne dass einen jemand sieht.«

Dann stellt sich heraus, dass im Naschkästchen sehr viel weniger Süßigkeiten liegen, als laut Statistik da sein müssten. Der Verdacht fällt auf Rolien. Schließlich ist sie versessen auf alles, was süß ist oder so aussieht. Sie kann an keiner Konditorei vorbeigehen, ohne Tirelireli zu trällern, etwas, das sie unter anderen Umständen selten oder gar nicht tut, weil ihr zu oft gesagt wird, dass sie den Ton nicht halten kann. Agnes und Mieke antworten beim Verhör, ohne die Miene zu verziehen oder sich durch ein anderes Lügensignal zu verraten. Ohne mit der Wimper zu zucken, gibt Rolien sofort zu, dass sie genascht hat, und ist erfreut zu hören, dass so etwas ebenfalls Diebstahl heißt. Auch wenn dir dabei ein bisschen das Herz klopft, du hast es gekonnt, es liegt allein in deiner Macht, schlimme Dinge zu tun oder nicht.

Natürlich ist es sehr viel schlimmer, die liebe Nellie zu stehlen, als saure Drops zu lutschen, die ein anderer hätte lutschen sollen. Und außerdem wollte sie es sowieso nach drei Tagen beichten, aber ihre Mutter war schneller. Jedenfalls kann sie von jetzt an alles, was sie will, selbst erleben. Und hat damit einen Sieg über dieses minderwertige Kind-Sein errungen.

Da sitzt eines Tages ein Mischling vor der Tür. Griet holt ihn herein, Mutter legt ihn in ein rundes Binsenkörbchen und nennt ihn Molli. Molli verschafft ihr neben all dem, was ein Hund so mit sich bringt, eine neue Erkenntnis. Und auch hier erlebt sie die Machtlosigkeit, die für jeden Gutgläubigen die natürliche Folge einer jeden Täuschung ist. Denn Molli, der weder schön noch intelligent oder besonders anhänglich ist, lässt sich verhätscheln und necken, ohne dafür etwas zurückzugeben außer seinen zweifelhaften Geruch und die Weichheit seines sinnlos gefleckten Fells. Rolien reicht das vollkommen. Minutenlang schmiegt sie ihre Wangen an seine warmen Schlappohren, während Molli ihr die Hände sauberleckt. Das alles geschieht heimlich, und Rolien weiß sehr wohl, warum. Ein Tier ist nun mal nicht so sauber wie ein Kind, oder zumindest wie ein großer Mensch ein Kind gern hätte. Doch wie um alles in der Welt kann eine Mutter überhaupt daran denken, wenn man einfach so gern mit dem Kopf auf dem Hunderücken liegt und vor sich hin phantasiert? Nichts fällt schwerer, als das sein zu lassen, was man so angenehm findet, und mitten in ihren Phantastereien erhebt sich störend die Frage, warum es sich gerade besonders angenehm anfühlt, wenn es verboten ist. Ihr ist auch klar, dass sie damit aufhören könnte, wenn sie es wirklich wollte, aber weil sie sich sowieso lieber gehen lässt, beginnt sie gleich damit, ihrem Durchhaltevermögen jede Energie zu entziehen. Und dann unterbricht sie erneut ein Gedanke, und zwar, ob sich das für Molli genauso angenehm anfühlt wie für sie. Da nach wiederholtem Fragen keinerlei Reaktion erfolgt, beschleicht sie plötzlich der Gedanke, dass der Hund sie mit seinen kleinen Triefaugen vielleicht gar nicht so sieht, wie sie in Wirklichkeit ist, sonst würde er ihr doch bestimmt mehr Beachtung schenken.

Sie trägt ihn auf dem Arm zu dem großen Spiegelschrank im Gästezimmer. Dort wird sie unversehens im Spiel der Sonnenstrahlen gefangen, die über Fenster- und Spiegelglas funkelnde Lichter in ihren Locken tanzen lassen. Sie lacht sich mit Augen und Mund zu und sagt, ohne ihr Spiegelbild auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen: »Das hier ist dein Frauchen, dein liebes Frauchen«, und wieder betört sie das zarte, flüchtige Funkeln, das sich mit dem stolzen Hin- und Herwenden des Kopfes bewegt und sie berührt, wie eine Fee sie berühren könnte.

Was dann passiert, hat sie nie richtig begriffen, aber ein paar Wochen lang profitiert sie von ihrem Talent, so natürlich und mitreißend zu erzählen und den Unfall auszumalen – wobei noch hinzukommt, dass die Wunde unter ihrem rechten Auge sehr langsam abheilt –, dass es ihr immer wieder gelingt, zum Gesprächsmittelpunkt zu werden.

Rolien & Ralien

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