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Experimente mit Leben und Tod

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Sie bleibt nun allein zurück, ein mageres kleines Mädchen in einem schmuddeligen Fahnentuch; allein mit den ausgebrannten Windlichtern und dem Gras mit den zertretenen Gänseblümchen und Butterblumen. Fern ist jetzt die stille Freude, die der Begeisterung des Festabends voranging. Die Unordnung entmutigt sie, aber wie kann sie dem entkommen? Es ist wie damals, als sie bei dem Katz-und-Maus-Spiel wie angenagelt dastand, obwohl sie am liebsten weggerannt wäre. Sie streckt die Arme nach den Rosen aus, doch die Blütenblätter sind bereits geschlossen und duften unbekannt nach Nacht. Dann stößt ihr Fuß gegen etwas Hartes. Sie bückt sich und greift in Doras langes schwarzes Haar; sie reißt sich das Fahnentuch vom Leib und wickelt die kalte Lieblingspuppe damit ein. »Rolien!«, ruft ihre Mutter, »ich habe im Garten eine Puppe verloren.«

»Verloren«, antwortet Rolien, »hast du auch schon mal ein Kind verloren?«

Nun lacht die Mutter, in dem Augenblick, in dem sie selbst weint; zwar nicht so weint, dass man es hören oder sehen kann, aber das muss die Mutter doch begreifen. Und hat dieses Lachen, das sie sonst (wegen der zwei perlweißen Reihen) so liebt, jetzt nicht etwas Spöttisches? Später im Bett gibt es keinen Grund zu schlafen, aber gute Gründe, wach zu bleiben und an die unförmigen Knie von Fräulein Vola zu denken, wobei sie es jetzt bedauert, dass sie die Knie nicht kurz angefasst hat, um genau zu wissen, wo der Knochen anfängt und das Fleisch aufhört. Auch der warme Mund des Notars kehrt zurück, mit diesem kitzelnden Schnurrbart auf ihren Lippen. Und wieder hört sie: »Rolientje, selbst wenn du zehn Jahre älter wärst, wüsste ich immer noch nicht, was ich tun sollte.« Was würde er dann tun, und warum sollte er es jetzt noch nicht wissen? Und nein, Akrobatin will sie nicht mehr werden, und das mit Paris wird natürlich auch nichts, Vater sagt öfter solche Sachen, und Mutter … wie hat sie nur die arme Dora im Garten vergessen können, und wie konnte sie danach auch noch darüber lachen? Dasselbe Lachen wie nach einem Streit mit Vater, wenn sie seine Krawatte neu bindet. Und trotzdem bleibt sie stolz auf ihre Mutter: Wenn die sie von der Schule abholt, ist sie schließlich immer die Schönste von allen Müttern. Und für ihren Vater schämt sie sich weiterhin: Er spuckt auf die Straße, direkt neben sie, einmal sogar auf ihre weißen Schuhe. Sie hat sie danach nicht mehr anziehen mögen, konnte es der Mutter aber nicht sagen, sonst wäre die Mutter wieder böse auf Vater geworden, und das ist schlimmer als alles andere. Morgen wird sie Marguérite den Akrobatenanzug zurückgeben. Komisch, die Hose wird vorn zugeknöpft, das hat sie noch nie gesehen, sie wird sich auch so eine wünschen. He, da sind sie ja wieder, diese komischen Knie, nun sind sie an Mutters Beinen, nein, Mutter, du hast schlanke Beine, aber du hast falsch gelacht. Du begreifst nicht, dass Dora lebt, auch wenn sie keine Kinder kriegen kann, und sterben kann, genau wie die Gänseblümchen und die Butterblumen. »Liebe, liebe Dora« (sie drückt einen Kuss auf das harte Puppenhaar), »du hättest tot sein können wie das Kätzchen, aber nun du lebst noch. Du lebst noch, denn du bewegst deine Arme und du küsst mich zurück, nicht so eklig wie der Notar, sondern ganz zart. Was sagst du, mein Schatz? Du willst nicht, dass deine Mutter Rudolf heißen soll? Aber nein, ich bleibe Rolien und dein Mütterchen, und später werde ich eine richtige Mutter. Oh, jetzt weiß ich’s, vielleicht hätte der Notar mich in zehn Jahren zur Mutter machen wollen. Aber was auch immer passiert, selbst wenn aus mir achtzehn echte Kindchen herauskommen, darfst du trotzdem bleiben und mit ihnen spielen, du musst mir nur versprechen, dass du nie sterben wirst, auch nicht, falls meine dumme Mutter dich nochmal draußen liegen lässt. Ach Dora, du sollst nie sterben …«

Und während Rolien Dora dann in ihre Achselhöhle bettet und viermal hintereinander sagt, jedes Mal mit der Betonung auf einem anderen Wort, »Dora wird nicht sterben müssen«, und schläfrig überlegt, ob sterben müssen zusammengeschrieben wird, kommt Ralien (und Roliens Herz hämmert bei diesem unerwarteten Besuch) und wiederholt noch einmal, mit der Betonung auf nie: »Dora wird nie sterben müssen, wenn du, Rolien, tust, was ich dir sage:

Steig aus dem Bett,

drück auf den Lichtschalter,

nicht auf das weiße Lämpchen,

sondern den schwarzen Schalter,

halte den Schalter

zehn Sekunden lang fest.«

Rolien schält sich zitternd aus ihren Decken, schlittert mit nackten Füßen über das Linoleum.

»Eins, zwei, drei, vier …«

»Viel langsamer,

öffne die Lade an dem hohen Schränkchen,

genau, so …

mach eine tiefe Verbeugung,

eine Tanzstundenverbeugung,

über die die Jungs gelacht haben,

weil du anders bist

als alle anderen,

noch einen Moment, einen kleinen Moment,

öffne die Lade an dem niedrigen Schränkchen

und halte dein Nachthemd wie ein Ballkleid.«

Jetzt sieht sie in den Spiegel und erschrickt vor dem bleichen Gesicht. Dann lässt Ralien diese feindselige Anrede in der zweiten Person sein und fährt mit ihrer vertrauten Bücherstimme fort: »Sie stolperte fast, so schnell lief sie nach dieser bangen Begebenheit in ihr Bett zurück, wo Dora wieder in ihre Achselhöhle kroch.«

Als Rolien im Winter darauf mit Dora im Schnee spielt, warnt Fräulein Vola sie: »Rolientje, zieh deiner Puppe doch ein Mäntelchen über, sonst holt sie sich noch den Tod.«

»Das kann nicht sein«, antwortet Rolien, und sie denkt an die Sommernacht, in der Ralien Doras Leben gerettet hat. Denn dieses den Schalter Festhalten und dieses sich vor Schubladen Verbeugen und dieses Nachthemd in ein Ballkleid Verwandeln, das sie mindestens dreimal pro Woche wiederholt, bürgt für Doras Leben.

Bevor sie nachmittags zur Schule geht, lässt sie die Puppe im weißen Garten zurück. Es ist barbarisch, sie zu verlassen: Schon kleben die ersten Schneeflocken auf den pechschwarzen Haaren, eine große Flocke auf dem roten Mund küsst sie noch rechtzeitig weg. Und sie ist bereits am Ende der Straße, als sie noch einmal zurückläuft. »Dora«, sagt sie, »das ist ein Test. Nichts weiter als ein Test, ob Fräulein Vola recht hat oder Ralien. Es muss sein, und glaub mir, ich bin wirklich nicht böse. Später, wenn du alt genug bist, werde ich es dir ausführlich erklären.«

Doras eines Auge, das noch nicht eingeschneite, blickt sie freundlich verstehend an. Vier Stunden später kommen dieses eingeschneite Auge und der restliche perfekte Puppenkörper wieder vollkommen unversehrt aus der weißen Schicht hervor, neben dem Baum, in den Marguérite einst ein Herz mit einem Pfeil und zwei Buchstaben geritzt hatte.

Im nächsten freien Aufsatz, in dem es um etwas Aktuelles gehen soll, schreibt Rolien über Schneemänner und eingeschneite Puppen: » … sobald es zu tauen beginnt, bleibt von einem Schneemann nichts übrig; aber die eingeschneite Puppe bekommt nicht einmal eine Erkältung, und deshalb sterben Puppen nie« (deshalb und nie unterstrichen) »und deshalb können sie nur zerbrechen oder kahl werden …« Danach, wieder in Klammern … »(Kinder können sie auch nicht kriegen)«. Als die Lehrerin die Aufsätze in der Woche darauf zurückgibt, reicht sie Rolien das Heft, doch ohne wie üblich ihren Aufsatz laut zu loben. Ihr spitzer rosaroter Nagel deutet auf die Buchstaben am Seitenende. Und Rolien liest: »Sowohl Tod als auch Geburt sind keine Aufsatzthemen für elfjährige Mädchen.«

Rolien & Ralien

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