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Eine Frau

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Diese Zeilen sind für sie der Beginn eines neuen Lebensabschnitts; sie bedeuten nicht nur das nahende Ende der goldenen Puppenzeit, das jegliche Rückkehr zu Holz und Kleie ausschließt, sondern ebenso den schwungvollen Beginn – mit einem Schwung, der ihr Angst macht – einer neuen Phantasterei, der in Ermangelung von vorgeformtem Spielzeug keinerlei Grenzen mehr gesetzt werden. Auf ihre Frage, worüber sie denn überhaupt schreiben dürfe, antwortet Fräulein Balto: »Das werde ich dir gleich sagen.« Als gleich jetzt ist, sagt sie (hört Ralien das richtig?): »Komm heute Abend um sieben Uhr zu mir. Ich wohne am Velperplein 2, zweiter Stock, zweimal klingeln.«

Schon kurz vor halb sieben steht Rolien vor der kahlen Haustür mit dem auf Hochglanz geputzten Messingschild, in dem sie sich dreißig Minuten lang spiegelt, sich also mit einem breiten, gutmütigen oder schmalen, giftigen Gesicht amüsiert; dabei lacht sie sich eher zu, als dass sie sich auslacht. Und in der Zwischenzeit macht sie sich Gedanken über Fräulein Balto, die bunte Gewänder trägt und ihr schwarzes Haar in vierzehn großen Locken hochgesteckt hat. An der linken Hand trägt sie einen glatten Goldring, und bei Klassenarbeiten schielt Ralien immer zu Fräulein Baltos rechtem Zeigefinger, der hinter einem Buchrücken diesen Ring streichelt.

Und außerdem gibt es Han, den Verlobten. Dienstags und freitags steht er vor der Schule, um Clara Balto abzuholen. Er ist lang und mager, und in seinem rechten Mundwinkel hängt, wie ein Riesenschnuller, eine kurze braune Pfeife. Hans Kontakt mit Rolien und ihren Mitschülern beschränkt sich auf das synchrone Zwinkern seiner beiden Lider: Nicht wahr, ihr und ich, wir lieben diese schöne, liebe Frau!

Dann spielt das Glockenspiel vom alten Kirchturm auf dem Platz seine bekannte Melodie; dem folgen sieben »Bams«, die unter ihren Fußsohlen nachbeben. Sie zieht vorsichtig an der Klingel, und die kahle Tür mit dem glänzenden Messing geht auf. Da sie niemand sieht, rennt sie geschwind die engen, dunklen Treppen hinauf. Hinter einer Tür hört sie Stimmen, Flüstern, Lachen. Es ist Clara Baltos Lachen; man kann es von jedem anderen Lachen unterscheiden, weil sie, wie Rolien es ausdrückt, zum zweiten Mal lacht; ohne einen Anfang gleich so, wie andere Menschen aufhören. Sie klopft, die Geräusche verstummen, Schlüssel klirren. Eine Tür weiter taucht Han auf. Zwinkernd: »Bist du immer so pünktlich, Rolien? Komm rein. Clara, Besuch für dich!«

Ist sie wirklich so klein? Wenn sie mit Han spricht, muss sie den Kopf ganz in den Nacken legen. Oder tut sie es nur, um seine Augen richtig zu sehen, blaue, fröhlich funkelnde Augen. Sie weiß nicht genau, was sie sagt, und genauso wenig, wie das Zimmer aussieht. Warum ist Clara nicht da? Sie hat doch ihr Lachen gehört. Und Han gleicht ein bisschen dem großen blonden Mann mit dem freundlichen Gesicht, der Nellie gestohlen hat.

Sie wird jetzt sehr verlegen. Man stelle sich vor, Ralien würde sie nun zwingen, den Lichtschalter zehn Sekunden lang zu drücken oder sich vor einer Schublade zu verbeugen. Gibt es hier überhaupt eine Schublade? Sie dreht sich um und geht auf Han zu, der an der geöffneten Verbindungstür steht. »Aber Kind«, sagt er, »du bist auch ungeduldig; ich komme gleich mit Fräulein Balto zurück«, und er schließt die Verbindungstür hinter sich, einen Augenblick zu spät, um Rolien Folgendes zu verbergen: ein ungemachtes Bett und Clara Balto im rosa Unterkleid, die vor dem Spiegel ihre vierzehn Locken hochsteckt, Clara Balto mit nackten weißen Armen und merkwürdig dunklem Haar in den Achselhöhlen. Verwirrt sucht sie nach einer Verbindung zwischen ihrem Spiel, das niemand sonst auf der Welt kennt, dem Temperament von Rosys verstorbenem Akrobaten, den unförmigen Knien von Fräulein Vola, dem Notar, der nicht weiß, was er tun sollte, selbst wenn sie zehn Jahre älter wäre, und der teilweise entkleideten Lehrerin neben dem zerwühlten Bett. Als diese dann in einem Hausmantel aus dunkelrotem Samt ins Zimmer tritt, sagt sie, dass Rolien sie bei ihrer Siesta gestört habe. Von der Siesta geht sie auf andere komische Wörter über, um Rolien zu beruhigen. Sie gießt Tee in dünnwandige Tassen und stellt eine Schale voll länglicher Kekse mit zartrosa Glasur vor sie hin. Im Widerspruch zu ihrem üblichen Heißhunger wagt Rolien jetzt kaum zuzugreifen.

»Schmecken sie dir nicht?«, fragt Fräulein Balto.

»Oh doch«, sagt Rolien, und während sie sich vorbeugt und genüsslich mit der Zungenspitze über die glatte Zuckerschicht leckt, sieht sie im Aufschauen dasselbe sanfte Rosa auf den Wangen ihrer Lehrerin.

»Hast du je von einem Kind gehört, das Lust hat, eine Lehrerin zu küssen?«, neckt Ralien.

Es ist schon spät, als sie die kahle Haustür mit dem auf Hochglanz polierten Messing hinter sich zuzieht. Die Straßenlaternen brennen, und die Schaufenster sind festlich erleuchtet. Sie bleibt vor einem Spielzeugladen stehen. Rechts liegen Puppen, Bären, Zwerge, links lose Köpfe, Perücken und Glieder; dazwischen eine Holzkiste voller Kleie mit der Aufschrift: »Mädchen, füllt eure Puppenkinder rechtzeitig auf, dann haben sie ein sehr langes Leben.«

Warum wollen große Leute uns bloß immer alles Mögliche weismachen? Abgesehen davon, dass Puppen nicht leben, muss der Spielzeugmann doch wissen, dass Leben und Tod keine Themen für Kinder sind. Fräulein Balto hat es ihr ganz genau erklärt: Geborenwerden und Sterben sind der natürliche Anfang und das natürliche Ende. Außer schrecklich klugen Männern kennen nicht viele die weiteren Einzelheiten, und weil sich die meisten irren, sollte man in Aufsätzen und in Büchern besser von dem berichten, was dazwischen passiert.

»Versuch es doch auch mal mit einem Buch«, hat sie gesagt, »das kannst du bestimmt.«

Aber Han hinter seiner Zeitung (die ihn bestimmt langweilte) hat gebrummt: »Setz dem Kind keine Flausen in den Kopf.« Daraufhin begann Fräulein Balto über Redewendungen zu sprechen, und Han las ruhig weiter. Sie kannte so viele, die sich widersprechen, sodass dies nicht sonderlich ergiebig war. Eigentlich war es, bis auf die Umgebung, eine Art gemütliche Sprachlektion gewesen, die man getrost wieder vergessen durfte, wäre da nicht die Erinnerung an rosa Kekse, rosa Wangen und warme Freudenschauer beim Abschied oben an der engen Treppe, als sie sich in den Falten dieses dunkelroten Samtmantels verborgen hat.

UND WAS DIESE FRAU AUSLÖST. »Mensch, bist du blöd«, sagt sie laut, reißt an der Klinke der geschlossenen Ladentür und streckt der linken Seite der Auslage die Zunge heraus. Seit diesem Abend hat sich ihre Liebe zu Puppen in eine Aversion gegen dieses verdorrte Zeugs verwandelt, verdorrt, weil sie vom Tod nichts mehr hören will. Eines Tages nimmt sie eine große Schachtel und stopft alle hinein, bis auf Dora. Tom liegt auf Emmie, und Jackie wird von der haarlosen Mutterpuppe plattgedrückt. Marguérite wird beauftragt, die Schachtel irgendwo zu verstecken, wo Rolien sie nicht finden kann. Davon abgesehen hat sie auch gar nicht vor, zu suchen. Marguérite verrät es allerdings Griet, und Griet verrät es wieder Rolien, mit der Folge, dass Rolien die Puppen in Papier einwickelt, eine Schnur herumbindet, eine Adresse darauf schreibt und das Paket im Postamt abgibt. Als drei Tage darauf ein Dankesbrief ihrer kleinen Cousinen ankommt, fühlt sie sich glücklich und befreit. In einer Ecke ihres Zimmers liegt Dora, die einzig Übriggebliebene, in der geborstenen Schüssel. Ihre Lider mit den langen schwarzen Wimpern sind geschlossen, sie lächelt philosophisch ergeben; Roliens abschätzige Blicke kümmern sie nicht mehr. Aber es gibt noch Ralien, und die gibt sich nicht damit zufrieden. Also lässt sie Rolien von nun an nach der Verbeugung vor der Schublade Dora umarmen und, mit ihrem Mund auf dem Puppenmund, flüstern: »Ich bin zu alt, um mit dir zu spielen, aber ich verspreche dir, dass du immer bei mir bleiben darfst. Amen.«

Ein Heft mit achtzig Seiten, ein weicher, glatter Bleistift und ein silbriger Bleistiftspitzer ersetzen das ausrangierte Spielzeug. Rolien wird schreiben. Sie sitzt am Schreibtisch ihres Vaters und kaut auf dem neuen Bleistift herum. Sie rührt damit in der Tabaksdose, entdeckt dahinter drei feuchte Zigarrenstummel, schnüffelt daran, nimmt das dicke Heft, den weichen, glatten Bleistift mit frischen Kauspuren, den Spitzer, der ganz silbrig geworden ist, und zieht in ihr Zimmer um. Erneut richtet sie sich ein, jetzt an einem weißlackierten Tisch, auf dem ihr Lieblingsbuch, Der geheime Garten von Burnett, liegt. Um nicht in Versuchung zu geraten, versteckt sie es unter der Matratze. Zwei Minuten später hat sie sich auf der Matratze ausgestreckt und liest zum x-ten Mal die letzten zwanzig Seiten. Ende. Das wird auch der Schluss für ihr Buch sein. Und dann ist es fertig. Und die Zeitungen bringen erhebende Besprechungen: »Die kleine Schriftstellerin Rolien Kolar überraschte uns mit ihrem schönen, gescheiten Roman: Die …«

Ja, was Die …? Natürlich, Die Kinder von Frau Staphorst. Die rote Tinte malt die Titelbuchstaben auf das Etikett. Von: Rolien Kolar. Aber wie weiter? »Sie zeichnet uns das Leben einer großen Familie. Wie liebenswert skizziert die Autorin, selbst noch ein Kind, diese Kinder.«

(Zeichnen und skizzieren, der Kritiker liebt offenbar sehr das Malen.) Und noch mehr Besprechungen. Und sie wird vor den Buchhandlungen stehen bleiben, um zu hören, was die Leute darüber sagen. Sie werden auf sie zeigen: »Schau mal, das ist Rolien, du musst versuchen, dich mit ihr anzufreunden, denn sie ist berühmt!«

Endlich zwingt sie sich zum Arbeiten. Der schöpferische Drang, der zwar vorhanden ist, muss, um in die Tat umgesetzt zu werden, mit Gedanken an eine glanzvolle Zukunft genährt werden, wobei aber ausschließlich der geistige Erfolg zählt, nie der materielle. Aber richtig glauben an diesen Ruhm tut sie nicht. Denn, so überlegt sie, auch hier wird es so sein: Immer wenn man im Voraus ein (glückliches) Ende erwartet, verkehren sich die Dinge ins genaue Gegenteil. Eigentlich erschrickt man vor solchen Gedanken; sie sind gleichermaßen unzuverlässig wie quälend, weil sie alles auf den Kopf stellen und einem damit wieder eine Illusion rauben. Unter diesem Eindruck beginnt sie mit ihrer ersten Seite.

»An einem warmen Sommerabend saß die ganze Familie Staphorst im Garten und unterhielt sich. Zuerst kam Herr Staphorst, von den Kindern meist Pa genannt. Er war fünfunddreißig Jahre alt, hatte einen blonden Schnurrbart und auf seinen Händen schwarze Haare. Dann kam Frau Staphorst. Sie trug, auch wenn es heiß war, dunkelrote Samtkleider mit langen Falten. [Die von Juffrouw Balto reichten bis zu ihren Schultern.]

Auf dem Tisch stand eine Schale mit länglichen rosa Keksen, genauso rosa wie die Wangen von Frau Staphorst. Dann kamen ihre sieben Kinder mit dem Fräulein …, sieben fröhliche, glückliche Kinder.«

Sie steht auf, läuft zum Bäcker an der Straßenecke und findet dort quadratische rosa Kekse, die sie länglich knabbert. Dann zieht sie mit Heft, Bleistift, Spitzer und sich selbst in den Schuppen um; der ist dem Garten der Staphorst-Kinder näher. [»Rolien Kolars Karriere begann zwischen Kohlenkästen.«] Hier ist es sehr still. Sie lauscht der Stille. Sie lauscht Ralien, die ihr diktiert. Ihre Finger werden vor Kälte steif. Sie wärmt sie im Mund auf und schreibt dann weiter. Ralien verliert keine weitere Minute. Jetzt passiert den kleinen Staphorstchen alles Mögliche: Sie masern und röteln, radeln und autoen, greinen und feiern. Immer wieder erweisen sich die Mutter und das Fräulein als gute, geduldige Erzieher. Der Vater kommt über seine fünfunddreißig Jahre, den blonden Schnurrbart und die schwarzen Haare auf den Händen nicht hinaus, deshalb muss er im dritten Kapitel von einer Straßenbahn überfahren werden, um ihn für immer von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Schließlich ist das die einzige Lösung in Anbetracht des Titels, aus dem eindeutig hervorgeht, dass sich hier alles um die Kinder von Frau Staphorst dreht. Auch von den Brüdern Wim und Jaap wird die Familie erlöst. Es sind richtige Nervensägen, aber weil Ralien nicht weiß, wie Jungs nerven, werden sie von ihr in ein englisches Internat verbannt. In ihren Briefen singen die Jungs ein Loblied auf die Direktorin, Miss Lloyd. Diese Miss Lloyd wird ein noch getreueres Abbild von Clara Balto als Frau Staphorst.

Für diese schöpferische Leistung braucht sie nicht nur die Kekse, sondern auch Doras dunkelrotes Samtcape. Und während der rosa Zucker auf ihrer Zunge schmilzt, ihre rechte Hand schreibt und ihre linke den Samt berührt, erlebt sie erneut diesen warmen Freudenschauer beim Abschied oben an der engen Treppe, als sie in den Falten dieses dunkelroten Hausmantels fast verschwunden ist.

Rolien & Ralien

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