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Ralien und Rudolf

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Mit großer Hingabe kehrt Rolien nach dieser Reihe von Erfahrungen mit lebendem Spielzeug wieder zu ihren Puppen zurück. All die vorübergehend verschmähte Kleie, die Holz- und Porzellanköpfe entführen sie wieder in die grenzenlose Welt der Phantasie. Diese Rückkehr ist umso bemerkenswerter, weil sie ihr Spiel von nun an bewusst spielt. Nicht das Spielzeug bestimmt, sondern eine andere, nah verwandte Rolien, die sich ständig in ihr Denken und Tun drängt.

»Und sie nennt sie heimlich Ralien«, diktiert ihr zweites Ich.

»Ich denke in Büchersprache.« Mit diesen Worten versucht sie ihrer Mutter diese Stimme zu erklären. »Wenn ich Doras Haare kämme, sagt jemand in mir: ›Jetzt nahm sie den Kamm und kämmte das lange schwarze Ziegenhaar ihrer Lieblingspuppe. Draußen war schönes Wetter, deshalb setzte sie ihr ein hellblaues Mützchen auf.‹« »Ich bin es so leid«, klagt sie ein anderes Mal, »ich fange schon an, in Sätzen zu träumen.«

Agnes und Mieke hatten sich nie so komisch benommen, die Mutter auch nicht, und der Vater ganz bestimmt nicht; pädagogische Schriften brachten auch keine Lösung, deshalb bleibt nur, sich über sie lustig zu machen. Vor allem bei Tisch: »und dann häufte Rolien wieder einen Berg Marmelade auf ihr Brot. Sie bekam davon ganz aufgeblähte Wangen.« Daraufhin wirft Rolien Mieke dieses Marmeladenbrot ins Gesicht. Zur Strafe gibt es eine Woche lang keine Süßigkeiten. Aber es hat gewirkt, denn keiner wagt es mehr, sich über Ralien lustig zu machen.

Die Zeit ist vorbei, in der die Puppen nur für ihr eigenes Glück lebten; nun wird mit ihnen experimentiert. Denn warum sollte Emmie nicht genau wie Nellie Kinder kriegen können? Zur Ermunterung legt Rolien die Puppe nicht mehr in die Wiege, sondern ans Fußende ihrer eigenen rosaroten Daunendecke. Wenn Griets Wecker sie jetzt am frühen Morgen weckt, will sie nicht mehr einschlafen. Sie nutzt die gewonnene Stunde, um die Puppe mit den Füßen hin und her zu schaukeln. So wurden schließlich auch die Kätzchen geboren. Manchmal rennt sie plötzlich schnell weg, in den Gang. Vielleicht will Emmie sie überraschen. Dort wartet sie dann, aber nach mehreren Enttäuschungen gibt sie schließlich auf. Eine Puppe bleibt eine Puppe und kriegt somit keine Kinder.

»Und dann holte sie den Arzt«, sagt Ralien, um ihr noch eine Chance zu geben, »und er untersuchte das Puppenkind.« Rolien hüllt sich in ein Bettlaken und klopft mit ihrer Zahnbürste den rosa Körper ab. Sie beklebt ihn mit buntem Metallpapier, zieht es wieder ab, pinselt die Oberschenkel dunkelgrün und die Waden rot, mit kleinen Herzchen. Weil ihr nicht klar ist, was für Kinder Emmie kriegen könnte (lebende oder welche aus Streichhölzern), gibt sie dieses Projekt ohne großes Bedauern auf und beschäftigt sich jetzt ganze Nachmittage damit, die Nacktheit der kleinen Menschenimitate zu studieren. Dass der Matrose Tom und die kleine schwarze Puppe Jackie genauso glatt und ungestaltet sind wie die Mädchen, fällt ihr nicht besonders auf. Den Geschlechtsunterschied erkennt sie am Haarschnitt und vor allem am Gesichtsausdruck. Tom und Jackie haben immer einen sehnsuchtsvollen Blick und die Mädchen einen so glücklichen, als bräuchten sie nichts mehr ersehnen. Mit Ausnahme von Dora, der griesgrämigen Charakterpuppe, die sie am liebsten mag. Nachdem die makellosen Nacktfiguren mit Gucklöchern durchbohrt sind, und weil sie Zusammenbrüche vermeiden möchte, macht sie aus den Jungen in rosa Seide gekleidete Mädchen und aus den Mädchen Jungen in Matrosenhosen. Weil aber die Matrosenhose nach Sehnsucht und die rosa Seide nach Glück verlangt, versetzt sie alle – nach dem Motto Jungs sind nun mal Jungs und Mädchen Mädchen – wieder in ihren natürlichen Zustand zurück.

Ihr Vater teilt diese Auffassung keineswegs. Er beschäftigt sich nicht oft mit ihr, amüsiert sich aber dann und wann damit, sie alle möglichen schwierigen Wörter verwenden zu lassen. Ihr ist ein großer Wortschatz angeboren. Sie lässt sich weder von dessen ungeachtet, noch von nichtsdestotrotz oder obgleich aus dem Konzept bringen. Aber bei »Wie läuft es denn so?« schaut sie hilflos zu ihm auf. »Ist das Reisen gemeint?«, fragt sie.

»Apropos reisen, möchtest du vielleicht nach Paris, Rolien?«

»Nein«, antwortet sie, »lieber nach Amsterdam, denn dort kann ich mich nicht unterhalten.«

»Aber wolltest du vielleicht nach Paris, um dort einen Jungen aus dir machen zu lassen?«

»Einen Jungen?«, wiederholt sie überrascht.

»Ja, das geht wirklich. Aber das muss vor deinem zwölften Geburtstag passieren. Und dann kommst du in einem grünen Cordanzug zurück.«

Jetzt kommt ihre Mutter herein. »Und mit kurzen Haaren«, schiebt Vater nach. Dieses kleine Gedankenspiel schenkt ihm die kindliche Befriedigung, sich für einen Moment einen Sohn herbeiphantasieren zu dürfen. Dass er diese Worte auch an sein Kind gerichtet hat, entgeht ihm. Genauso deren Wirkung. Die meisten Eltern säen wie er mit leichter Hand den ersten Samen, aus dem eine düstere, mächtige Pflanze erwächst, die Einsamkeit. Und trifft deren Schatten sie dann unverhofft, stoßen sie in naiver Verwunderung irgendwelche Sätze heraus, der Art: »Wie kommt unser Kind nur dazu … um Himmels willen, von wem hat sie das bloß?«

Am Abend, nach dem Ausziehen, stellt sie sich nackt vor den Spiegel. »Ich heiße Rolien«, sagt sie. »Und danach werde ich Rudolf heißen. Aber was werden sie dort an mir verändern?« Ihre Hand streift über ihre Brüstchen, umschließt die zaghafte Wölbung, streicht über ihre schmalen Schenkel. Sie entdeckt die ersten flaumweichen Härchen und denkt: So etwas haben die Puppen doch nicht. Sogar die alte Mutterpuppe ist weiß und glatt, aber ich hab es wohl … Ich hab es wohl. Das Streicheln ihrer eigenen kühlen Finger auf ihrer warmen Haut ist etwas sehr Angenehmes. Sie wiederholt es an den folgenden Abenden. So wird es zum Spiel. Zu ihrem Spiel, das sonst keiner auf der Welt kennt …

Dann überlegt sie, nicht ohne Bedauern, dass ein erwachsener Rudolf unmöglich Mutter sein kann. Wenn Vaters Plan aufgeht, muss sie sich einen anderen Berufswunsch ausdenken.

Sie hat gerade beschlossen, Arzt zu werden, als Marguérite, der französische Besuch der Nachbarn, sie auf andere Gedanken bringt. Rolien lauscht gern den wunderlichen Pariser Geschichten, die ihr Marguérite in einem ebenso wunderlichen Niederländisch auftischt. Aber immer irgendwo dort, wo keine ihrer Schulfreundinnen sie sehen kann. Denn Marguérite hat so komische, vornehme Kleider an, den Kopf voll unechter Locken, eine gepuderte Nase, rosa lackierte Fingernägel, und sie verbreitet, wo sie geht und steht, einen seltsam süßlichen Geruch. Deshalb lotst sie Marguérite, nach deren alberner Begrüßungsverbeugung vor ihrer Mutter, immer möglichst schnell in den Garten, in eine sichere Ecke im oder hinter dem Schuppen.

»Weißt du«, beginnt Marguérite heute, »wer in Paris die nettesten Männer sind? Ich weiß es von Rosy, unserem früheren Dienstmädchen, und der kann man glauben.«

»Nein«, antwortet Rolien. »Und ich will sehr gern ein netter Mann werden.«

»Heißt das nicht kriegen?«, fragt Marguérite.

Und Rolien, ohne weitere Erklärung: »Nein, werden.«

»Sie sind nicht distinguiert, aber witzig. Wenn Maman ein Diner gibt, sind sie sehr distinguiert, aber lachen gibt’s nicht. Und nie tun oder sagen sie etwas, um mich zum Lachen zu bringen. Doch über Rosys Mann lacht man sich schief. Außerdem ist er mutig. Allerdings nicht vorsichtig, denn jetzt ist er tot. Rosy sagt, das ist nicht so schlimm, ihr Temperament war ohnehin zu verschieden. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet; ich denke mir, dass er sie nicht fest genug geküsst hat.«

»Aber was war er denn eigentlich?«

»Clown und Akrobat bei einem Wanderzirkus.«

Rolien ist enttäuscht. Zwischen distinguiert und Clown gibt es unendlich viele Berufe.

Und Ralien sagt: »Sie starrte düster vor sich hin. Mit einem Mal sah sie die beiden großen Pfosten neben dem Schuppen, an denen mit Ketten befestigte Ringe hingen. Und ihr Gesicht hellte sich auf. Was Rosys verstorbener Ehemann konnte, das kann sie auch, nur ohne zu sterben.«

»Warum sagt du nichts?«, fragt Marguérite ungeduldig.

Rolien geht zu den ledernen Turnringen, nimmt einen großen Anlauf. »Glaubst du«, fragt sie, gibt Schwung und ruft, »glaubst du wirklich, dass ich das auch werden kann?« Sie verschränkt die Beine über dem Kopf, macht ein Vogelnest. Und mit feuerrotem Vogelköpfchen und funkelnden Augen ruft sie: »Jetzt den Todessprung!« Sie schwingt sich so hoch, dass ihre Zehen das Grün der Kastanie berühren; dann lässt sie jäh die Ringe los und fällt vornüber ins hohe Gras.

Marguérite drückt die rosa Fingernägel in ihre Handflächen: »Pauvre chérie, tu t’es fait mal?«

»Bist du verrückt? Ich habe mir einen wunderbaren Plan ausgedacht. Wir geben zusammen eine Zirkusvorstellung, gegen Eintritt, und von dem Geld, das wir kassieren, nehme ich Akrobatikunterricht.«

Der Garten steckt voller Überraschungen. Nicht nur, dass am Festabend dort überall Gänseblümchen und Butterblumen blühen, auch das Licht, das die Windlichter verbreiten, gibt den Blättchen der Rosensträucher einen blau-silbrigen Glanz, wodurch die Rosen an Muscheln erinnern und Rolien sogar einen Augenblick lang wünscht, die Vorstellung würde von höherer Stelle abgesagt, damit sie die Blumen und das Licht für sich allein haben kann. Aber nur für einen Augenblick, denn dann versetzt sie Marguérite, im dottergelben Badeanzug, mit einem von ihrem Cousin geliehenen Akrobatenkostüm (einer langen Hose von Jaeger mit dazu passendem, reich mit Mottenlöchern verziertem Hemd) in Verzücken und Verwirrung. Alles hängt in weiten Falten um Rolien herum, zusätzlich wickelt sie sich in ein verregnetes Fahnentuch.

So empfängt sie die Gäste an der Gartenpforte. Dora und Emmie baumeln an Mutters Arm. Niemand verweigert den Cent Eintrittsgeld, für den ein weiß nummeriertes Kärtchen überreicht wird. Dass einige der Besucher mehr erwarten, als ihnen für diesen einen Cent geboten werden kann, beweisen die achtundzwanzig Kupferstücke, die in dem rosa Fingerschälchen liegen, nachdem fünfzehn Nummern ausgegeben wurden. Dass sich auch Rolien mehr von diesem Abend erhofft hat, beweist ihre Niedergeschlagenheit am Ende des so begeistert begonnenen Fests.

Und trotzdem … zunächst einmal war jeder nett. Zum Beispiel Fräulein Vola, unsere hochgeschätzte Hausfreundin, wie Vater sie nennt. Denn während Rolien, kopfüber an den Ringen hängend, heimlich über die violetten Strumpfbänder lachte, die sie um deren unförmige Knie entdeckt hatte (wie schön stachen dagegen Mutters runde Knie in den schimmernden Strümpfen und die kurzen, glattgeschmirgelten Puppenbeine ab), hörte sie auch Vola lachen, ein fröhliches Kichern, und während sie langsam bis hundert zählte, bevor sie absprang, hörte sie die Bemerkungen: »Was ist das nur für ein merkwürdiges Kind«, und zu Roliens Vater: »Marius, deine Tochter hätte eigentlich ein Junge werden sollen.« Als sie benommen und wohlbehalten wieder aufrecht stand, versprachen Fräulein Vola und auch ihre Mutter, sie bei nächster Gelegenheit in einen richtigen Zirkus mitzunehmen. Nein, an den Erwachsenen hat es heute Abend bestimmt nicht gelegen. Sie schienen sich so zu amüsieren, dass sie ihren unausstehlichen, beschützenden Tonfall ganz und gar ablegten. Und es lag auch nicht an Marguérite, die sich instinktiv völlig im Hintergrund gehalten hatte. Und nicht einmal an dem berüchtigten Todessprung, der misslang, weil der vernünftige Teil von Agnes ausgerechnet in diesem Augenblick schrie: »Lass das, Rolien, oh bitte, lass das sein!« Das Geschrei erschreckte Rolien so, dass sie eine Vierteldrehung zu früh absprang und mit dem Kopf auf der Samtweste des Notars von gegenüber landete; er griff ihr daraufhin ins Haar, zog sie an den Ohren, küsste sie mitten auf den Mund und sagte, selbst wenn sie zehn Jahre älter wäre, wüsste er immer noch nicht, was er tun solle. Am Ende hatten sich alle so höflich bei ihr bedankt, als ob sie es ehrlich meinten.

Marguérite erwartet sie mit dem rosa Fingerschälchen und den achtundzwanzig Cents.

»Weißt du schon, wer dein Professor sein wird, Rolien?«, fragt sie interessiert.

»Professor?«, gibt sie abwesend zurück, und dann: »Oh nein, ich werde keinen Unterricht nehmen, ich werde kein Akrobat. Und hier, die Hälfte ist für dich.«

Worauf Marguérite froh mit der unerwarteten Beute nach Hause rennt.

Rolien & Ralien

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