Читать книгу Watch Dogs: Legion – Tag Null - James Swallow, Josh Reynolds - Страница 7
1: BRICK LANE
ОглавлениеOlly Soames erreichte die Brick Lane mit Höchstgeschwindigkeit und ließ das Rad ab hier ausrollen. Er schlängelte sich mit einer Leichtigkeit durch die mittäglichen Besucher des Markts, die auf Erfahrung und einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber den Verkehrsregeln beruhte. Als er wieder in die Pedale trat, griff er in seine Tasche und berührte das Display seines Optik AR, um es aufzuwecken. Das Mobilteil mit GPS-Zugang war mit einem winzigen, direkt vor seinem Ohr implantierten Gerät verbunden und legte eine Übersicht des Bezirks auf seine Netzhaut.
Die digitale Karte breitete sich über seinem Sichtfeld aus. Er bemerkte es inzwischen kaum noch, auch wenn es viel Übung erfordert hatte, damit zu fahren. Durch Blinzeln übersprang er die Pop-up-Werbung und gab sein Ziel ein, während er über das Pflaster raste und eine Spur erschrockener Flüche hinterließ.
Nicht alle wussten Ollys gekonnte Navigation zu schätzen und mehr als ein Stück Obst prallte von der Rückseite seiner Crossbag ab. Er ignorierte es. Er hatte größere Sorgen als eine schlecht gezielte Mandarine.
Er war spät dran. Und zwar nicht auf die vornehme Art, sondern die andere. Die Art, die bedeutete, dass er es verbockt hatte. Schon wieder.
Es war nicht seine Schuld. Er hatte eine Entschuldigung, aber Entschuldigungen zählten nur, wenn die andere Person bereit war, sie sich anzuhören. Angesichts ihrer bisherigen Begegnungen bezweifelte Olly, dass seine Kontaktperson Verständnis zeigen würde. Er beugte sich tief über den Lenker und trieb das Rad zu immer höheren Geschwindigkeiten an.
Das Optik-Mobilteil in seiner Tasche vibrierte und auf seinem Display blinkte eine Stauwarnung auf. Er steuerte in eine Sackgasse, hoffte den Stau umgehen zu können. Er hüpfte von der Fahrbahn und fuhr einen parallelen Weg entlang, auf der Suche nach dem geringsten Widerstand.
In seinem Augenwinkel lief ein Newsfeed. London war diese Woche Gastgeber einer großen Tech-Konferenz. Das erklärte all die Sicherheitsdrohnen über der Stadt. Olly hatte aus zuverlässiger Quelle gehört, dass die meisten von ihnen von zwei gelangweilten Bullen in einer klimatisierten Zelle in New Scotland Yard gesteuert wurden.
Aus einer Seitenstraße kam eine Bogen-Limousine und hupte ärgerlich, während er weiter darauf zuhielt. Dann hob er das Vorderrad an und sprang hoch, direkt über die Motorhaube des Wagens. Als er dahinter hart auf der Straße aufsetzte, hätte er sich fast die Zunge abgebissen, konnte das Rad aber gerade noch aufrecht halten.
Hinter Olly ertönte ein »Wichser!« Es war ausgeschlossen, dass er keine Kratzer im Lack hinterlassen hatte. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen, sich deshalb besonders schlecht zu fühlen. Was hatte der Kerl erwartet, wenn er an einem Sonntag durch London fuhr? Er hob zwei Finger über seine Schulter, behielt den Blick jedoch nach vorn gerichtet.
Olly wusste, dass ihn die Überwachungskameras im Blick hatten, aber das hieß nicht viel, wenn sich am anderen Ende niemand darum scherte. Soweit sie wussten, war er nur ein weiteres Kurier-Arschloch. Das war ihm auch ganz recht so. Und wenn es nötig werden sollte, kannte er ein paar Tricks, um eine Identifizierung praktisch unmöglich zu machen. Elektronische Augen waren genauso leicht zu täuschen wie die aus Fleisch und Blut, wenn man wusste, wie. Erneut berührte er das Optik-Display und aktivierte einen voreingestellten Befehl. Ein kodierter Datenstrom störte für ein paar Sekunden die Feeds der Überwachungskameras in seiner unmittelbaren Umgebung.
Rechts und links raste ein Regenbogen aus Curry-Restaurants und schicken Graffitis an ihm vorbei. Dann bog er um eine Kurve, erschreckte einen Dogwalker und rammte fast einen Betonpoller. Gebell und Gewinsel verfolgte ihn die Straße entlang.
Sein Optik vibrierte, aber er ignorierte es. Was immer es war, es musste warten. Er war ganz in der Nähe. Vielleicht nah genug. Vielleicht war er gar nicht zu spät. Vielleicht, vielleicht, vielleicht – das Mantra schwirrte ihm unablässig im Kopf herum.
Das hier war seine letzte Chance. Wenn er es diesmal wieder versaute, war es das. Er war erledigt. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz flau im Magen. Und das Gefühl wurde nur noch stärker, als er sein Ziel erreichte.
Die Gasse quetschte sich zwischen zwei Gebäuden durch. Ein Teil des alten Londons, verborgen und vergessen in der neuen Stadt – wie eine Narbe, bei der man sich kaum mehr daran erinnerte, wie man sie bekommen hatte. Ein düsteres, mit Müll gesäumtes Stück Kopfsteinpflaster. Die Mauern waren zugepflastert mit alten Theaterflugblättern, Postern für Funkbands und Jahrzehnten überlappender Tags. Neonfarbene Graffitiwirbel vermischten sich mit schlecht kopierten Flyern und zerfledderten Handzetteln für WGs.
Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, zu fragen, warum die Übergabe hier stattfinden sollte. Wahrscheinlich gab es einen guten Grund, aber den würde man ihm nicht sagen. Antworten gab es nur bei Vertrauen und ihm war mehr als bewusst, dass er sich weder das eine noch das andere verdient hatte. Und außerdem wusste es ein guter Kurierfahrer besser, als nach solchen Dingen zu fragen. Es spielte keine Rolle, was im Paket war, solange es pünktlich und unversehrt an seinem Ziel ankam.
Er brachte das Rad quietschend zum Stehen. Eine Ratte flüchtete sich in den Müll und ihr Fiepen hallte von den Mauern wider. Ein bisschen Tageslicht kämpfte sich an den Dächern über ihm vorbei. Er stieg ab und schob das Rad mit klopfendem Herzen bis zum Ende der Gasse. Wenn sie schon weg war, würde er das noch ewig zu hören bekommen.
»Sie sind spät dran«, sagte eine Stimme zu seiner Linken. Die Stimme – und ihre Besitzerin – waren vornehm. Zu vornehm für diesen Teil Londons, doch das behielt er für sich.
»Viel Verkehr.« Er drehte sich um. Sie war jung, in seinem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Schick angezogen, mit einem schwarzen Hidschab und einem Optik-Audioknopf im Ohr. Sie war süß. Erinnerte ihn an jemand Berühmtes – eine Fernsehköchin, dachte er, auch wenn ihm ihr Name nicht einfiel. Kurz spielte er mit dem Gedanken, eine Bildersuche zu starten, dann überlegte er es sich anders. »Hannah Shah?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Falls nicht, würde ich jetzt trotzdem kaum widersprechen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Stimmt wohl.« Man hatte ihn gewarnt, dass sie nervös sein würde. An ihrer Stelle würde er sich in die Hose machen vor Angst. Daten krochen über seine Sicht. Die gehackte Gesichtserkennungssoftware auf seinem Optik gab ihm alles, was es über sie zu wissen gab, einschließlich ihrer Schuhgröße. Das verlieh dem Ausdruck »wie ein offenes Buch« wirklich eine neue Bedeutung. Eine Mitteilung erschien und er wusste, dass sie das Gleiche versuchte. Olly wünschte ihr viel Glück. Er hatte viele lange, schlaflose Nächte damit verbracht, sein Datenprofil unverdächtig und uninteressant zu machen. Ihres war viel spannender.
Hannah Shah. Dritte Generation bengalischer Einwanderer. Persönliche Assistentin von Sarah Lincoln, der frisch gewählten Labour-Abgeordneten für den Bezirk Tower Hamlets South. »Ein bisschen weit weg von zu Hause, oder?«, fragte er mit einem Lächeln und einer vagen Geste. »Limehouse ist da drüben, Ms Shah.«
Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine freie Stadt. Jedenfalls noch.«
»Darum sind wir ja hier«, sagte er. »Haben Sie es bekommen?«
»Woher soll ich wissen, ob Sie derjenige sind, dem ich es geben soll?«
»Falls nicht, würde ich jetzt trotzdem kaum widersprechen«, wiederholte er ihre eigenen Worte und versuchte, schelmisch zu grinsen. Doch ihrem Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass es nicht funktioniert hatte. Sie starrte ihn an und er musste dem Drang widerstehen, sich unter ihrem Blick zu winden. »Hören Sie, ich gehöre nicht zu Albion, wenn es das ist, worüber Sie sich Sorgen machen.«
»Das hab ich nicht, aber jetzt schon.« Sie starrte ihn unbeirrt weiter an.
Er starrte zurück und plötzlich fiel ihm die Parole wieder ein. Peinlich berührt griff er sich an den Kopf. »Ach ja. Die Rote Königin sagt: ›Ab mit ihrem Kopf.‹«
»Das kommt ein bisschen spät«, sagte sie misstrauisch.
Er konnte es ihr nicht verübeln, dennoch war er genervt. Es war nicht seine Schuld, oder? Er war nicht derjenige, der sich in einer dunklen Hintergasse hatte treffen wollen wie in einem schlechten Film. Er war nicht derjenige, der auf dämlichen Kennwörtern bestanden hatte, wenn sie sich auch einfach verschlüsselte Pings an ihre Optiks hätten schicken können.
»Ich hatte es vergessen«, erklärte er trotzig. Als sie nicht antwortete, drehte er sein Rad herum. »Dann fahre ich wohl einfach wieder, ja?« Er versuchte, gleichgültig zu klingen. »Mich juckt das nicht.« Was nicht ganz stimmte. Aber das musste sie ja nicht wissen.
»Warten Sie«, sagte sie schnell. Er blieb stumm. Nach einem Moment seufzte sie. »Hier.«
Sie hielt ihm einen gefalteten A5-Umschlag hin. Darin befand sich etwas Kleines. Wahrscheinlich ein USB-Stick, dachte er. Aber er war nicht so grün hinter den Ohren, dass er den Umschlag aufmachen und nachsehen würde. Nicht vor ihr. Dennoch zögerte er. Er kannte sich mit diesen Angelegenheiten gut genug aus, um zu wissen, dass es wahrscheinlich ein Risiko für sie war, sich so mit ihm zu treffen. »Ihnen ist klar, dass Sie dadurch in große Schwierigkeiten geraten könnten.«
»Nur wenn Sie erwischt werden«, erwiderte sie leise. »Also, um unser beider Willen, lassen Sie sich nicht erwischen.«
»Hatte ich nicht vor.« Er steckte den Umschlag in seine Jacke. »Danke, Süße. Bis dann.« Einen Moment später war er bereits wieder auf seinem Fahrrad und drei Sekunden danach weg.
Er blickte nicht zurück.
Hannah Shah marschierte Richtung Whitechapel und überflog im Gehen wichtige E-Mails auf ihrem Optik-Display. Es war zwar Sonntag, doch das bedeutete nicht, dass keine Arbeit mehr reinkam. Außerdem war es eine gute Ablenkung.
Ein Polizeiauto fuhr mit heulenden Sirenen an ihr vorbei. Auf den Straßen waren mehr Polizisten unterwegs, als sie jemals gesehen hatte. Irgendwas lag in der Luft. Vielleicht hatte es mit der TOAN-Konferenz in ein paar Tagen zu tun. Die Abkürzung stand für Technology for All Nations und war eine Riesensache. Ein Zeichen für Londons Wiederauferstehung, wie manche behaupteten. Insgeheim hatte Hannah ihre Zweifel daran.
Um sie herum erstreckten sich Boutiquen und Hipster-Cafés, so weit das Auge reichte. In Tower Hamlets bekriegte sich Tradition mit Gentrifizierung und Letztere war am Gewinnen. Es gab heutzutage kaum noch Geld für irgendwas, dennoch wurde etwas getan, hauptsächlich von ausländischen Konzernen. London rutschte seit Jahren in die internationale Bedeutungslosigkeit, aber niemand wollte es zugeben. Und wenn das bedeutete, gewisse Elemente einzuladen … dann war das eben so.
Elemente wie Albion.
Ihr war immer noch komisch zumute, die Informationen weitergegeben zu haben. Krish hatte sich für den Kurier verbürgt und er hatte zum Profil ihres Gesichtserkennungsprogramms gepasst, aber nur gerade so. Es war, als hätte er niemals soziale Medien genutzt oder sich fotografieren lassen. Abgesehen von einem Fahndungsfoto, das sie auf eigene Faust ausgegraben hatte. Die Ähnlichkeit war nicht sehr groß, aber es reichte. Der Verdächtige hatte sich kurz in die Systeme einiger neu entwickelter automatischer Auffüllroboter eines gehobenen Supermarkts gehackt und sie in Diebe verwandelt – zwei fürs Regal, einen für den Roboter. Es gab nicht genug Informationen darüber, was mit den gestohlenen Waren passiert war, auch wenn in einer angehängten Notiz angedeutet wurde, dass sie anonym an örtliche Lebensmitteltafeln gespendet worden waren.
Oliver Soames – Olly für seine Freunde – war im Zuge der Ermittlungen befragt worden, doch es war nichts dabei herausgekommen. Das war das ganze Ausmaß seiner Geschichte: eine kurze Erwähnung in einer inzwischen geschlossenen und vergessenen Polizeiakte.
Hannah konnte die Industriebleiche praktisch riechen. Jemand hatte Olly aus dem System geschrubbt. Es war dieser Mangel an Informationen, der sie letztendlich überzeugt hatte. Wenn Olly Soames nicht zu DedSec gehörte, ließ er es auf jeden Fall verdammt so aussehen.
In einem plötzlichen Anflug von Nervosität richtete sie ihren Hidschab. Vielleicht gehörte er doch nicht zu DedSec. Vielleicht war er ein Albion-Spitzel. Ein illegales Tracker-Programm machte sie auf die Anwesenheit diverser Sicherheitsdrohnen über ihr aufmerksam. Mehr, als man einem Sonntagmorgen für gewöhnlich sah. Vielleicht gingen sie gegen Verkaufsstände ohne Gewerbeschein vor – oder sie folgten ihr.
Sie schlängelte sich durch den Markt und ging den Drohnen aus dem Weg, so gut sie konnte. Ihre Akte war tadellos, doch sie wollte kein weiteres Risiko eingehen. Besonders wenn jemand herausfand, was sie getan hatte. Es war ein kalkuliertes Risiko gewesen, aber was hätte sie sonst tun sollen? Albion war gefährlich.
Nicht alle teilten ihre Meinung. Zum Beispiel ihre Chefin. Sie sah Albion als »Chance«. Darum hatte sie Hannah damit beauftragt, ein komplettes Dossier über die Firma anzufertigen – alles, von ihrer Personalpolitik bis zu ihren Finanzdaten. Was immer sie finden konnte, wie unwichtig es auch wirkte. Leider war nicht viel zu finden gewesen. Aber das, was sie gefunden hatte, war erschreckend.
Als eines der weltweit führenden privaten Sicherheits- und Militärunternehmen wollte Albion nun in den privatisierten Strafverfolgungssektor expandieren. Und das Vereinigte Königreich sollte als Testmarkt für langfristige städtische Einsätze und Befriedung fungieren, beginnend mit London. Wenn es Albion gelang, dort Fuß zu fassen, kam das einem Messer an der Kehle des restlichen Landes gleich.
Wenn es ihnen gelang, den Vertrag zu bekommen, würden sie praktisch niemandem Rechenschaft schuldig sein. Eine paramilitärische Macht, die das, was vom Vereinigten Königreich übrig war, besetzt hielt. Der Gedanke war nicht besonders erfreulich.
Glücklicherweise war DedSec ihrer Meinung. Oder zumindest hoffte sie, dass sie das waren. Es war von außen schwer zu sagen, was DedSec tatsächlich wollte. Zuerst hatte Hannah sie nur für ein weiteres Hackerkollektiv gehalten, das Ärger machen wollte. Doch inzwischen wusste sie es besser.
DedSec hatte einen Plan. Wie dieser Plan aussah, wusste sie nicht, abgesehen davon, dass er darauf abzielte, das Leben für alle ein bisschen besser zu machen. Und das beinhaltete, Albion davon abzuhalten, sich in London breitzumachen. Oder zumindest hatte Krish ihr das versichert.
Sie lächelte bei dem Gedanken. Als sie ihn kennengelernt hatte, war er nur ein junger Rapper auf der Suche nach Gigs gewesen. Jetzt war er … was? Ein Hacktivist? Ein Mitglied des Widerstands, alle Macht dem Volke, die ganze Leier.
Und ab heute war sie das auch.
Der Annäherungsalarm ihres Optiks ging los und sie sah auf. Nachrichtendrohnen kreisten in der Luft wie Aasgeier. Whitechapel war in letzter Zeit ein Interessenschwerpunkt geworden. Man hatte Albion gestattet, in Tower Hamlets probeweise ihr Ding zu machen, während die Regierung über die Verlängerung und Ausweitung ihres gegenwärtigen Vertrags debattierte.
Das hatte die Einwohner ziemlich verstört. Besonders seit bekannt geworden war, dass Albion Immobilien aufkaufen wollte, um sie in Einsatzzentren ihrer Londoner Speerspitze umzuwandeln.
Die Sozialwohnungen von Whitechapel standen seit Jahren kurz vor dem Abriss – einschließlich Lister House, wo ihre Chefin heute ihre Rede halten würde und das als Erstes von Albion aufgekauft werden sollte. Lister House war im Laufe der Zeit mehr als einmal den Gentrifizierungsplänen des Stadtrats entkommen und man konnte quasi die Uhr nach den Protesten stellen. Hannah konnte es den Bewohnern nicht verübeln. Falls das Gebäude abgerissen wurde, konnten sie nirgendwo mehr hin.
Unglücklicherweise war das Sarah Lincoln trotz ihres öffentlichen Images vollkommen egal. Tatsächlich vermutete Hannah, dass sie ihren derzeitigen Wahlbezirk nur allzu gern gegen einen schickeren, finanzstärkeren eintauschen würde. Sarah hätte das mit Sicherheit bestritten, doch nach Jahren der Zusammenarbeit wusste Hannah, wie Sarah tickte.
Sarah Lincoln hatte ebenfalls einen Plan. Und sie würde mit Freuden über alles und jeden hinwegtrampeln, um sicherzugehen, dass dieser Plan reibungslos verlief. Nicht dass die Abgeordnete für Tower Hamlets South auf ihrem Weg nach oben nicht auch ein paar gute Dinge bewirkt hatte. Aber das war eher beiläufig passiert – das Äquivalent einer Königin, die ihren Schoßhündchen ein paar Leckerlis hinwarf. Eine großzügige Königin, aber nichtsdestotrotz eine Königin.
Hannah war das zuerst gar nicht aufgefallen. Sie war viel zu beschäftigt gewesen. Die persönliche Assistentin einer Parlamentsabgeordneten zu sein bedeutete, dass sie rund um die Uhr in Bereitschaft zu sein hatte. Und Sarah konnte sehr charmant, sogar freundlich sein, wenn sie wollte.
Doch unter der sanften Fassade verbarg sich ein stählerner Wille. Und obwohl sie in diesem Bezirk geboren worden war, schien ihr egal zu sein, was aus den Menschen hier wurde, solange es sie nicht schlecht dastehen ließ. Und das fiel den Leuten langsam auf.
Darum waren sie heute hergekommen – und darum hatte Hannah Gelegenheit für die Übergabe gehabt. Eine Petition machte die Runde und Sarah hatte sich darauf gestürzt wie ein Tiger auf eine angekettete Ziege. Sie hatte spontan diese Versammlung einberufen, um die Protestler zu beruhigen. Um ihnen zu versichern, dass man sie nicht gewaltsam aus ihrem Zuhause werfen würde. Zumindest noch nicht.
Das Hannahs Meinung nach eigentliche Problem bestand darin, dass sich Sarah noch nicht entschieden hatte, ob sie den Albion-Deal unterstützen sollte oder nicht. Wenn sie es tat, würden dem Bezirk – und ihrem Wahlkreis – große Veränderungen bevorstehen und vielleicht auch ein großes wirtschaftliches Wachstum. Als Gegenleistung mussten sie nur ihre Seele verkaufen.
Ihr Optik vibrierte, als es sich automatisch mit dem ihrer Arbeitgeberin synchronisierte. Sie sah auf. Die Sozialwohnungen von Lister House und seinem Nachbarn Treves House waren modernistische Gebäude, die aus einer traurigen Grünfläche aufragten. Eines bestand aus einer langen Reihe von Arbeiterhäusern, das andere war ein hoher Block mit sauberen Linien und ebenmäßigen Proportionen. Doch beide sahen inzwischen ausgesprochen heruntergekommen aus. Der Gemeinderat schwankte zwischen freundlicher Vernachlässigung und unverblümter Feindseligkeit und den Mietern drohte seit fast dreißig Jahren immer wieder die Zwangsräumung.
Bäume und Hecken hinter schwarzen Metallzäunen markierten die Grenzen des Grundstücks, und Autos säumten die Straßen. Die Leute versammelten sich bereits im Gemeinschaftsbereich zwischen den Wohnblöcken und warteten gespannt darauf, was ihre Abgeordnete zu sagen hatte.
Sarahs schwarze Brubeck-Limo parkte in einer Entfernung, wo ihr nichts passieren konnte. Hannah wich der Menge aus und schlängelte sich an einer unauffälligen Absperrkette vorbei zum Wagen. Sie stieg hinten ein, wo Lincoln in klimatisiertem Komfort saß und auf ihrem Luxus-Optik in Roségold Newsfeeds durchscrollte.
»Sie sind spät dran«, sagte die Abgeordnete, ohne von ihrem Gerät aufzublicken. »Ich dachte schon, ich würde das ohne Sie machen müssen.«
»Tut mir leid.« Hannah hielt kurz inne. »Das muss traumatisch für Sie gewesen sein.«
Sarah schnaubte, sah aber immer noch nicht auf. »Vorsicht. Ich könnte Ihnen das übel nehmen und Sie feuern.«
Hannah war nicht besonders besorgt. »Aber das werden Sie nicht. Fünf persönliche Assistenten in ebenso vielen Jahren. Jemand könnte die falschen Schlüsse ziehen.«
»Da ist was dran. Was halten Sie von dieser TOAN-Sache?«
»Wir haben noch nicht zugesagt.«
»Gut. Ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen als die Teilnahme an einer Technikkonferenz.« Sie sah auf und wechselte erneut das Thema. »Was war denn so wichtig, dass Sie bis zur Brick Lane mussten?«
»Ich hab mich mit einer Freundin getroffen«, sagte Hannah. Sie war an Sarahs abrupte Themenwechsel gewöhnt. Ihre Chefin machte das absichtlich, um ihr Gegenüber aus dem Konzept zu bringen. Da Hannah das wusste, hatte sie ihre Geschichte vor dem Spiegel geübt. Bevor Sarah fragen konnte, fügte sie hinzu: »Sie arbeitet für Natha.«
Lincolns Blick schoss nach oben. »Und warum in aller Welt haben Sie sich mit jemandem getroffen, der für den … ehrenwerten Abgeordneten … von Tower Hamlets North arbeitet?«, gurrte sie.
Hannah unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte genau gewusst, welche Reaktion die Erwähnung des anderen Abgeordneten haben würde. Winston Natha entstammte ebenfalls der zweiten Generation von Einwanderern, auch wenn seine Eltern nicht aus Dusa Marreb, sondern aus Kalkutta kamen. Dennoch hatten sie mehr gemeinsam, als Sarah lieb war. »Es heißt, dass Natha den Albion-Deal unterstützen wird«, erzählte sie.
Sarah setzte sich so abrupt auf, dass sie fast gegen das Dach der Limousine gestoßen wäre. Sie war eine große Frau, größer als Hannah. Größer als die meisten Männer, besonders wenn sie Absätze trug – was sie so oft wie möglich tat. Sie war schlank, elegant und ihre Kleidung kostete mehr als die meisten ihrer Wähler in einem Jahr verdienten. Sie hätte in ihrer Jugend Model gewesen sein können. Ihre Haare waren zu einem festen Dutt am Hinterkopf frisiert. Sie ließ ihr Optik in ihrer Jacketttasche verschwinden und starrte ihre Assistentin an. »Was hat er gesagt?«
»Er findet, dass sie einen, und ich zitiere, ›verdammt guten Job in Tower Hamlets machen‹.«
Sarah runzelte die Stirn. »Und das wissen Sie sicher?«
»Zu siebzig Prozent«, sagte Hannah. Sie musste vorsichtig sein. Sarah war nicht dumm – selbst wenn sie von Natha das Schlimmste denken wollte, würde sie nach einer unabhängigen Bestätigung suchen.
»Das reicht mir nicht«, entgegnete Sarah mit einem kleinen Lächeln. »Auch wenn ich es dem kleinen Wiesel zutrauen würde. Er würde Sauerstoff privatisieren, wenn er damit durchkommen würde.« Sie hielt inne, eine Hand auf dem Türgriff. »Dennoch sollten wir das im Hinterkopf behalten. Wenn Natha dafür ist, werden sich genau die falschen Leute auf ihn stürzen.«
Hannah entspannte sich. »Ich dachte, Sie würden das wissen wollen.«
Sarah lachte leise. »Wenn das mit der Politik nicht klappt, wird vielleicht noch eine Superspionin aus Ihnen.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Kommen Sie. Ich kann unsere Wähler schon knurren hören. Bringen wir diesen wacal von einem Tag hinter uns.«