Читать книгу Watch Dogs: Legion – Tag Null - James Swallow, Josh Reynolds - Страница 8
2: WHITECHAPEL
ОглавлениеOlly fuhr schnell und hatte mit einem Auge sein Display im Blick. Laut seinem Optik waren es noch zwölf Minuten bis Limehouse. Die Erfahrung sagte ihm, dass es wahrscheinlich eher zwanzig Minuten werden würden, je nachdem, wie schlimm der Verkehr auf der Vallance Road war. Er schwenkte auf den Bürgersteig. Nachdem er die Enge der Brick Lane hinter sich gelassen hatte, konnte er auch wieder die Kurierdrohnen von Parcel Fox sehen, die wie unbeholfene Tauben herabschossen.
Die Drohnen waren der Grund, warum sein Job in Gefahr war. Sie erledigten die gleichen Aufgaben wie er in der Hälfte der Zeit und mussten nicht bezahlt werden. Schon bald würde jeder die verdammten Dinger benutzen und wo würde er dann bleiben? Genau dort, wo er gewesen war, bevor er durch pures Glück an diesen Job gekommen war. Vor DedSec.
Er dachte an Hannah. Gehörte sie auch zu DedSec? Unmöglich zu sagen. Er könnte natürlich fragen, aber er konnte sich die Antwort schon denken. Besser kein Risiko eingehen. Auch wenn es ihm schwerfiel, seine Neugier zu unterdrücken. Er war immer schon neugierig gewesen und hatte Dinge auseinandergenommen, um zu sehen, wie sie funktionierten. Telefone, Computer, Fernseher. Als Kind hatte er Mechaniker werden wollen.
Doch die Zeiten änderten sich. Und man musste sich mit ihnen ändern – oder man war erledigt.
London lernte das gerade auf die harte Tour.
Olly bremste scharf und wich nur knapp einer Barrikade aus. Seit den Redundancy Riots gab es viele davon in Tower Hamlets. Jede Menge Proteste, hauptsächlich gegen Immigration. Die Stadt – das Land – war wie ein Kochtopf, der schon viel zu lange auf dem Herd stand. Noch war er nicht übergekocht, aber es würde nicht mehr lange dauern.
Er freute sich nicht darauf. Als alles auseinanderzufallen begonnen hatte, hatte er noch Windeln getragen, und seitdem war es nicht besser geworden. Wenn man die Wohlhabenden von den Habenichtsen trennen wollte, gehörte er eindeutig zu Letzteren. Doch wenn die Lage schlecht aussah, waren es immer die Habenichtse, die den Kürzeren zogen. Das Geld war knapp – und wurde immer knapper.
So scheiße sein Job auch war, er war froh, ihn zu haben. Die meisten seiner Freunde konnten das nicht von sich behaupten. Diejenigen, die nicht für den Clan Kelley oder eines der kleineren Syndikate arbeiteten, jobbten in Frittenbuden oder bekamen Stütze.
Er ließ das Rad über einen aufgerissenen Bordstein hüpfen und die Passanten sprangen ihm aus dem Weg. Eine Kurierdrohne schoss an ihm vorbei und schien fast höhnisch mit ihren Rotoren zu wackeln. Am liebsten hätte er sie aus der Luft geholt, aber das hätte nur die falsche Art Aufmerksamkeit erregt, ganz egal wie gut es sich angefühlt hätte. Andererseits hatte er mit solchen Aktionen DedSec überhaupt erst auf sich aufmerksam gemacht. Glücklicherweise hatten sie ihn vor der Polizei gefunden.
Manchmal fragte er sich, ob die Polizei überhaupt wirklich hinter ihm her gewesen war – oder ob sie ihm das nur erzählt hatten. DedSec brauchte Rekruten und sie scheuten sich nicht davor, sich die Hände schmutzig zu machen, um sie zu bekommen. Vielleicht war das einfach der Lauf der Dinge. Entweder man war auf ihrer Seite oder auf der anderen. Ob man es nun wusste oder nicht. Insgesamt zog er es vor, auf seinem Rad zu sitzen.
Er bog ab und fuhr quer über eine Kreuzung. Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht verfolgt wurde, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Er machte das hier lange genug, um zu wissen, dass die Bullen einen manchmal an der langen Leine ließen, weil sie hofften, der kleine Fisch würde sie zu den großen führen. Aber keines seiner Sicherheitsprogramme meldete sich. Für die Drohnen über ihm war er nichts Besonderes. Dennoch bedeutete das nicht, dass er nicht doch überwacht wurde.
Wieder hüpfte er auf einen Bordstein und fuhr durch ein Parkhaus. Während er sich an den Autos vorbeischlängelte, berührte er das Optik und aktivierte ein Spiegelprogramm. Es würde das GPS-Signal der Autos, an denen er vorbeikam, klonen und sie als sein eigenes ausgeben. Wenn ihm jemand ernsthaft auf den Fersen war, würde ihn das nicht lange täuschen, aber für einen zufälligen Beobachter wurde es dadurch schwerer, seiner Spur zu folgen.
Angesichts dessen, was er bei sich hatte, schienen ein paar vorbeugende Tarnmaßnahmen nur vernünftig. Und in letzter Zeit war Olly sehr vernünftig. Er bildete sich gern ein, dass er es von dem Jungen, der Auffüllroboter und Bankautomaten gehackt hatte, weit gebracht hatte.
Nur die Zeit würde zeigen, ob irgendwas davon eine Rolle spielte. Als ihm von DedSec ein Ausweg angeboten worden war, hatte er ihn ergriffen. Eine Chance, seine Akte zu bereinigen, nicht in den Knast zu wandern und vielleicht, nur vielleicht, zur Abwechslung mal was Bedeutsames zu tun. Selbst wenn er noch keine Ahnung hatte, was das sein mochte.
Oliver Soames. Was treibt mein Lieblingspraktikant heute?
Olly blinzelte überrascht. Die Stimme in seinem Ohr war freundlich, der Akzent geschmeidiges britisches Englisch – wie poliertes Chrom. Wie ein Nachrichtensprecher oder Telefonverkäufer. Freundlich, offen und gesellig.
»Bin auf dem Weg nach Hause, Bagley«, murmelte er. »Außer es gibt was Wichtiges …?«
Mit nach Hause meinst du doch bestimmt Limehouse?
»Was sollte ich sonst meinen?«
Stimmt. Hast du es?
»Wenn nicht, würde ich wohl verfickt noch mal kaum nach Hause kommen, oder?«
Sprich nicht so, Oliver. Ich bin sehr empfindsam. Außerdem weiß man nie, wer zuhört.
»Hoffentlich niemand«, sagte Olly scharf. »Das ist doch ein sicherer Kanal, oder?«
Bombensicher. Der Kanal reitet Huckepack, wurde geklont und umgekehrt.
»Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn.«
Eine alberne Frage verdient eine alberne Antwort.
Olly verkniff sich eine Erwiderung. Es hatte keinen Sinn, mit Bagley zu streiten. Genauso gut könnte man mit einem Toaster diskutieren. Seine Persönlichkeit war ein Spiegel – man sah, was man erwartete. Ein vorkonfigurierter, rudimentärer KI-Assistent, der jedem zur Verfügung stand, der ein Optik von Blume besaß.
Ich kann hören, wie du mit den Zähnen knirschst, Oliver. Denk dran, das Leben ist besser mit Bagley.
Olly brummte. Das Sparmodell von Bagley war nur so klug, wie es seine Parameter zuließen. DedSec hatte eine Reihe von Beschränkungen seiner Programmierung gefunden, zweifellos von Blume selbst eingebaut. Diese Beschränkungen zu entfernen hatte ein paar unerwünschte Nebenwirkungen gehabt. Der Standard-Bagley war freundlich. Der DedSec-Bagley war ein nerviges Arschloch. Wenn das die ursprüngliche Absicht des Programmierers gewesen war, fand Olly, dass er ein paar aufs Maul verdient hatte.
Ich empfehle dir, eine Abkürzung durch Lister House zu nehmen.
»Was?«
Das verkürzt den Weg um fünf Minuten. Es könnte dich interessieren, dass sowohl Lister House als auch Treves House 1956 von dem Architekten Count Ralph Smorczewski entworfen wurden …
»Meinetwegen«, sagte Olly schnell. Wenn etwas schiefging, konnte er es immer noch auf Bagley schieben. Er raste über die schmalen Gehwege der Sozialsiedlung. Alarme ertönten und fütterten ihn mit Daten über die Menge, die sich auf der Gemeinschaftsfläche versammelt hatte.
Dort war eine kleine Bühne mit Mikrofon aufgebaut. Es gab auch Stühle, aber nicht annähernd genug. Er meinte, auf der Bühne Hannah Shah zu sehen, neben einer sehr großen Frau in Businesskleidung und Vertretern des Gemeinderats. Shah sah nicht glücklich aus. Wahrscheinlich wünschte sie sich angesichts der Stimmung der Menge, irgendwo anders zu sein. Er fuhr am Rand der Menge vorbei und scannte sie nach Gesichtern und Namen, um sie für eine spätere Durchsicht zu speichern.
Informationen waren besser als Geld, besonders angesichts des derzeitigen Wechselkurses. Wie das Ding in seiner Tasche. Ein Umschlag – sie hatte es in einen Umschlag gesteckt. Wer machte so was? In jedem Handyladen konnte man Signalblocker kaufen.
»Amateure«, murmelte er.
Das musst gerade du sagen. Du fährst doch noch mit Stützrädern.
»Du weißt doch überhaupt nicht, wovon ich spreche!«
Ich kann Kryptowährungsalgorithmen errechnen und gleichzeitig einen Fokusgruppen-basierten Bestsellerroman schreiben. Zu extrapolieren, was du da murmelst, ist ein Kinderspiel. Ich … Warte mal.
»Was ist?«
Da ist etwas …
Den Rest hörte Olly nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, mit dem Gesicht voran über seinen Lenker in den Schotter zu fliegen. Der Idiot, der mit ihm zusammengestoßen war, wurde gegen ein parkendes Auto und dann auf die Straße geschleudert. Der Mann war älter und sah dürr und eingefallen aus, als ob ihn ein starker Windstoß über die Themse davonblasen würde.
»Pass doch auf, wo du langfährst«, knurrte der Mann, während er wieder auf die Beine kam.
Olly spuckte Dreck aus und sprang kampfbereit auf. »Du bist derjenige, der in mich reingerannt ist, Kumpel!«
»Fick dich, ich …«
Das Geräusch klang wie ein Hammer, der auf einen Apfel traf. Es gab einen Lufthauch und dann ein feuchtes Knirschen. Der Mann zuckte zusammen und wirbelte herum. Etwas Heißes, Rotes traf Olly an der Wange, während der Mann zusammensackte und mit erschreckender Endgültigkeit auf dem Boden liegen blieb.
Die Welt um ihn herum verlangsamte sich und kam dann ruckelnd zum Stehen. Olly konnte nichts anders tun, als schockiert auf den Boden zu starren. Sein erster Instinkt bestand darin, zu versuchen, die Blutung zu stoppen, so wie er es tausendmal in Serien und Filmen gesehen hatte. Man presste die Hände auf die Wunde und es hörte auf zu bluten. Nur dass das nicht funktionierte. Das Blut strömte immer weiter, es war an seinen Händen, seiner Hose, seiner Nase und – oh Gott, es war überall.
»Bagley, ruf einen Krankenwagen oder leite einen um oder so was. Dieser Kerl, ich glaube, er wurde erschossen, scheiße, oh scheiße, jemand hat auf ihn geschossen …«
Noch während er vor sich hin stammelte, analysierte ein Teil von ihm, was er gesehen hatte. Der Schuss war aus dem Nichts gekommen – ein Scharfschütze? War irgendwo auf den Dächern ein Irrer mit einem Gewehr? So etwas passierte nicht in London – in Großbritannien. Sie waren hier nicht in Amerika. Die einheimischen Irren benutzten Stanley-Messer und Schraubendreher, keine Gewehre.
Immer wieder spielte sich in seinem Kopf die Szene ab. Der Mann, der wieder aufstand, ihn verfluchte, dann herumwirbelte und fiel. Das Blut …
Oliver.
Bagleys Stimme klang kühl in seinen Ohren. Er ignorierte die KI. Warum war da so viel Blut? Er betrachtete seine Hände. Vollkommen rot. Sein Verstand drehte sich im Kreis. Es war so rot. Warum war es so rot? Gab es nicht einen Grund – Arterienblut, vielleicht … seine Gedanken schweiften ab, bis ihn Bagley zurückholte.
Oliver. Du musst gehen. Lincolns Security nähert sich.
Olly schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, ich kann nicht, er ist …«
Tot. Verstorben. Seine Funktion ist beendet. Ihm kann ich nicht mehr helfen, dir aber schon. Steh auf.
Olly schaute auf den Boden. Der Mann sah aus wie eine Stoffpuppe, ganz schlaff und zusammengeschrumpft. Als wäre alles, was ihn ausgemacht hatte, herausgerissen worden, sodass nur eine leere Hülle zurückblieb. Er lehnte sich zurück und versuchte zu denken. Leute schrien. Rannten. Der menschliche Instinkt – zumindest der erste – war, so weit wie möglich von Schwierigkeiten wegzukommen. Aber das galt nicht für alle. Ein paar Männer eilten auf ihn zu, wahrscheinlich Sicherheitsleute in Zivilkleidung. Sie drängten sich durch die Menge und sahen nicht freundlich aus.
Sein Optik vibrierte und machte ihn auf Aufnahmegeräte in der Nähe aufmerksam. Nachrichtendrohnen, Optik-Kameras, alle richteten sich auf ihn. Schlimmer noch, der Klang von Sirenen wurde immer lauter und durchdrang den Nebel der Panik.
»Fuck. Fuck, fuck, fuck.«
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Hinfort mit dir, junger Oliver.
»Okay«, sagte er heiser, kam zitternd auf die Beine und berührte mit blutbeflecktem Finger sein Optik, während er gleichzeitig sein Rad aufhob. Sein Geist bewegte sich schneller als sein Körper, isolierte die Probleme und löste sie der Reihe nach. Eine Ex-Freundin von ihm, die psychiatrische Krankenschwester gewesen war, hatte das reflexive Kompartmentalisierung genannt, was immer das bedeutete.
Zuerst die Nachrichtendrohnen. Heutzutage benutzten alle Agenturen das gleiche Netzwerk – alle benutzten heutzutage das gleiche Netzwerk. Wenn man eine Drohne hackte, hackte man sie alle. Also tat er es genau das und löschte die Feeds der letzten fünf Minuten. Die Optiks kamen als Nächstes dran. Sie waren leichter. DedSec hatte die Kunst, die Optiks sehen zu lassen, was immer sie wollten, perfektioniert. Die Gesichtserkennungssoftware würde keinen Treffer finden, oder genauer gesagt, zu viele Treffer. Er war so gut wie unsichtbar – nur ein weiterer blasser Typ in einem schäbigen Hoodie und einer Jogginghose.
Polizisten nähern sich von Bethnal Green. Acht Sekunden.
Die Polizei war eine andere Sache. Sie würde er nicht so leicht täuschen können. Er musste weg. Es nach Limehouse schaffen. Sich verstecken, bis er die lokalen Feeds vollständig löschen konnte. In ihm stieg eine andere Art Panik auf – nicht lähmend, sondern drängend.
Dir bleiben sechs Sekunden, bis die Polizei eintrifft. Nutze sie.
Limehouse. Einen Moment später war er auf seinem Rad und drei Sekunden danach verschwunden. Als der erste Streifenwagen auftauchte, befand sich Olly bereits auf der anderen Seite der Wohnanlage und raste so schnell er konnte Richtung Osten.
»Was war das?«, zischte er, als er um eine scharfe Kurve bog. »Was ist da gerade passiert?«
Unbekannt. Ich habe mich in die gestörten Feeds geklinkt – gute Arbeit übrigens – und analysiere gerade die Daten. Der Schuss hatte etwas Seltsames an sich.
»Was bedeutet das?«
Noch nichts. Fahr weiter. Lass das meine Sorge sein.
»Gerne.«
Oh, du hast immer noch das Paket, oder?
Ein kurzer Anflug von Panik erfasste ihn und er klopfte hektisch seine Jacke ab. Er spürte den Umschlag und was er enthielt und seufzte erleichtert auf. »Ja, hab ich«, sagte er. Zumindest das hatte er nicht verbockt.
Guter Mann. Leg einen Gang zu, Oliver. Es geht ziemlich heiß her.
Sarah Lincoln war bei Minute drei ihrer fünfminütigen Rede über Zusammenhalt und die stolze, wenn auch wechselhafte Geschichte der Vallance-Road-Gemeinschaft, als sie die Schreie hörte. Unerschütterlich sprach sie noch dreißig Sekunden weiter, bevor plötzlich die Hölle losbrach und ihr sorgsam geplanter Auftritt in Chaos versank.
Zuerst wusste sie gar nicht, was sie gehört hatte. Sie hielt es für eine Fehlzündung. Erst als sie aus dem Augenwinkel sah, wie ein Mann zu Boden ging, wurde ihr klar, was passiert war. Oder zumindest glaubte sie, es zu wissen. Jemand beugte sich über ihn – hatte die Person ihn erschossen? Von hier aus, begraben unter ihren Personenschützern, war es unmöglich zu sagen. »Runter! Runter von mir!«, fauchte sie und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
»Bleiben Sie unten, Ma’am«, zischte einer von ihnen zurück und stieß sie zu Boden. Zumindest versuchte er es.
»Wenn man mich hätte treffen wollen, hätte man mich erwischt. Und jetzt runter von mir!« Trotz der Proteste ihrer Sicherheitsleute stand sie auf und sah sich um. Es war das pure Chaos – Leute rannten umher, ihr Team versuchte, sich seinen Weg zu dem Angeschossenen zu bahnen.
»Ich denke, wir … wir sollten hier weg«, sagte Hannah und packte sie am Arm. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme zittrig. »Jemand schießt!«
Sarah schüttelte sie ab. »Aber nicht auf mich! Rufen Sie einen Krankenwagen.« Sie schnappte sich das Mikro und hob ihre Hand. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Beruhigen Sie sich!« Niemand hörte auf sie, aber darum ging es auch nicht. Die Nachrichtendrohnen über ihren Köpfen nahmen alles auf.
Einen Moment später hörte sie die ersten Sirenen. Sie hielt ihren Blick auf den Angeschossenen gerichtet, auf den Mann, der vor ihm kniete – durchwühlte er seine Taschen? Nein. Er versuchte zu helfen. Ein besorgter Bürger. Ihre Leute näherten sich ihm, wer er auch sein mochte.
Es war alles so gut gelaufen. Das war das Ärgerliche daran. Die Rede war eine ihrer besten gewesen, fand sie – gleichzeitig tröstlich, informativ, aber ohne jegliche echte Substanz. Ein beruhigendes Zitat war ein sicheres Zitat, perfekt für zusammenhanglose Soundbites.
Am Anfang ihrer Karriere hatte sie den Fehler gemacht, die Aufwieglerin zu spielen. Sie war zu jung gewesen, zu unerfahren, um zu verstehen, wie es wirkte, wenn eine große Frau somalischer Abstammung ihre Kollegen kritisierte. Als ihr klar geworden war, was daraus gemacht wurde, war sie gezwungen gewesen, ihren Idealismus neu zu bewerten – ihn in etwas politisch Zweckdienlicheres zu verwandeln. Es war nicht schwer gewesen. Sie war immer schon eine Pragmatikerin gewesen.
Idealisten kamen an die Macht. Politiker blieben an der Macht. Und Sarah Lincoln hatte damals entschieden, dass sie lieber eine Politikerin sein wollte. Und als Politikerin wusste sie, dass ein Bild mehr wert war als tausend Worte. Und das Bild einer Abgeordneten, die verzweifelt versuchte, eine panische Menge zu beruhigen – nun … das waren mindestens zweitausend Worte.
Ihre Leute erreichten den Angeschossenen, als der erste Streifenwagen mit quietschenden Reifen und blinkendem Blaulicht zum Stehen kam. Weitere trafen wenige Augenblicke später ein. Der besorgte Bürger war längst verschwunden. Sie fragte sich, wohin, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Je weniger Leute, mit denen sie das Rampenlicht teilen musste, desto besser. Zumindest redete sie sich das ein, als sich einer ihrer Leute neben den Angeschossenen kniete. Sarah ging auf sie zu, trotz Hannahs Protesten.
Der Personenschützer hatte seinen Blazer ausgezogen, faltete ihn zusammen und schob ihn dem Mann unter den Kopf. Die Geschichten ihres Vaters über den Bürgerkrieg kamen ihr in den Sinn, während sie sich an einen vor vielen Jahren absolvierten Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern versuchte.
Ihr war klar, dass der arme Kerl längst tot war. Das Loch war zu groß, da war viel zu viel Blut. Kurz verspürte sie Übelkeit, doch sie zwang sie zurück. Hatte er hier gelebt? Sie meinte, ihn in der Zuschauermenge gesehen zu haben. Er sah nicht aus wie jemand, der auf der Straße erschossen wurde. Unweigerlich fragte sie sich, warum er tot war.
Einige Polizeibeamte hatten sich versammelt. Einer sprach eilig in sein Funkgerät, während seine Kollegin – die zu dem Team gehörte, das für diese Veranstaltung abgestellt worden war – sich an Sarah wandte. »Sind Sie in Ordnung, Ms Lincoln?«, fragte die Beamtin sanft.
»Ich bin wohlauf, danke. Es ist nur … ich habe vorher noch nie jemanden sterben sehen.« Sie atmete tief durch. »Das war wohl kein Herzanfall, was? Ich habe es zuerst dafür gehalten, aber …«
»Die Spurensicherung ist auf dem Weg …«
»Officer, er hat ein riesiges Loch in der Brust.«
Die Polizeibeamtin sah weg. Sarah musterte die Leiche. Ein Teil von ihr wollte nichts lieber, als so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, nachdem sie jetzt ihre Pflicht für die Kameras getan hatte. Doch ein anderer Teil war neugierig. So etwas passierte hier einfach nicht. Gewalt war in Tower Hamlets – im East End – nichts Unbekanntes. Aber das hier war eine äußerst spezifische Art von Gewalt. Sie schien vollkommen willkürlich.
Die Polizei führte ihre Arbeit effizient durch. Der Bereich wurde abgesperrt, Zeugen wurden befragt. Sarah sah zu und achtete darauf, beim Zusehen gesehen zu werden. Hannah brachte ihr einen Kaffee und versuchte erneut, sie zum Gehen zu bewegen.
»Was, wenn Sie das eigentliche Ziel waren?«, fragte Hannah. »Sie wären nicht die erste Politikerin, die von einem Irren angegriffen wird …«
Sarah trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte furchtbar. Selbst Milch und Zucker konnten den Geschmack verbrannter Bohnen nicht überdecken. Sie verzog das Gesicht, trank aber weiter. »Wenn ich das Ziel gewesen wäre, hätte man mich getroffen. Oder Sie. Wir standen schließlich auf einer Bühne.«
»Trotzdem …«
»Trotzdem sind wir jetzt vollkommen sicher.« Sarah sah ihre Assistentin an. Nach einem Moment fragte sie: »Alles in Ordnung?«
Hannah sah sie verwundert an. »Ich denke schon. Nur ein bisschen mitgenommen.«
Sarah tätschelte ihren Arm. »Gutes Mädchen. Immer schön die Ohren steifhalten, wie die alten weißen Männer so gern sagen. Und jetzt kommen Sie. Ich will wissen, was hier vorgeht.« Sie ging zur größten Gruppe von Polizisten und Hannah folgte ihr zaghaft.
Sie nickten respektvoll, waren jedoch wenig entgegenkommend. Eine Labour-Politikerin durfte nicht zu vertraulich mit der Polizei sein, sonst würden die üblichen Verdächtigen ihrer eigenen Partei zu tuscheln anfangen. Recht und Gesetz war für die Tories.
Sie wandte sich an Hannah: »Besorgen Sie doch bitte für alle Kaffee. Oder Tee oder was auch immer sie wollen. Und beeilen Sie sich.«
Man musste Hannah zugutehalten, dass sie nicht herumdiskutierte, sondern einfach damit begann, die Bestellungen aufzunehmen. Sarah schaute wieder zu der Leiche, die inzwischen mit einem weißen Laken abgedeckt und von anonymen Kriminaltechnikern in ihren Schutzanzügen umringt war. Einer von ihnen vollzog mithilfe eines Laserpointers die Schussbahn nach. Andere suchten nach der Kugel, mit der … Sie hielt inne. »Wie war sein Name?«, fragte sie laut.
Die Polizistin, die vorhin mit ihr geredet hatte, drehte sich um. »Wir haben noch keine bestätigte Identität, aber wir denken, dass er hier ansässig war.« Sie sprach mit leiser Stimme.
»Er hat hier gewohnt?«
»Möglich.«
Sarah sah sie an. »Wie heißen Sie?« Sie hätte einfach ihr Optik fragen können, aber es ging doch nichts über eine menschliche Note.
»Jenks, Ma’am. PC Jenks.«
»Danke. Für vorhin, meine ich, PC Jenks. Dass Sie nach mir gesehen haben.«
Jenks wollte gerade etwas erwidern, als ein lautes Motorengeräusch ertönte. Sie drehten sich um und die Polizistin runzelte die Stirn. »Was wollen die denn hier?«, murmelte sie.
Sarah sah, wie ein klobiges Fahrzeug mit dem gelben Albion-Logo auf seiner Panzerung in ein nahe gelegenes Parkhaus fuhr.
Es war ein hässliches Ding, für Fahrten durch entmilitarisierte Zonen und urbane Schlachtfelder gedacht. Die Türen wurden geöffnet und zwei Männer stiegen aus. Einen Moment später spuckte die hintere Luke ein halbes Dutzend Albion-Sicherheitsmitarbeiter in ihren schwarzen Kampfanzügen aus. Einer von ihnen war Sarah bedauerlicherweise nur allzu vertraut. »Faulkner«, sagte sie.
Hannah zog an ihrem Arm. »Wir sollten gehen.«
»Nein«, erwiderte Sarah und sah zu, wie einige Polizisten sich den Neuankömmlingen näherten. »Auf keinen Fall. Das hier ist mein Revier und ich lasse mich nicht von einem Haufen brutaler Schläger vertreiben, die einen auf Cop machen.« Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Jenks und ihr Kollege bei ihren Worten einen Blick zuwarfen. Es war ein zustimmender Blick, dachte sie. Die Polizei war vom Plan der Regierung, ihre Zuständigkeiten an Albion abzugeben, noch nicht überzeugt. Genauso wenig wie Sarah. Außer jemand sorgte dafür, dass es sich für sie lohnte.
Normalerweise wäre ihr das egal. Aber Albion markierte in Tower Hamlets gern den starken Mann. Und das störte sie gewaltig.
Sie ging geradewegs auf die brodelnde Konfrontation zu und hoffte, sie zu erreichen, bevor sie überkochte. Die Beziehung zwischen den Polizisten und dem Albion-Personal war bestenfalls als feindselig zu bezeichnen. Sie hatte Dutzende Berichte von Auseinandersetzungen zwischen den zwei Gruppen gelesen, die meisten verbal, einige aber auch körperlich. Faulkner, Albions Vertreter in East London, testete regelmäßig die Grenzen seiner Autorität aus. Er war bereits zweimal zurechtgewiesen worden, doch das schien ihn und seinen Arbeitgeber nicht besonders zu stören. Vielleicht war es aber auch genau das, was ihm befohlen worden war.
Faulkner war Soldat – oder genauer, ehemaliger Soldat. Ihre Akte über ihn war unvollständig und größtenteils geschwärzt. Albion schützte die Privatsphäre seiner Angestellten. Selbst so kleiner Fische wie Faulkner. Er war klein und breit, mit kurzen grauen Haaren und einem Gesicht, das zu oft in eine Faust gerannt zu sein schien. Doch sein Blick war scharf und er wirkte wie ein Mann, der seine Umgebung unaufhörlich beobachtete.
»Albion kann gehen, wohin es will, Kumpel«, sagte er gerade, als sie ankam. Fast, aber nur fast, hätte er einem der Polizisten den Zeigefinger in die Brust gebohrt. »Tower Hamlets ist unser Revier. Wenn euch das nicht gefällt, beschwert euch doch bei euren Chefs.«
»Wessen Revier?«, fragte sie freundlich.
Faulkner drehte sich um und verzog das Gesicht.
»Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr Falkner«, sagte Sarah, bevor er sprechen konnte. Sie wusste, dass er ein Problem mit Minderheiten hatte. Er war nicht offen rassistisch, sondern eher gesellschaftsfähig herablassend. Offene Rassisten waren allerdings weniger anstrengend.
»Sergeant Faulkner«, korrigierte er sie.
»Mr Faulkner«, fuhr sie fort, als hätte er nichts gesagt. »Das hier ist doch eindeutig eine Angelegenheit für die Polizei.« Sie hatte sich zwischen ihn und die Polizisten gestellt. Es gab zweifellos ein starkes Bild ab und die Nachrichtendrohnen über ihnen nahmen alles auf.
»Wie ich diese Beamten bereits informiert habe, liegt Tower Hamlet im Zuständigkeitsbereich von Albion …«
»Im vorläufigen Zuständigkeitsbereich«, unterbrach sie ihn. »Mit Betonung auf vorläufig. Und Ihre sogenannte Zuständigkeit ist klar beschränkt. Und ich glaube, abgesperrte Tatorte gehören nicht dazu.«
»Vielleicht sind wir ja nur als besorgte Bürger hier.«
»Und ich bin mir sicher, dass sich die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen gern anhören wird, was Sie zu sagen haben. Doch bis dahin sollten Sie sich vielleicht … sagen wir, verpissen?«
Faulkner blinzelte. Er war es nicht gewöhnt, dass man so mit ihm redete. Sarah gestatte sich ein kleines Lächeln. Die meisten Männer hassten dieses Lächeln und Faulkner war da keine Ausnahme. Er antwortete nicht. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zu seinen Männern. Sie kehrten zu ihrem Fahrzeug zurück und Sarah sah zufrieden zu, während die Polizei vorrückte, um sicherzugehen, dass sie auch dort blieben. Dann sah sie zu Jenks, die sich ihren Kollegen angeschlossen hatte. »Machen Sie weiter, PC Jenks.«
Hannah gesellte sich zu ihr, als sie zu ihrer Limousine zurückging. Wenn Albion hier war, war es an der Zeit, zu gehen. Wenn die Polizei Fragen hatte, war sie in ihrem Büro zu erreichen. »Sind Sie sicher, dass das klug war?«, fragte Hannah leise.
»Nein. Aber ich finde ihn abstoßend und es macht mir Freude, ihn vor den Kopf zu stoßen.« Sie sah zu Hannah. »Ich will wissen, warum er hier ist. Albion ist keine Ermittlungsbehörde.«
»Vielleicht wollten sie es nur mal versuchen. Sie wissen doch, dass sie schon seit Monaten versuchen, sich in die Zuständigkeiten der Polizei einzumischen. Um zu zeigen, dass sie es besser können.« Hannah wirkte nervös. Doch vielleicht war das nicht weiter überraschend, angesichts der Art, wie sie von Männern wie Faulkner angesehen wurde.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Faulkner sah ihnen nach. Sie war versucht, ihm eine Kusshand zuzuwerfen, entschied sich jedoch dagegen. Es war ein schmaler Grat zwischen berechtigtem Widerstand und Provokation.
»Vielleicht«, sagte sie. »Aber ich will es trotzdem wissen.«