Читать книгу Insel meiner Sehnsucht - Josie Litton - Страница 4

London, April 1812

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Durch die dünnen Sohlen ihrer seidenen Schuhe spürte sie abwechselnd dicke Perserteppiche und blank polierten Boden, als sie ihr Schlafzimmer verlassen hatte und dem Korridor zur Treppe folgte. Das Geländer fühlte sich kühl und glatt unter ihrer Hand an. Im Haus roch es nach Zitronenöl, getrockneten Rosen und nach dem Lavendelwasser, das benutzt wurde, um die Bettwäsche zu beträufeln. Ganz schwach stieg auch der Geruch von Essig in ihre Nase, denn am Vortag waren alle Abflussrohre damit gereinigt worden, so wie jede Woche.

Graues Morgenlicht milderte alle Ecken und Kanten, dämpfte Farben, die im Sonnenschein intensiv leuchteten und im Schatten wieder erloschen, wenn die Dunkelheit hereinbrach und die Lampen angezündet wurden. Erst eine einzige Nacht hatte sie hier verbracht, eine wundervolle Nacht, seit sie in Southwark an Land gegangen war. Der erste Anblick Londons, vom breiten Fluss aus betrachtet, hatte sie an die Grenzen ihrer Fantasie geführt, die vor der Wirklichkeit verblasste. Auch die Fahrt durch belebte Straßen hatte sie tief beeindruckt, ebenso wie die verschiedenen Gerüche, obwohl nicht alle angenehm wirkten. Und der Lärm toste so gewaltig, dass erprobte Klageweiber vor lauter Neid verstummen würden. Nie hatte sie sich eine Stadt von diesen überwältigenden Dimensionen vorgestellt, trotz der Traumbilder von der heiß ersehnten Reise, die sie in Ilius jahrelang vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte.

Jetzt hatte sich ihr Wunsch endlich erfüllt. In ihrer maßlosen Freude war sie die ganze Nacht wach geblieben, während die anderen Hausbewohner geschlafen hatten. Schließlich ertrug sie es nicht länger und kleidete sich an – eine mühsame Prozedur, wenn sie es vor ihrer Ankunft auch oft genug geübt hatte. Auf Zehenspitzen war sie die Treppe hinabgeschlichen, und nun stand sie in der stillen Halle und lauschte.

Sie hörte die Geräusche der Stadt, allerdings nur ganz schwach, denn das Haus wurde von großen Rasenflächen, ausgedehnten Gärten und einer hohen Steinmauer umgeben. Aber über dem Zwitschern der Vögel, die bereits eifrig nach Würmern suchten, dem Flüstern einer Brise in den zarten Frühlingsblättern und dem Stimmengemurmel in der fernen Küche vernahm sie das Knarren von Wagenrädern und Hufschläge auf dem Kopfsteinpflaster. Hingerissen seufzte sie. All diese Laute bewiesen ihr, dass die Stadt tatsächlich existierte, dass sie sich hier befand. Jetzt musste sie nicht mehr träumen, sie würde der silbernen Straße folgen, die der Mond auf das Meer zeichnete – wie in so vielen Nächten an den Fenstern des heimischen Palastes, wenn sie eigentlich hätte schlafen sollen. Auch an diesem frühen Morgen müsste sie noch im Bett liegen. Doch das ließ ihre freudige Erregung nicht zu.

Lachend drehte sie sich im Kreis, und der rötlich gelbe Rock wehte um ihre Beine. Die Arme ausgebreitet, begrüßte sie den neuen Tag.

So sah Royce sie zum ersten Mal – durch das hohe Fenster nahe der Haustür, schimmernd hinter den Musselinvorhängen, die im Wind flatterten. Abrupt hielt er inne und starrte sie an. Kassandra, Prinzessin von Akora – dem starken Königreich hinter den Herkulessäulen –, die Tochter des königlichen Atreidenhauses, Trägerin eines Namens aus blutigen Legenden, tanzte fröhlich, als würde sie an einem wolkenlosen Frühlingstag um einen Maibaum herumspringen.

Natürlich erkannte er sie sofort. Selbst wenn er nicht von ihrer Ankunft gewusst hätte, würde er ihren Namen erraten. Ihre dichten, langen, ebenholzschwarzen Locken und die geröteten, von der Sonne geküssten Wangen strahlten eine exotische Aura aus. Zudem ähnelte sie seinem Schwager – kein Wunder, denn Alex war ihr Bruder. Dank ihres Vaters floss nicht nur akoranisches, sondern auch britisches Blut in den Adern der Geschwister. Aber obwohl Kassandra modisch gekleidet war, verkörperte sie das Mysterium, das ihn seit seiner Kindheit faszinierte.

Akora... Für lange Zeit hatten die Menschen das Inselreich für einen Mythos gehalten und trotzdem danach gesucht. Viele kehrten unverrichteter Dinge und bitter enttäuscht zurück. Und andere, vielleicht zum Erfolg verdammt, wurden nie mehr gesehen. Zahlreiche Geschichten beschrieben das kämpferische Königreich, wo wilde Krieger jeden Fremden töteten, der sich in die Nähe ihrer Küsten wagte. Auf Akora lebte das ruhmreiche Volk, das einst die Mauern des sagenhaften Troja gestürmt hatte, und es hütete unvorstellbaren Reichtum und große Weisheit. Eines Tages würde es aus dem Nebel der Legende auftauchen, um die Welt herauszufordern.

Nur wenig hatte man über Akora gewusst, nur dass es wirklich existierte. Von unüberwindlichen Klippen geschützt, von Kriegern bewacht, die in der Tat zu den tüchtigsten auf Erden zählten, war das Königreich unangetastet geblieben. Oder beinahe. In der Bibliothek von Hawkforte, Royces Familiensitz, befanden sich akoranische Kunstgegenstände. Angeblich hatte sie ein jüngerer Hawkforte-Sohn, der zur Zeit des ersten Kreuzzugs in das Inselreich geraten war, nach Hause geschickt. Man behauptete sogar, noch Jahre später habe eine Verbindung zwischen dem Königshaus der Atreiden und Royces Ahnen bestanden.

Im Vorjahr war der Kontakt erneuert worden, durch die Heirat Alexandros, des Prinzen von Akora, der auch den Titel des Marquess of Boswick trug, mit Lady Joanna Hawkforte, der Tochter einer alten englischen Familie und Royces Schwester. Diese Eheschließung hatte die Londoner Gesellschaft begeistert. Monatelang war über nichts anderes geredet worden. Wären die Begleiterscheinungen der Hochzeit bekannt geworden, hätten die Leute noch eifriger getratscht. Aber nur wenige ahnten die Wahrheit. Und nicht einmal sie konnten sich sicher sein.

Dass die näheren Umstände geheim blieben, fand Royce sehr angenehm. Er zog es vor, im Verborgenen zu agieren. Aber jetzt stand er im Licht der aufsteigenden Sonne, eine Gestalt männlicher Vollkommenheit. Als Kassandra ihn entdeckte, erstarrte sie mitten in der Bewegung und betrachtete ihn halb abgewandt über ihre Schulter.

Der Lord of Hawkforte. Obwohl sie ihn nur ein einziges Mal gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Hawkforte – und doch nicht Hawkforte... Denn der Mann, an den sie sich erinnerte, hatte während des vergangenen Jahres eine Gefangenschaft überlebt, in der die meisten anderen gestorben wären. Diese Tortur hatte deutliche Spuren hinterlassen.

Wie sah er jetzt aus? Wie die Sonne, entschied Kassandra – von magischer Anziehungskraft und doch so gefährlich, dass man nicht direkt in dieses Licht schauen durfte. Sein, dichtes goldblondes Haar, im Gegensatz zur Mode nicht mit Puder bestäubt, streifte den Kragen seines Morgenjacketts und umrahmte bezwingende, kraftvolle Züge. Er war so hoch gewachsen wie ihr überdurchschnittlich großer Bruder und hatte die gleichen breiten Schultern. In lässiger Haltung stand er da. Wahrscheinlich wusste er gar nichts von den perfekt ausgewogenen Proportionen seines Körpers. Umso deutlicher nahm er sie wahr, und der Bann des Augenblicks fesselte alle beide.

Eine unverheiratete junge Frau, allein in der Eingangshalle eines Hauses, das ihr nicht gehörte, sah sich zu unchristlicher Stunde mit der Ankunft eines Mannes konfrontiert, dem sie nicht offiziell vorgestellt worden war. Nach den Anstandsregeln müsste sie sich zurückziehen und einen Dienstboten zur Haustür schicken. Genau das erwartete Royce von ihr.

Stattdessen drehte sie sich vollends zu ihm um und musterte ihn durch die Musselinvorhänge. Ihr Rock wehte immer noch hin und her, von ihrem Übermut bewegt, ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ohne Zögern ging sie zur Tür und öffnete sie.

Normalerweise war Royce ein vernünftiger Mann. Aber nun schien ihn sein Verstand im Stich zu lassen. Im Hintergrund seines Bewusstseins speicherte er die Information, die Prinzessin von Akora würde nur selten tun, was man von ihr erwartete.

»Guten Morgen, Hoheit«, begrüßte er Kassandra und betrat die Halle. »Verzeihen Sie die Störung zu so früher Stunde. Ich bin Lord Royce Hawkforte, Joannas Bruder.«

Unbefangen reichte sie ihm ihre Hand, über die er sich höflich beugte. »Lassen wir die Etikette, Sir. Immerhin verbinden uns familiäre Bande. Bitte, nennen Sie mich Kassandra.«

Als er sich aufrichtete, las sie unverhohlene Verblüffung in seinen hellbraunen Augen.

»Ach, du meine Güte, benehme ich mich zu freimütig?«, fragte sie. »Hätte ich Ihnen nicht vorschlagen dürfen, mich mit meinem Vornamen anzureden? Es ist nur – in meiner Heimat halten wir nichts von solchen Förmlichkeiten.«

»Nein, das ist schon in Ordnung«, versicherte er. »Und nennen Sie mich Royce. Nachdem ich mehrere Monate in Ihrem Inselreich verbracht habe...« Diskreterweise erwähnte er die unerfreulichen Umstände jenes Aufenthalts nicht. »... sind mir gewisse Aspekte der akoranischen Lebensart vertraut. Auch ich finde Formalitäten langweilig, und es freut mich, dass sie jenseits der Herkulessäulen nicht zur Tradition gehören.«

Nur widerstrebend ließ er ihre schmalen Finger los und verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, als müsste er sich daran hindern, erneut nach ihr zu greifen.

In Kassandras Brust regte sich ein prickelndes, angenehmes Gefühl. Was es bedeutete, wusste sie natürlich. In der sinnlichen Atmosphäre von Akora konnte kein Mädchen aufwachsen, ohne sich mit solchen Dingen zu befassen. Trotzdem war sie verwirrt, denn sie verspürte diese Emotionen zum ersten Mal. Nun schaute sie den Engländer etwas vorsichtiger an.

Wenn sie nicht alles täuschte, sah sie in seinen Augen die gleiche Überraschung und Vorsicht. Schon jetzt, nach so kurzer Bekanntschaft, hatten sie etwas gemein.

»Was amüsiert Sie?«, fragte er, als sie lächelte.

Leicht verlegen lachte Kassandra – sie, die noch nie befangen gewesen war – und schüttelte den Kopf. »Nichts, ich freue mich einfach nur, weil ich hier bin.«

»Joanna und Alex waren so glücklich über die Nachricht, Sie hätten die Erlaubnis erhalten, uns zu besuchen,«

»Wohl kaum so glücklich wie ich selbst. Jahrelang habe ich davon geträumt, nach England zu fahren. Mein älterer Bruder Atreus ist ein guter und kluger Herrscher. Aber er neigt leider dazu, mich in übertriebenem Maße zu beschützen. Außerdem dürfen nur wenige Akoraner ihre Heimat verlassen.«

»Ja, das habe ich gehört. Darf ich fragen, was den Vanax Atreus bewogen hat, Ihnen diese Reise zu gestatten?«

»Er vertraut Alex und Joanna rückhaltlos. Und da die beiden ihr erstes Kind erwarten, versteht er, dass ich in dieser Zeit bei ihnen sein möchte. Außerdem ist die Situation auf Akora nicht mehr so bedrohlich wie vor einigen Monaten.«

»So sieht es aus«, stimmte Royce zu. Aber sein Blick bekundete gewisse Zweifel.

Besorgt hob sie die Brauen. »Sind Sie etwa so früh am Morgen hierher gekommen, um uns schlechte Neuigkeiten mitzuteilen? Hat Napoleon plötzlich eine Flotte zur englischen Küste geschickt? Wird sie uns angreifen? Nein, warten Sie – ich weiß es! Geht es um diesen Mann – wie heißt er doch gleich – Byron? Der das Gedicht geschrieben hat, von dem alle reden? Hat er nicht der Poesie abgeschworen und gelobt, nie wieder eine Zeile zu schreiben? Ist es das?«

Verwundert über diesen Wortschwall ohne Punkt und Komma schüttelte Royce den Kopf. Genauso schnell schien ihr Gehirn zu arbeiten, und sie forderte ihn heraus, mit ihr Schritt zu halten.

»Wieso wissen Sie Bescheid über Byron, Kassandra? Dieses Gedicht wurde vor ein paar Wochen veröffentlicht. Und Sie sind eben erst angekommen.«

»Nun, Joanna hat mir eine Abschrift geschickt, mit der Garderobe, die sie freundlicherweise für mich zusammengestellt hat. Auf meiner Reise habe ich das Gedicht gelesen.«

»Und was halten Sie davon?«

»Wird Byron nicht als der Dichter des Jahrhunderts bezeichnet?«

»Ja, das vermute ich. Jedenfalls ist die Londoner Gesellschaft ganz verrückt nach ihm. Aber Sie haben mir noch nicht verraten, wie Ihnen das Gedicht gefällt.«

»Es ist sehr – lebendig.«

»Tatsächlich?«

»Und romantisch. Die Leute sagen doch, es sei romantisch, nicht wahr? Ebenso wie der Verfasser.«

»Ach, die Leute behaupten alles Mögliche. Mich interessiert Ihre Meinung, Kassandra.«

«Also, ich glaube, der Mann ist ziemlich von sich eingenommen. Aber da ich mich auf die Begegnung mit der Londoner Gesellschaft freue, werde ich lieber verschweigen, welchen Eindruck ich von ihm gewonnen habe.«

»Sehr diplomatisch«, bemerkte Royce grinsend.

»Deuten Sie an, Sie würden Lord Byron ebenso wenig schätzen wie ich?«

»Sollte er seine Selbstgefälligkeit jemals ablegen, wird er vielleicht etwas Lesenswertes schreiben.«

»Darauf werde ich nicht atemlos warten. Wie auch immer, es beruhigt mich, dass ich mit meiner Meinung über Byron nicht allein dastehe... Da ich gerade davon rede – wie unhöflich von mir, Sie in der Halle stehen zu lassen. Die Dienstboten sind schon wach. Vorhin habe ich ihre Stimmen in der Küche gehört. Sicher können wir sie um eine Kanne Tee bitten.«

»Oh, eine Prinzessin, die das Personal um etwas bittet

»Soll ich die Leute ersuchen, auffordern, beauftragen?«, seufzte sie. »Offenbar muss ich noch viel lernen.«

»Nein«, erwiderte er leise und beobachte, wie die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster auf Kassandras volle Lippen fielen. »Mir wäre es lieber, Sie würden nichts dergleichen lernen.« Galant bot er ihr seinen Arm.

Sie saßen im kleinen Salon, dessen Fenster zum Garten hinausgingen. Als Alex eintrat, stand Royce auf. »Hoffentlich verzeihst du meinen Besuch zu so früher Stunde. Aber ich muss unbedingt mit dir sprechen.«

Leger in eine Hose und ein weißes Batisthemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln gekleidet, wirkte Alex ruhig und gelassen. Aber es gab nichts, was seinen scharfen Augen jemals entgehen würde. Das wusste Kassandra nur zu gut.

»Du bist natürlich immer willkommen, Royce«, beteuerte er. »Wie ich sehe, hast du meine Schwester bereits kennen gelernt.«

»Ja, wir haben uns selber vorgestellt«, erklärte sie ungeniert. »Zweifellos ein schwerwiegender Verstoß gegen das Protokoll... Aber wir haben es überlebt. Wie fühlt sich Joanna?«

»Großartig. Das behauptet sie zumindest. Und wie ich zugeben muss – so sieht sie auch aus. Sie ist bereits wach. Sicher würde sie sich über deine Gesellschaft freuen.«

Damit wurde sie etwas zu offenkundig weggeschickt. Aber sie nahm an, es wäre tatsächlich eine wichtige Angelegenheit, die Royce am frühen Morgen hierher geführt hatte. Und so gern sie das Gespräch auch mit anhören würde – sie war dazu erzogen worden, die Wünsche der Männer stets zu respektieren. Deshalb nickte sie, erhob sich und strich ihren Rock glatt. »Dann will ich mit ihr Tee trinken und von Frau zu Frau reden – selbstverständlich über keine ernsthaften oder bedeutsamen Themen, denn das würde unsere kleinen Gehirne zu sehr anstrengen.«

»Benimm dich, du freches Mädchen!« mahnte Alex und küsste ihre Wange.

Dann begleitete er sie zur Tür. Dort drehte sie sich zu Royce um, der noch immer nicht Platz genommen hatte und ihren Blick erwiderte. »Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Lord Hawkforte.«

Mit ihrer Bemühung um die britische Etikette entlockte sie ihm ein Lächeln. Aber noch bevor Alex die Tür hinter ihr schloss, wusste sie, dass sein Amüsement sofort verfliegen würde.

Irgendetwas stimmte nicht mit diesem England, in das sie soeben gereist war – etwas, das Alex und Royce ihr verheimlichen wollten. Das versuchten sie gewiss in der besten Absicht. Doch sie würden es nicht schaffen. Sie würde herausfinden, worum es ging – eher früher als später. Sonst würde sie das Ziel nicht erreichen, das sie verfolgte. Ihr eigenes Ziel. Deshalb war sie hierher gekommen. Und wenn sie auch noch so viele Hindernisse überwinden oder Wagnisse eingehen musste – es würde ihr gelingen, denn es war sehr wichtig.

Joanna saß im Bett, als Kassandra das Schlafzimmer betrat. Tatsächlich, die Schwägerin sah trotz der fortgeschrittenen Schwangerschaft wundervoll aus. Das widerspenstige honigblonde Haar wurde einigermaßen von Seidenbändern gezähmt, die zum spitzenbesetzten Nachthemd passten. Eifrig wühlte sie in einer silbernen, mit der Morgenpost gefüllten Schüssel.

»Oh Gott, Lady Melbourne! Schon jetzt!« Joanna hielt ein Kuvert hoch und starrte es argwöhnisch an. »Sobald du gestern von Bord gegangen bist, muss sie diesen Brief abgeschickt haben. Wahrscheinlich ist es eine Einladung, und du musst wohl oder übel hingehen.«

»Warum sollte mir das missfallen?«, fragte Kassandra und setzte sich neben das Bett.

»Weil man Lady Melbourne die ›Spinne‹ nennt. Angeblich hasst sie es, ihre Mitmenschen glücklich zu sehen, und es bereitet ihr ein teuflisches Vergnügen, ihnen die Freude zu verderben. Aber sie übt eine gewisse Macht aus. Man sollte ihr mit Vorsicht begegnen. Am besten besuchst du sie einfach und bringst es hinter dich.«

»Wäre es nicht ratsam, Spinnen auszuweichen?«

»Nicht in diesem Fall. Sie ist eine berühmte Gastgeberin, eine wahre Meisterin in der Kunst, die richtigen Leute miteinander bekannt zu machen. Und deshalb fühlen sie sich der Lady verpflichtet. In ihrer Jugend war sie die Geliebte mehrerer einflussreicher Männer, mit denen sie immer noch eng befreundet ist. Also darf man sie nicht ignorieren, sonst wird man streng bestraft. Erfreulicherweise ist sie hellauf begeistert, wann immer Alex oder Royce in ihrem Salon erscheinen. Und wenn sie dich für ein paar Stunden vereinnahmen kann, wird sie frohlocken.«

»Um Himmels willen...«

»Genau. Nun, wie geht es dir heute? Hast du gut geschlafen?«

»Überhaupt nicht«, gestand Kassandra, und ihre heitere Stimmung kehrte zurück. »Ich war viel zu aufgeregt, um meine innere Ruhe zu finden. Und soeben habe ich Royce kennen gelernt.«

»Royce? Ist er schon da?« Joanna wollte aus dem Bett steigen.

Aber Kassandra hielt sie zurück. »Spar dir die Mühe, dein Bruder und Alex wollen unter vier Augen miteinander reden. Deshalb wurde ich zu dir geschickt.«

»So eine Frechheit! Mach dir nichts draus, wir werden uns amüsieren und später herausfinden, was Royce hierher geführt hat. Würdest du bitte nach Mrs. Mulridge läuten? Ah, da ist sie schon.«

Die hoch gewachsene, schwarz gekleidete Frau, die mit einem Tablett hereingekommen war, musterte Kassandra über ihre spitze Nase hinweg. »Wie früh Sie auf den Beinen sind, Prinzessin...«

»Hoffentlich habe ich niemanden gestört?«

»Oh nein, es ist eine Tugend, zeitig aufzustehen. Hier, Mylady, ich habe Ihnen Tee gebracht – und eine zweite Tasse für die Prinzessin.«

Voller Dankbarkeit betrachtete Joanna das Tablett, das die Haushälterin auf den Nachttisch gestellt hatte. »Und ofenwarmes Gebäck! Gott segne Sie, Mrs. Mulridge!«

Statt zu antworten, schnaufte die Frau, aber dann zog sie sich sichtlich zufrieden zurück.

Joanna bestrich ein Brötchen mit Butter und reichte es Kassandra. »Sei so nett, und lass mich nicht allein essen. Neuerdings bin ich dauernd hungrig.«

»Gerade in diesen letzten Wochen ist das gut und richtig. Vor der Geburt muss sie Kräfte sammeln.«

Joanna, die gerade in ihr Brötchen beißen wollte, hielt inne und starrte ihre Schwägerin an. »Sie?«

»Oh...« Um Zeit zu gewinnen, verspeiste Kassandra die Hälfte ihres Brötchens. »Habe ich ›sie‹ gesagt?«

»Nein, bitte – ich will es wirklich nicht erfahren... Zumindest glaube ich das...«

Niemand hätte verstanden, was Joanna meinte. Aber Kassandra wusste es. »Was ich sehe, entspricht nicht immer der Wirklichkeit.«

»Natürlich nicht. Und ich würde auch niemals danach fragen. Es ist nur...« Unbehaglich zupfte Joanna am feinen, mit Spitzenborten verzierten Leinen ihres Bettbezugs. »Meine Mutter hat ihr erstes Baby bei der Niederkunft verloren. Danach gebar sie zwei gesunde Kinder.«

Kassandra dachte nach. »Hast du’s Alex erzählt?«

»Nein, und ich werde es ihm auch weiterhin verschweigen. Er macht sich ohnehin schon genug Sorgen.«

»Gestern hat mir Elena versichert, dass du kerngesund bist.«

Sobald Alex von der Schwangerschaft seiner Gemahlin erfahren hatte, war die hoch angesehene akoranische Heilkundige auf seinen Wunsch nach London gekommen. Kassandra hatte gehofft, die Reise gemeinsam mit ihr zu unternehmen. Aber das hatte Atreus seiner Schwester wegen einiger Unruhen in England verboten. Erst nachdem sich die Situation entspannt hatte, war sie an Bord eines Schiffs gegangen.

»Elena ist wundervoll«, schwärmte Joanna. »Zunächst fühlte ich mich schuldig, weil sie Akora meinetwegen verlassen musste. Doch sie erklärte, sie habe schon immer verreisen wollen und sei sehr glücklich in England – ebenso wie ihre Nichte Brianna, die sie begleitet hat. Elena meint, meine Schwangerschaft würde völlig normal verlaufen und wir müssten bei der Geburt keine Komplikationen befürchten.«

»Trotzdem sorgt sich Alex. Und du bist auch beunruhigt.«

Joanna berührte ihren Bauch. »Jetzt bewegt sich das Baby. Ich spüre seine...« Lächelnd schaute sie Kassandra an. »...oder ihre lebhafte Kraft. So kurz davor, die Welt kennen zu lernen – und dann im Nichts zu versinken...«

Besänftigend legte Kassandra eine Hand auf die Finger ihrer Schwägerin. Gewiss, sie hatte etwas gesehen, als Joanna und Alex mit der frohen Kunde ins Inselreich gekommen waren, sie würden ein Kind erwarten. Sie hatte den Tempel unterhalb des Palastes aufgesucht, um zu beten und zu meditieren. Dort hatten sich ihrer Vision die Wege einer möglichen Zukunft eröffnet, so wie ihrer Namensvetterin vor langer Zeit im unglückseligen, dem Untergang geweihten Troja. Niemals ahnte sie voraus, was sie erblicken würde, Gutes oder Schlechtes, Grauen oder Glück. Die Bilder, die sich zeigten, jagten ihr immer wieder Angst ein.

Aber an jenem Tag waren sie erfreulich gewesen. Allzu viel nahm sie nicht wahr – das Gelächter eines Kindes, ein flüchtiges Lächeln, Joannas Stimme, halb liebevoll, halb ärgerlich. »Melly!« rief sie. Sonst nichts, nur diese eine Szene und goldene Wärme, die Kassandras Herz erfüllte. Viel angenehmer als die meisten ihrer Visionen – und es genügte ihr vollauf... Gleich danach hatte sie ein Geburtsgeschenk ausgewählt.

Und jetzt, während Joannas Hand und ihre eigene auf dem gewölbten Bauch lagen, in unmittelbarer Nähe des Babys, schwanden die letzten Reste des Zweifels. Sie wusste es ganz einfach. Mochten die Sorgen der Schwägerin auch begreiflich sein, sie waren grundlos.

»Du bist nicht deine Mutter«, sagte sie leise. »Und die Tragödie ihres ersten Babys, das sie verloren hat, wird sich nicht wiederholen.«

Erleichtert schluckte Joanna ihre Tränen hinunter. »Danke, Kassandra – herzlichen Dank.« Mit bebenden Lippen lachte sie. »Oh Gott, erst jetzt erkenne ich, welch eine Last diese Furcht gewesen ist, bis du mich davon erlöst hast.«

Kassandras so genannte Gabe, die ihr viel zu oft wie ein Fluch erschien, schenkte ihr nur selten solche Momente ungetrübten Glücks. Lächelnd umarmte sie ihre Seelenverwandte. Eine Zeit lang plauderten die beiden Frauen noch, tranken Tee und aßen Brötchen, dann stand Joanna auf, um sich anzuziehen.

»Nun haben wir die Männer lange genug allein gelassen«, entschied sie.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinab und betraten den kleinen Salon, wo sie weder Alex noch Royce antrafen.

Die beiden waren in den Stall gegangen. Das erfuhren die Frauen von einem Lakaien, und sie folgten ihnen.

Royce, Alex und ein kleiner Mann mit zottigem Haar und buschigen, eng zusammengezogenen schwarzen Brauen führten gerade ein angeregtes Gespräch.

»Guten Morgen, Bolkum«, grüßte Joanna. »Was für ein schöner Tag!« Lächelnd wandte sie sich zu ihrem Ehemann und ihrem Bruder. »Wollt ihr ausreiten?«

Bolkum räusperte sich und schaute weg.

»Jetzt nicht«, erwiderte Alex und warf seinem Schwager einen kurzen Blick zu.

»Wir haben uns nur mit Bolkum unterhalten«, erklärte Royce.

»Worüber?«

Diese Frage stellte Joanna in so heiterer Unschuld, dass ihr die zwei Männer – zumindest nach Kassandras Meinung – die Antwort nicht vorenthalten durften. Trotzdem versuchten sie es.

»Eigentlich über nichts Besonderes«, erwiderte Alex.

»Über das Wetter«, fügte Royce hinzu. »Heute ist es wärmer, als wir erwartet haben.«

Lässig zuckte Joanna die Achseln. »Dann frage ich eben Mrs. Mulridge, worum es wirklich geht. Das wird sie sicher wissen.«

Bolkum strich über seinen Bart. »Am besten kümmere ich mich um – eh – was wir soeben besprochen haben.« Er nickte den Frauen ehrerbietig zu und verschwand im Hintergrund des Stalls.

Immer noch lächelnd, wartete Joanna, und Kassandra begegnete Royces Blick. Einige Sekunden verstrichen. Irgendwo in der Ferne rief ein Stallbursche einem anderen etwas zu.

»Um Gottes willen«, murmelte Alex. »Wahrscheinlich ist jeder Versuch sinnlos, dir irgendwas zu verheimlichen, selbst wenn es zu deinem Wohl geschehen würde.«

»Völlig sinnlos«, bestätigte Joanna.

»Wie du weißt, habe ich dich gebeten, London zu verlassen. Du könntest unseren Landsitz in Boswick aufsuchen, der dir laut eigener Aussage gefällt, oder Hawkforte, falls du das vorziehst. Wo unser Kind geboren wird, ist mir egal, solange du in Sicherheit bist.«

»Und du weißt, dass ich dazu bereit wäre, wenn du mich begleitest.«

»Was mir wegen gewisser Umstände unmöglich ist...« Alex schaute seine Schwester an. »Jetzt, wo Kassandra hier ist, habe ich gehofft, du wärst eher geneigt, dich wie ein vernünftiger Mensch zu verhalten...« Er machte eine Pause und wappnete sich mit Geduld, »...und das tun, was am besten für dich wäre.«

Kassandra presste die Lippen zusammen. Nachdem sie endlich in London angekommen war, widerstrebte es ihr, schon wieder abzureisen. Andererseits verstand sie die Sorge ihres Bruders. So großartig sie die Stadt auch fand – das Gedränge, der Lärm und der Schmutz waren ziemlich unangenehm. Natürlich wünschte Alex, seine Frau würde das Baby in einer ruhigeren Umgebung zur Welt bringen. Davon abgesehen, war sein Anblick in der Rolle eines gepeinigten Ehemanns, dem seine Frau den Gehorsam verweigerte, so amüsant, dass Kassandra dieses Vergnügen einem beschaulichen Aufenthalt auf dem Land vorzog. Und so innig sie ihn auch liebte, so fraglos sie ihn für eine Zierde seines Geschlechts hielt – sie kannte seine typisch männliche Arroganz, die ihn zu der Überzeugung verleitet hatte, die Ehe wäre viel einfacher, als es ihm nach der Hochzeit bewusst geworden war.

Besänftigend legte Joanna eine Hand auf seinen Arm. »Wo immer du bist, wird unserem Kind und mir nichts zustoßen. Willst du mir jetzt erzählen, was geschehen ist?«

Alex schaute Royce an, der widerstrebend berichtete: »In Yorkshire gibt es Schwierigkeiten. Offenbar ist General Ludds Heer zurückgekehrt. Die Leute zertrümmern wieder einmal maschinell betriebene Webstühle und drohen, jeden zu töten, der sich ihnen in den Weg stellt.«

Mühsam verbarg Kassandra ihr Entsetzen. Im letzten Herbst hatten die Arbeiter, die sich Ludditen nannten, Atreus veranlasst, ihre Reise nach England zu verbieten. Und er hatte sich erst vor kurzem anders besonnen, als die Gefahr scheinbar gebannt gewesen war. Das würde er jetzt bereuen und ihr vielleicht die Rückkehr nach Akora befehlen.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »In Wirklichkeit gibt es doch gar keinen General Ludd, oder?«

»Offenbar nicht«, entgegnete Royce. »Aber die Arbeiter, die wegen der neuen industriellen Maschinen einschneidende Lohnkürzungen befürchten, verschanzen hinter dem Mythos des Generals. Sie leisten Eide, die sie zur Geheimhaltung verpflichten, bei ihren Attacken tragen sie Masken, und sie werden von zahlreichen Sympathisanten unterstützt.«

»Mit diesen Aktionen setzen sie ihr Leben aufs Spiel«, warf Joanna ein. »Im Parlament wurde doch dieses schreckliche Gesetz verabschiedet – jeder, der die Maschinen demoliert, wird mit dem Tod bestraft.«

»Ein Todesurteil? Für die Zerstörung einer Maschine?« Kassandra traute ihren Ohren nicht. In den letzten Jahren hatte sie sich gründlich über England informiert und jedes einschlägige Buch verschlungen. Begeistert hatte sie Alex Berichten gelauscht, wenn er wieder einmal aus der Heimat seines Vaters nach Akora zurückgekehrt war, jeden Gegenstand untersucht, der aus diesem Land stammte, und den Tag herbeigesehnt, an dem sie endlich dort eintreffen würde. Sie glaubte, in Großbritannien müssten – um den Titel ihres Lieblingsromans zu zitieren – »Verstand und Gefühl« herrschen.

»Zweifellos war das eine übertriebene Maßnahme«, betonte Royce. »Und man muss Byron zugute halten, dass er im Oberhaus dagegen protestiert hat. Dabei drückte er sich sehr wortgewandt aus. So brillant konnte ich meinen Widerspruch nicht formulieren. Aber ich habe es versucht – leider ohne Erfolg. Das Gesetz wurde erlassen. Und jetzt scheint es seinen Zweck zu verfehlen. Statt sich einschüchtern zu lassen, kämpfen die Ludditen entschlossener denn je für ihre Sache.«

»Und vermutlich sind sie noch gefährlicher geworden.« Alex wandte sich wieder zu seiner Frau. »Willst du wirklich hier bleiben?«

Zärtlich drückte sie seinen Arm. »Bei dir, Mylord.«

Kassandra spürte, dass er sich hin- und hergerissen fühlte. Einerseits sorgte er sich um seine Frau, andererseits beglückte ihn ihre Liebe, die sie daran hinderte, von seiner Seite zu weichen. Und er wusste, wann er nachgeben musste – wenn auch widerstrebend. »Das habe ich geahnt. Deshalb wollen Royce und ich einige Wachtposten aus Boswick und Hawkforte nach London beordern. Hinter den Stallungen werden Zelte für die Männer aufgeschlagen. Bolkum kümmert sich darum. Tag und Nacht werden sie um das Haus patrouillieren. Und du wirst es nicht ohne Eskorte verlassen – was auch für Kassandra gilt. Ist das klar?«

»Erwartest du wirklich, die Ludditen werden uns bedrohen?«, fragte Joanna.

»Müsste ich damit rechnen, würde die Entscheidung, ob du abreist oder hier bleibst, nicht bei dir liegen. Aber wenn ich auch annehme, die Ludditen sind anderswo beschäftigt, möchte ich auf alles vorbereitet sein. Versprecht ihr mir, niemals allein auszugehen?«

Das versicherten ihm beide Frauen. Wahrscheinlich hätte Kassandra jede Bedingung erfüllt, um London nicht verlassen zu müssen. Welch eine Ironie... Auf Akora, wo angeblich die Krieger herrschten, während die Frauen nur dienten, durfte sie sich frei bewegen. Und hier, im vermeintlich fortschrittlichen England, konnte sie sich nur im Schutz bewaffneter Männer vor die Tür wagen. Offensichtlich war der Fortschritt ein zweischneidiges Schwert.

»Da wir gerade vom Ausgehen reden...«, begann Joanna und zog ein Kuvert aus der Tasche ihres Rocks. »Lady Melbourne hat keine Zeit verschwendet.«

Stöhnend verdrehten ihr Mann und Royce die Augen.

»Sicher verstehst du, dass ich in dieser schwierigen Situation beschäftigt bin«, erwiderte Alex.

»Sehr beschäftigt«, fügte Royce hinzu. »Genauso wie ich. Allein schon der Gedanke, eine Party zu besuchen, wo es so viel zu tun gibt...«

»Trotzdem müsst ihr hingehen«, fiel Joanna ihm ins Wort. »Wie ihr zweifellos wisst, werden die wichtigsten Dinge stets in den Salons diskutiert.«

Obwohl Alex die Stirn runzelte, widersprach er nicht. »In deinem Zustand solltest du Lady Melbournes Gesellschaft meiden. Wer weiß, was sie unserem ungeborenen Kind antun würde...«

»Auf keinen Fall schicke ich Kassandra allein in die Höhle der Löwin.« Hoffnungsvoll fuhr Joanna fort: »Aber vielleicht findet die Party heute Abend oder morgen statt. Dann hätten wir einen guten Grund, die Einladung abzulehnen.«

»Wieso?«, fragte Kassandra.

»Das ist ein bisschen kompliziert. Am besten reden wir beim Frühstück darüber.«

Obwohl die Männer behauptet hatten, sie seien vollauf beschäftigt, stimmten sie bereitwillig zu. Um das schöne Wetter zu genießen, setzten sie sich auf die steinerne Terrasse, an die der Garten grenzte. Mrs. Mulridge servierte ihnen Tee und Gebäck, Muffins mit Zimt, knusprigen Speck, pochierte Eier in kleinen blauweißen Porzellanschüsseln und Erdbeeren aus dem Treibhaus. Während sie aßen und sich unterhielten, stieg die Sonne höher empor, und die Luft erwärmte sich.

»Weißt du, dass es in England zwei politische Parteien gibt?«, fragte Alex seine Schwester.

»Natürlich – die liberalen Whigs und die konservativen Torys. Die Whigs streben Friedensverhandlungen mit Napoleon an. Und die Torys wollen den Krieg fortsetzen und England zu einem triumphalen Sieg verhelfen.«

Royce, der seinen Blick nicht von ihr losreißen konnte, hob erstaunt die Brauen. »Wie gut Sie über die britische Politik informiert sind, Kassandra! Das hätte ich nicht gedacht ...« Zu spät erinnerte er sich an seinen Entschluss, niemals anzunehmen, sie würde sich so verhalten, wie man es erwartete.

In ihren dunkelbraunen, von dichten Wimpern umrahmten Augen las er grenzenlose weibliche Geduld mit der englischen Ignoranz. Was für ungewöhnliche Augen – die Fenster ihrer Seele, die immer deutlicher ihre Belustigung zeigten, während er sie wie ein Grünschnabel anstarrte...

Alex räusperte sich. »Darüber musst du dich nicht wundern, Royce. Meine Schwester liest sehr gern. Jedes Mal, wenn ich von England nach Akora zurückkehrte, brachte ich ihr Bücher und Zeitschriften mit, die politische Artikel enthielten. Am Anfang dieses Jahres erlebten die Whigs eine bittere Enttäuschung, als der Prinzregent, den sie stets für ihren Freund hielten, die Torys unterstützte, so dass sie ihre Macht behaupten konnten.«

»Deshalb ist die Gesellschaft jetzt in zwei Lager gespalten«, erklärte Joanna. »Die Torys drängen sich um den Prinzregenten. Und seine einstigen Whig-Freunde meiden ihn wie die Pest. Das ist unerträglich, so darf es nicht weitergehen. Zu viele Leute versäumen zu viele Feste. Dazu wollen wir nicht gehören. Und deshalb werden wir morgen Prinnys Dinnerparty besuchen.«

Alex hob die Schultern. »Also gut, wenn es unbedingt sein muss...«

»Auf keinen Fall dürfen Sie sich in Whig-Kreisen blicken lassen, Kassandra«, mahnte Royce, »schon gar nicht in der Nähe der formidablen Lady Melbourne, bevor Sie dem Prinzregenten Ihre Aufwartung gemacht haben.«

»Natürlich nicht, Seine Hoheit hat Vorrang. Welcher Partei gehören Sie an, Royce?«

»Nun, ich folge dem unbequemen Mittelweg. Gemeinsam mit den Whigs trete ich für Reformen ein, aber ich stehe ebenso wie die Torys auf dem Standpunkt, dass nur ein endgültiger Sieg über Napoleon akzeptabel ist.« Dann betrachtete er Lady Melbournes Brief, der immer noch ungeöffnet auf dem Tisch lag. »Sehen wir mal nach, was die Spinne will.«

Alex zog eine Grimasse. Aber er schnitt den Umschlag mit seinem Messer auf und zog ein Blatt Papier heraus. »Am nächsten Dienstag sind wir im Melbourne House zu einer Soiree eingeladen«, verkündete er und warf seinem Schwager einen spöttischen Blick zu. »Dieses Fest findet zu Lord Byrons Ehren statt.«

»Oh Gott«, murmelte Joanna und versenkte einen Löffel in ihrem pochierten Ei.

Kurz danach verabschiedeten sich die Männer.

Während Kassandra überlegte, ob sie versuchen sollte, ein bisschen zu schlafen, ertönte der Messingklopfer an der Haustür. Erschrocken zuckte Joanna zusammen. »Oh – ich hatte ganz vergessen, wie spät es schon ist.«

»Erwartest du jemanden?«

»Leider – das heißt, eigentlich bedauere ich es nicht. Es ist ohnehin unvermeidlich...«

Verwirrt starrte Kassandra ihre nervöse Schwägerin an.

»Komm mit mir«, bat Joanna und stand auf, »begrüßen wir Madame Duprès.«

Insel meiner Sehnsucht

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