Читать книгу Insel meiner Sehnsucht - Josie Litton - Страница 5
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ОглавлениеEin Martyrium, eine grausame Folter, reine Höllenqualen, dachte Kassandra. Stundenlang stillstehen zu müssen, während eifrige Finger an ihr zupften und sie herumschubsten und – noch schlimmer – mit Nadeln stachen... Zu allem Überfluss musste sie auch noch dieses Geschwätz ertragen und den neugierigen Fragen einer Frau ausweichen, die anscheinend niemals innehielt, um Atem zu schöpfen. Und dann wurde ihr mitgeteilt, dies sei erst der Anfang.
Seufzend sank Kassandra in ihre Badewanne. Joanna, die ihr während der Anprobe Gesellschaft geleistet hatte, setzte sich auf das Bett und fragte: »Stimmt was nicht?«
»Alles in Ordnung, ich bin nur ein bisschen müde.«
»Ja, Madame Duprès kann ziemlich anstrengend sein. Aber sie ist die beste Schneiderin in ganz England. Wer weiß, wie viele vornehme Kundinnen sie enttäuscht hat, um der Prinzessin von Akora zu dienen.«
»Ich habe mir überlegt, ob es nicht passender wäre, wenn ich akoranische Kleider anziehen würde. Viel schlichtere, bequemere akoranische Roben...«
»Und ich dachte, du hättest das ewige jungfräuliche Weiß satt. Zumindest hier kannst du andere Farben tragen.«
»So schrecklich finde ich meine weißen Gewänder gar nicht.«
Joanna warf ihrer Schwägerin ein Handtuch zu. »Steig aus dem Wasser, bevor du einschläfst oder deine Haut verschrumpelt. Beruhige dich, das Schlimmste hast du hinter dir. Nur noch ein paar Anproben...«
»Ein paar? Wie viele sind das?«
»Hm...«
»Was soll das bedeuten?«
»Ein paar. Die Tageskleider sind einfacher geschnitten. Aber auf die Ballkleider muss Madame Duprès etwas mehr Zeit und Sorgfalt verwenden.«
»Und wenn ich auf Bälle verzichte?« Kassandra trocknete sich ab und schlüpfte in ein ärmelloses Hemd, das bis zu ihren Schienbeinen reichte. Wenigstens das war bequem. »Ich könnte behaupten, auf Akora sei es üblich, früh ins Bett zu gehen. Das würde Mrs. Mulridge sicher gutheißen.«
»Royce ist ein fabelhafter Tänzer.«
Inzwischen hatte Kassandra vor dem Toilettentisch Platz genommen. Mit schmalen Augen starrte sie in den Spiegel und musterte ihre Schwägerin. Joanna schaute sanft und unschuldig drein, abgesehen von den funkelnden Augen.
»Tanzt er auch Walzer?«, platzte Kassandra heraus. »Wie ich gestehen muss – den würde ich für mein Leben gern lernen.«
Joanna presste eine Hand auf ihr Herz und gab vor, in Ohnmacht zu fallen. »Oh, jetzt hast du mich ganz furchtbar schockiert! Weißt du nicht, dass man den Walzer für unschicklich hält? Im Almack’s ist er streng verboten.«
»Werde ich das Almack’s besuchen?«
»Nur wenn du’s willst. Sicher würden dir die Schirmherrinnen Zutritt gewähren. Aber ich glaube, es wäre sinnlos, wenn du hingehen würdest.«
»Warum?« Kassandra ergriff eine silberne Bürste und begann, ihr Haar zu entwirren.
»Weil das Almack’s ein Heiratsmarkt ist. Deshalb wirst du dich wohl kaum dafür interessieren und...« Der Satz blieb unvollendet.
»Natürlich nicht«, bestätigte Kassandra in entschiedenem Ton.
»Wie ich mich entsinne, hast du letztes Jahr auf Akora über die Ehe gesprochen. Was sagtest du doch gleich? Ach ja, du würdest dich eingeengt fühlen, wenn du mit einem akoranischen Krieger verheiratet wärst. Der würde dir niemals erlauben, Reisen zu unternehmen, was du dir so inbrünstig wünschst. Selbstverständlich würde das ein englischer Ehemann anders sehen.«
»Nicht unbedingt. Neuerdings frage ich mich, ob es nicht klüger wäre, ledig zu bleiben.«
»Pah!« Joanna sprang vom Bett auf. Trotz ihrer Leibesfülle war sie erstaunlich beweglich.
Sie nahm ihrer Schwägerin die Bürste aus der Hand, strich damit durch das lange dunkle Haar, und die rhythmische Bewegung wirkte sehr beruhigend. Schon nach wenigen Minuten fielen Kassandras Augen zu.
»Ins Bett mit dir!«, befahl Joanna. »Heute Nacht musst du dich ausschlafen, und morgen besprechen wir alles Weitere. Bevor du auch nur einen Fuß ins Carlton House oder sonst wohin setzt, werde ich dich über alle wichtigen Leute informieren, damit du über ihre Intrigen und Ambitionen, ihre Geheimnisse und Skandale Bescheid weißt. Kurz gesagt, du wirst die Londoner Gesellschaftsszene nicht als Unschuld vom Lande betreten.«
»Geheimnisse«, murmelte Kassandra. »Die hat jeder.«
»Vermutlich.« Joanna führte sie zum Bett, hob das kühle Laken hoch und half ihr, sich hinzulegen.
»Sogar ich...« Kassandra wusste nicht genau, ob sie die Worte ausgesprochen hatte, denn sie gewann den Eindruck, sie hätte mit Royce geredet, der ernsthaft und verständnisvoll nickte. Er griff nach ihrer Hand, so wie an diesem Morgen in der Halle, und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Berghang oberhalb eines schimmernden Gewässers. In der Nähe ragten stolze Türme zur Sonne empor.
»Hawkforte«, sagte eine Stimme in ihrem Traum, und der Name schien sie zu umarmen wie ein uralter Willkommensgruß.
Immer noch unter dem Einfluss dieser Vision erwachte sie am nächsten Morgen, als sie Porzellan klirren hörte. Mrs. Mulridge stellte ein Tablett auf den Nachttisch und öffnete die Fenster etwas weiter. »Guten Morgen, Prinzessin. So ein schönes Wetter!«
Abrupt kehrte Kassandra in die Realität zurück. »Ist Madame Duprès schon da?«
»Nein, aber sie wird bald eintreffen.« Die Haushälterin strich über ihr schwarzes Bombasinkleid, legte den Kopf schief und musterte das Teetablett. »Lassen Sie die Brötchen nicht kalt werden.«
Diesen Rat befolgte Kassandra, denn sie fürchtete, es würde sehr, sehr lange dauern, bis sie wieder etwas zu essen bekam.
Nach einem weiteren ermüdenden Tag in den Klauen der Schneiderin sah sie sich in einem verschwommenen Fantasiebild nach Akora zurückschwimmen, als Madame Duprès plötzlich rief: »So, wir sind fertig, und es ist geradezu perfekt gelungen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf!« Triumphierend rieb sie sich die Hände – vielleicht zählte sie bereits das Geld, das sie verdient hatte.
Von zaghafter Hoffnung erfüllt, fragte Kassandra: »Wirklich? Alle Kleider sind fertig?«
»Belieben Hoheit zu scherzen? Nur das Kleid für die Soiree, die heute Abend im Carlton House stattfinden wird, ist vollendet. Natürlich müssen wir noch viele andere anfertigen. Meine kleinen Gehilfinnen nähen sich die Finger wund, aber...« Mochte sie tatsächlich aus Frankreich stammen oder nicht – jedenfalls brachte sie ein typisch gallisches Achselzucken zustande. »Das ist ja auch ihre Pflicht! Nun? Ist diese Robe nicht himmlisch?«
Kassandra blickte in den großen Spiegel, den eine Assistentin herangerollt hatte. Wenn Madame Duprès auch eine klatschsüchtige Nervensäge war – sie besaß die Seele einer Künstlerin.
Aus bernsteinfarbener Seide, mit einem Überrock aus goldener Spitze, passte das Kleid ausgezeichnet zu Kassandras dunklen Haaren und Augen. Die hohe Taille und die kleinen Puffärmel wirkten täuschend schlicht und unterstrichen die eleganten, fließenden Linien, und eine kleine Schleppe, die sich mühelos handhaben ließ, verlieh der Robe eine majestätische Aura. Gewiss, sie war schwerer als die gewohnten akoranischen Gewänder, und Kassandra fühlte sich darin ein wenig eingeengt. Aber sie glaubte, nun wäre sie gegen alles gewappnet, was sie im Carlton House erwarten mochte. »Ja – himmlisch«, stimmte sie zu.
Madame Duprès nickte selbstgefällig. Offenbar zählte Bescheidenheit nicht zu ihren starken Seiten. Mit einer brüsken Geste winkte sie ihre Gehilfinnen zu sich. »Nun lassen wir Sie allein, Prinzessin, damit Sie sich auf den Abend vorbereiten können. Aber morgen komme ich wieder, und wir befassen uns mit den nächsten Anproben.«
Bestürzt erbleichte Kassandra. Doch sie entstammte einer uralten, charakterfesten Familie. Sogar das würde sie überleben.
In der Zwischenzeit hatte sich Joanna hingelegt und ausgeruht. Darauf hatte Alex bestanden und betont, sonst würde er ihr nicht erlauben, all diesem Abend das Carlton House zu besuchen. Nun gesellte sie sich zu Kassandra. Getreu ihrem Versprechen beschrieb sie die Fehden, Schwächen und Marotten der Londoner Gesellschaft. Besonders ausführlich ging sie auf die Arrangements ein, die diskrete Feigenblätter über die Familiennamen der Kinder von fragwürdiger Herkunft legten.
»In der Blüte ihrer Jugend gebar Lady Melbourne, die Spinne, sechs Kinder«, erklärte Joanna. »Zumindest zwei wurden, falls man den Gerüchten glauben darf, nicht von Lord Melbourne gezeugt. Und sie ist keineswegs die einzige Londoner Dame, die sich auf außereheliche Beziehungen eingelassen hat.«
»Obwohl ich mich nicht für naiv halte, muss ich gestehen, dass ich schockiert bin. Schläft denn niemand in seinem eigenen Bett?«
»Allem Anschein nach kommt das nur selten vor. Eine moralische Gesinnung, so wie wir beide sie verstehen, existiert in dieser Stadt nicht. Und die einzige Regel lautet ›Diskretion‹ – gilt aber nur für die Frauen und wird eher großzügig ausgelegt. Die Männer tun, was ihnen beliebt.«
»Und das gefällt den Leuten? Sind sie glücklich?«
»Nein, soweit ich es feststellen konnte. Und ich glaube, bis zu einem gewissen Grad erkennen sie das auch. Erinnerst du dich, was die alten Römer zu sagen pflegten? ›Nutze den Tag‹... ›Was morgen sein wird, frage nicht.‹ An dieses Motto hält sich die Londoner Crème de la Crème.«
»Dadurch sind diese vornehmen Herrschaften ziemlich gefährlich, nicht wahr?«
»Ja, für andere und sich selbst. Aber eins muss man ihnen zugestehen: Sie heucheln nicht, und sie haben ein bewundernswertes Stilgefühl, das alles einbezieht – Mode, Musik, Bücher, auch Gebäude, sogar ganze Straßenzüge. Sie gestalten ihre Welt nach ihrem speziellen Geschmack.«
»Sie? Zählst du dich nicht dazu?«
»Nein, ebenso wenig wie Alex und Royce. Wir bewegen uns in diesen Kreisen, weil das die sicherste Methode ist, um gewisse Ereignisse zu beeinflussen. Doch wir gehören nicht dazu. Ihre Wertmaßstäbe und Sorgen sind nicht unsere. Als Prinz von Akora stand Alex immer etwas abseits, und das trifft auch auf meinen Bruder zu. Wie alle seine Hawkforte-Vorfahren dient er England, oder vielleicht sollte ich besser sagen – er dient einem idealen England, das er verwirklicht sehen möchte.«
Da Kassandra Bescheid wusste über Visionen und den Dienst, den sie einem abverlangten, nickte sie.
Nun gingen sie in den großen Salon, wo sie von Alex erwartet wurden. An den Anblick ihres Bruders in britischer Kleidung musste sich Kassandra erst noch gewöhnen. Auf Akora war er eindeutig ein Prinz aus dem Atreiden-Haus, nichts anderes – hier änderte er seine Identität und trug die von seinem britischen Vater ererbten Titel des Lord Alex Haverston Darcourt, des Marquess of Boswick, des Earl of Letham und des Baron Dedham. Diese Rolle spielte er perfekt, in einem maßgeschneiderten Frack und einer passenden Kniehose, mit weißem Hemd und weißer Krawatte. Obwohl er erklärte, das sei keine höfische Aufmachung, da der Abend eher informell, verlaufen würde, fand ihn seine Schwester sehr imposant – zumindest, bis Royce eintraf und es ihr vor Überraschung fast die Sprache verschlug.
Er war so ähnlich wie ihr Bruder gekleidet, trug jedoch einen jagdgrünen Frack, während Alex einen dunkelgrauen vorzog. Das goldblonde Haar war glatt zurückgekämmt. Als er Kassandra entdeckte, leuchteten seine Augen auf, und sie las unverkennbare Bewunderung in seinem Blick.
»Beide Damen sehen hinreißend aus«, bemerkte er, ohne sich von ihr abzuwenden.
»Hier bin ich, Royce!«, sagte Joanna und winkte ihm.
Nur sekundenlang errötete er, bevor sein angeborenes Selbstvertrauen zurückkehrte. »Das ist unübersehbar«, erwiderte er grinsend. »Willst du dir das Gedränge heute Abend wirklich antun?«
»Oh, ein gewisser Jemand wird schrecklich gut auf mich aufpassen«, seufzte sie und wies mit dem Kinn in die Richtung ihres Ehemanns. »Außerdem müssen wir dank meines Zustands nicht bis zum Morgengrauen im Carlton House ausharren.«
Kurz danach ließ Alex die Kutsche vorfahren. Von vier Pferden gezogen – je zwei passten farblich zusammen –, bot der komfortable Landauer beiden Paaren reichlich Platz und schützte sie vor der kühlen Nachtluft. Berittene Begleiter, vor und hinter dem Wagen postiert, bekundeten die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen.
Zudem hatten sich Alex und Royce mit Spazierstöcken gerüstet. Kassandra nahm an, darin würden sich Schwerter verbergen. Fasziniert starrte sie die glänzend polierten Holzstöcke an.
Als Royce ihr Interesse bemerkte, lachte er und hielt die Spitze seines Stocks hoch, um ihr zu zeigen, dass ihre Vermutung richtig war.
»Das wusste ich ja!«, rief sie. »Aber warum tragt ihr beide nicht einfach Schwerter?«
»Weil sie aus der Mode gekommen sind«, antwortete Royce bedauernd. »Heutzutage sieht man nicht einmal mehr Galaschwerter. Also müssen wir uns mit diesen Stöcken begnügen.«
Der Landauer fuhr zur Pall Mall. Dort schloss er sich der langen Wagenreihe vor der Residenz des Prinzregenten an. Zuerst stiegen Alex und Royce aus, dann halfen sie den Damen aus der Kutsche.
In ungläubigem Staunen betrachtete Kassandra den kunstvollen korinthischen Säulenvorbau. »Schwärmt der Prinzregent für die alten Griechen? Versucht er, Athen neu entstehen zu lassen?«
Sobald sie die Halle erreichten, wandten sich mehrere Köpfe in ihre Richtung, und einige Gäste begannen zu tuscheln. Das Gemurmel erinnerte Kassandra an das Summen von Insekten und an Joannas Informationen über die »Spinne«. Wie vielen bösartigen Kreaturen würde sie in diesem Haus begegnen? Hoffentlich wurde sie ihnen nicht zum Fraß vorgeworfen.
Um diesen unangenehmen Gedanken zu verdrängen, schaute sie sich in der opulenten Halle um. An allen Seiten des achteckigen Raums ragten Säulen aus rot geädertem Marmor empor. Die üppig dekorierten Wände erhoben sich zu einer Stuckdecke. Hier war jede Fläche auf geradezu exzessive Weise verziert.
»Nicht nach Ihrem Geschmack, Kassandra?«, fragte Royce.
»An so etwas bin ich nicht gewöhnt. Auf Akora sind die offiziellen Räume zwar groß, aber nicht so reich geschmückt.«
Nun betraten sie einen Saal, der ganz in Blau und Grau gehalten war, vom dicken Teppich und der Wandverkleidung bis zu den exquisiten Möbeln. Die Farben spiegelten sich in einem gigantischen dreistöckigen Lüster, an dem goldene Fransen schimmerten. Darunter stand der Prinzregent und empfing seine Gäste. Kassandra musterte einen großen, korpulenten Mann mit feinem braunem Haar und markanten Zügen, die vielleicht attraktiv gewesen wären, hätten sie nicht die Spuren hemmungsloser Ausschweifungen gezeigt. So wie Alex und Royce trug er einen eleganten Frack. Trotz seines Gewichts gelang es ihm, eine majestätische Haltung einzunehmen.
Als er die beiden Paare auf sich zukommen sah, strahlte er über das ganze Gesicht. Ungeduldig bedeutete er den Gästen, die vor ihm standen, den Neuankömmlingen Platz zu machen. »Darcourt, Hawkforte! Wahrlich, es ist uns ein Vergnügen, Sie beide heute Abend wieder zu sehen! Und Lady Joanna, bildschön wie eh und je!« Dann richtete er seinen Blick auf Kassandra, mit einer Herzenswärme, die ihr echt erschien. »Das ist sicher...«
Prompt reagierte Alex auf das Stichwort. »Hoheit, darf ich Ihnen meine Schwester vorstellen, Prinzessin Kassandra von Akora!«
Prinny ergriff ihre Hände und lächelte entzückt. »Willkommen, meine Liebe! Wir alle haben uns so sehr auf Ihre Ankunft gefreut. Wie gütig von seiner Majestät, Ihrem Bruder, Ihnen diese Reise zu erlauben! Hoffentlich werden wir auch ihn kennen lernen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«
Während sie das Lächeln höflich erwiderte, schaute sie in seine blutunterlaufenen grauen Augen und spürte das leichte Zittern seiner Finger. Mit jenem untrüglichen Instinkt, den ihre königliche Familie bereits besessen hatte, als England noch jung gewesen war, antwortete sie: »Zweifellos würde der Vanax eine solche Gelegenheit begrüßen, Hoheit, sollten die Umstände sie jemals ermöglichen.«
Eine Zeit lang unterhielt sie sich mit dem Prinzregenten, bis sie einigen Dutzend Ladys und Gentlemen vorgestellt wurde, die es kaum erwarten konnten, die Bekanntschaft des exotischen Gastes zu machen. Dank der Informationen, die Kassandra von Joanna erhalten hatte, konnte sie den einzelnen Gesichtern die richtigen Namen und Eigenheiten zuordnen. Aber ein Gentleman erregte ihre ganz besondere Aufmerksamkeit, trotz seiner kleinen Statur und der mürrischen Miene. Er wurde ihr als Spencer Perceval präsentiert, der britische Premierminister. Unwillkürlich erstarrte sie, während er sich über ihre Hand beugte. Zum Glück ließ er sie sofort wieder los und begann, übertrieben artikuliert zu sprechen. Anscheinend setzte er »ausländisch« mit »begriffsstutzig« gleich.
»Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt in unserem Land genießen, Hoheit.«
»Danke, Sir, da bin ich mir ganz sicher. In England findet man eine überaus reizvolle Mischung aus scheinbaren Konflikten und Widersprüchen, meinen Sie nicht auch?«
Verblüfft runzelte er die Stirn und suchte nach Worten. »Eh – ich...«
»Nun, immerhin hat Ihre Kultur den außergewöhnlichen Roman ›Verstand und Gefühl‹ und Lord Byrons – hm – aufwühlendes Werk innerhalb weniger Monate hervorgebracht. Und so kann man wohl kaum behaupten, England würde sich selbst verherrlichen und der Wahnvorstellung unterliegen, es wäre ein grandioses Empire, oder?«
»Gewiss nicht...«
»Entschuldigen Sie uns, Sir«, unterbrach Alex den Premierminister. »Sicher werden Sie verstehen, dass noch sehr viele Gäste meine Schwester kennen lernen möchten.« Als er sie zu einer Gruppe führte, die ihr erwartungsvoll entgegenschaute, murmelte er: »Bitte, versuch zu bedenken, dass wir keinen Krieg zwischen Akora und England anzetteln wollen.«
Gleichmütig zuckte sie die Achseln. Nachdem sie den unsympathischen Perceval mundtot gemacht hatte, fühlte sie sich viel besser. »Hast du letztes Jahr nicht den Verdacht gehegt, der Premierminister würde die Invasion von Akora planen?«
Alex warf ihr einen scharfen Blick zu. »Darüber dürftest du gar nichts wissen.«
»Um Himmels willen...«
»Schon gut. Ja, diesen Verdacht hatte ich. Aber Prinny fuhr Perceval energisch in die Parade, also müssen wir uns deshalb nicht mehr sorgen.«
Darauf antwortete Kassandra nicht. Was dieses Thema betraf, hatte sie sich eine eigene Meinung gebildet, die sie ihrem Bruder vorerst nicht mitteilen würde.
Wie vielen Leuten sie vorgestellt wurde, entsann sie sich später nicht. Bald pochte es schmerzhaft in ihren Schläfen, aber sie lächelte tapfer. Als der Gong ertönte, der das Dinner ankündigte, seufzte sie erleichtert.
Da der Prinzregent für diesen Abend verhältnismäßig wenige Gäste eingeladen hatte und die Nachtluft kühl war, ließ er das Essen nicht im Garten, sondern im runden Speisezimmer servieren. In diesem Raum dominierten Spiegelwände und silberne Dekorationen, die einander reflektierten. Dadurch entstand ein seltsamer Schimmer, der Kassandra den Eindruck vermittelte, sie würde im Gehäuse eines Nautilus sitzen. Joanna hatte sie vor der üppigen Mahlzeit gewarnt, und dafür war sie ihr dankbar. Schon vor dem Ende des Menüs hörte sie auf, die verschiedenen Gänge zu zählen. Sie nahm nur wenige Bissen zu sich, denn sie fand die Saucen zu schwer, und die bis zur Unkenntlichkeit zerkleinerten Speisen missfielen ihr. Zudem waren sie so stark gewürzt, dass sie die einzelnen Zutaten nicht definieren konnte. Weil sie einen klaren Kopf behalten wollte, nippte sie nur selten an ihrem Weinkelch.
Zu ihrer Rechten saß Royce, zur Linken Alex, und so wurde sie wirksam gegen neugierige Leute abgeschirmt, die gern mit ihr geplaudert hätten. Royce war ein angenehmer Gesprächspartner. Zunächst fragte er nach ihren Plänen für den Aufenthalt in England, dann bat er sie, von Akora zu erzählen. Das widerstrebte ihr wegen seiner leidvollen Gefangenschaft im Inselreich. Doch er half ihr sofort aus der Verlegenheit und beteuerte, deshalb müsse sie sich keine Gedanken machen. Und so berichtete sie von ihrer Heimat, beschrieb das Morgenlicht auf dem Binnenmeer, den Duft der Zitronenbäume, die Straße, die zwischen farbenfrohen Blumen vom Ilius-Hafen zum Palast hinaufführte, der seit über dreitausend Jahren zum Himmel emporragte.
Während sie sprach, verengte sich ihre Kehle. So lange hatte sie davon geträumt, Akora zu verlassen, und jetzt staunte sie über ihr heftiges Heimweh. Sie war froh, als der Prinzregent die Tafel aufhob.
Nun gingen sie zu einem geräumigen, in Rosa und Gold gehaltenen Salon, der die Illusion einer kitschigen, kurzlebigen Blüte hervorrief. An der Tür wartete der Majordomus des Prinzregenten, ein kleiner, sichtlich nervöser Mann. Nach einer ruckartigen Verbeugung führte er die beiden Paare zu einem Sofa. Die Frauen setzten sich. Aber Royce und Alex zogen es vor, direkt hinter ihnen zu stehen. Kassandra fand, damit hätten sie die bessere Wahl getroffen, denn das Sofa war genauso unbequem wie es aussah. Zu ihrer Verblüffung bestand es aus einem langen Brett mit einer dünnen Polsterung voller Rosshaare, die sich wie Kieselsteine anfühlten. Da es keine Lehne gab, musste sie kerzengerade sitzen – eine vorteilhafte, aber ermüdende Pose. Wehmütig dachte sie an die komfortablen, mit Kissen übersäten Diwane auf Akora und beobachtete die anderen Gäste, die allmählich eintrafen und sich platzierten, so gut sie es vermochten. Prinny war bereits auf ein kleines Podest gestiegen. Jetzt folgten ihm zwei Männer. In gedämpftem Ton hielten sie eine Besprechung mit ihm ab.
»Ein musikalischer Abend«, murmelte Royce.
»Ist Seine Hoheit musikalisch?«, fragte Kassandra über ihre Schulter, weil sie wissen wollte, ob ihr neue Qualen drohten.
»Er spielt recht gut Pianoforte und Cello. Und er hat eine beachtliche Singstimme. Unglücklicherweise ist er derzeit nicht allzu gut in Form, aber der Kunstgenuss müsste halbwegs zu ertragen sein.«
Nach einem Wink des Prinzregenten klopfte der Majordomus mit der Spitze seines schwarz emaillierten Stabes auf den Boden. Sofort herrschte tiefes Schweigen.
»Aus lichter Höh ruft der ruhmreiche Apoll nach uns
Und sucht einen Tempel, zu seinen Ehren errichtet...«
Ohne Musikbegleitung erhoben sich die drei Stimmen immer lauter. So etwas hatte Kassandra noch nie gehört, und das Lied gefiel ihr.
»Gedanken und Herzen vereinen sich.
Harmonisch verbunden, preisen wir Apoll...
Lang möge unsere Einheit und Freude währen.
Unsere Einheit und Freude...
Unsere Einheit und Freude...«
»An diesem Abend ein eher ironischer Text, nicht wahr?«, bemerkte Joanna und applaudierte gemeinsam mit den übrigen Gästen. »Hier scheint keine Einheit zu herrschen – und genauso wenig Freude.«
Sie wandte sich zu Royce, der ihr zunickte. »Vielleicht wird Apoll den Sängern lauschen und sich ihrer erbarmen.«
»Auf Akora kennen wir den Gott der Musik und der Dichtkunst. Aber wir trauen ihm nicht, ebenso wenig wie den restlichen olympischen Gottheiten.«
»Soviel ich weiß, glauben Ihre Landsleute nicht an die griechische Mythologie, sondern üben eine andere Religion aus.«
»Ja«, bestätigte Kassandra, »sie ist sehr alt. In mancher Hinsicht unterscheidet sie sich vom Christentum. Doch es gibt auch einige Gemeinsamkeiten.«
»Darüber würde ich gern mehr erfahren.«
Sie zögerte, schaute in die grüngoldenen Tiefen seiner Augen und dachte an die Türme am schimmernden Meer. »Vielleicht wird sich Ihr Wunsch eines Tages erfüllen.«
Nun trug das Trio ein paar weitere Lieder vor, die dem ersten glichen – darunter eine Huldigung an Bacchus, den Gott des Weines. Als die Sänger unter donnerndem Applaus das Podium verließen, hatten die meisten Gäste Lust bekommen, noch ein Glas zu trinken – oder mehrere.
Livrierte Lakaien beeilten sich, den ersehnten Wein einzuschenken.
»Nun sollten wir gehen«, meinte Alex, reichte seiner Frau eine Hand und half ihr, aufzustehen.
Auch Kassandra erhob sich bereitwillig. Einen Teil des Abends hatte sie durchaus genossen, aber sie fand, er sollte sich nicht in die Länge ziehen. Sie verabschiedeten sich vom Prinzregenten, der höfliches Verständnis zeigte.
Was für gute Manieren er hat, dachte Kassandra. Schade, dass er nur wenigen Günstlingen so begegnete. So müsste er sein ganzes Volk behandeln...
»Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?«, fragte Royce, als sie im Landauer saßen.
Es dauerte eine Weile, bis Kassandra antwortete. Immerhin war sie ein Gast in England, und trotz ihres inoffiziellen Besuchs repräsentiert sie Akora. »Ein Gebäude wie das Carlton House habe ich nie zuvor gesehen.«
Lachend hob er die Brauen, und sein Blick schien bis in die Tiefe ihrer Seele zu dringen. »Ziehen Sie sich wieder einmal aus der Affäre? So wie bei unserem Gespräch über Byron?«
»Was hat Byron damit zu tun?«, wollte Alex wissen.
»Nun, es war sehr schwierig, deiner Schwester zu entlocken, was sie wirklich von Byron hält. Sie ist sehr diplomatisch.«
Erstaunt beugte sich Alex vor. »Also habt ihr bereits über Poesie diskutiert? Interessant.«
Joanna stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Hör auf, die beiden zu hänseln!«
»Das tue ich doch gar nicht«, verteidigte er sich. »Es überrascht mich nur, dass sie sich bereits gut genug kennen, um über solche Dinge zu reden.«
Hastig mischte sich Kassandra ein, um die Wogen zu glätten. »So ein faszinierender Abend... Jahrelang habe ich mir gewünscht, andere Welten und Kulturkreise kennen zu lernen. Was das betrifft, ist meine Reise schon jetzt ein voller Erfolg.«
»Und wie beurteilen Sie den Prinzregenten?«
»Er verblüfft mich. Das gebe ich zu. Aber Sie müssen verstehen – die einzigen Herrscher, die ich jemals kannte, waren mein Großvater – und nach seinem Tod mein Bruder Atreus. Der Vanax ist einfach – anders als der Prinzregent.«
»Meinen Sie, er würde niemals vor einem größeren Publikum singen?«
»Hat Atreus jemals gesungen, Alex?«, fragte Kassandra.
»Gelegentlich, im engsten Freundeskreis. Übrigens, eins solltest du bedenken – die Position des Prinzregenten ist erblich.«
Verwundert runzelte Royce die Stirn. »Gilt das nicht auch für den Vanax?«
»Nein«, erwiderte Alex. »Atreus wurde nicht zum Vanax ernannt, weil er nach dem Tod unseres Großvaters der älteste Atreide war. Er wurde gewählt.«
»Von wem?«
»Nicht von wem, Royce«, entgegnete Kassandra leise. »Atreus unterzog sich einer Prüfung, einem uralten akoranischen Ritual. Hoffentlich sind Sie nicht beleidigt, wenn wir uns weigern, darüber zu sprechen.«
»Natürlich nicht«, versicherte Royce.
Mittlerweile näherten sie sich dem schmiedeeisernen Doppeltor vor Alex und Joannas Mayfair-Residenz. Zwei Männer hielten Wache, mit Knüppeln bewaffnet. In ihren breiten Gürteln steckten Pistolen. Während die Kutsche zum Haus fuhr, sah Kassandra weitere Männer an der Mauer patrouillieren.
»Lass dich nach Hause fahren, Royce«, sagte Alex, nachdem er ausgestiegen war, und den beiden Frauen aus dem Wagen geholfen hatte.
»Obwohl ich nur eine Viertelmeile entfernt wohne?«
»Über meinen Rücken zieht sich immer noch die lange Narbe, die ich mir bei einer Wanderung durch das zivilisierte London eingehandelt habe. Das war sträflicher Leichtsinn.« Ehe Royce erneut protestieren konnte, schloss Alex den Wagenschlag.
Die Räder begannen zu rollen, und Joanna rief: »Oh Royce, hör zu – Kassandra muss tanzen lernen! Würdest du uns morgen besuchen und ihr beibringen, wie man Walzer tanzt?«
»Walzer?«, wiederholte Alex. »Ich sehe keinen Grund, warum Kassandra...«
Zu Royces Genugtuung ersparte ihm der knirschende Kies, die nächsten Worte seines Freundes zu hören. Den Kopf an die Lederpolsterung gelehnt, erinnerte er sich, wie oft sein Herz in den letzten Stunden höher geschlagen hatte.
Kassandra war – schön. Gewiss, das würde niemandem entgehen. Aber sie war auch unerwartet – weltgewandt? Nein, so konnte man sie nicht beschreiben. Mit ihrer Natürlichkeit und Spontaneität unterschied sie sich himmelweit von den affektierten jungen Damen in seinem Bekanntenkreis. Außerdem erschien sie ihm sehr ernsthaft und zielstrebig für ihre Jahre – und ungewöhnlich gebildet. Das verblüffte ihn, weil sie im abgeschiedenen Akora aufgewachsen war, behütet und abgeschirmt gegen den Rest der Welt.
Aber was wusste er schon über ihre Erziehung – oder über Akora? Eine Gefängniszelle war nicht besonders aufschlussreich. Und wenn man beinahe verhungerte, fehlte einem die Kraft für neugierige Fragen.
Manchmal musste er sich immer noch in den Arm kneifen, um zu erkennen, dass er die Qualen überstanden hatte.
Vielleicht würde er diese Nacht nicht im Freien, sondern im Haus schlafen. Und morgen... Zweifellos ein verlockender Gedanke, Kassandra zu zeigen, wie man Walzer tanzte.
Gedanken und Herzen vereinen sich...
Selbstvergessen summte er das Lied vor sich hin. Als er sich dabei ertappte, verstummte er abrupt. Aber die Melodie verfolgte ihn noch lange, nachdem er vor seiner Tür aus der Kutsche gestiegen war.