Читать книгу Insel meiner Sehnsucht - Josie Litton - Страница 7
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ОглавлениеAm nächsten Morgen traf sie ihren Bruder allein im Frühstücksraum an, wo er gerade die Times las. Sofort legte er die Zeitung beiseite, stand auf und rückte einen Stuhl für sie zurecht. »Hast du gut geschlafen?«
»Danke, sehr gut. Wie geht es Joanna?«
»Sie schläft noch. Leider hat sie eine unruhige Nacht hinter sich.«
Was bedeuten musste, dass auch er kein Auge zugetan hatte. Zweifellos war er wach geblieben, um für seine Frau zu sorgen. Sein Gesicht zeigte trotzdem keine Ermüdungserscheinungen. Das verdankte er der Disziplin eines vorzüglich ausgebildeten Kriegers. »Bald wirst du Vaterfreuden genießen«, meinte Kassandra lächelnd.
Seine Miene nahm sanftere Züge an. Plötzlich sah sie in einer Vision, wie er sein Kind betrachten würde. »Joanna hat mir erzählt, du würdest keine Gefahr für die Niederkunft sehen. Darüber bin ich sehr froh.«
»Ja, manchmal ist meine Gabe tatsächlich ein Geschenk des Himmels.«
Alex nahm wieder Platz und wartete, bis ein Dienstmädchen seiner Schwester eine Tasse Tee serviert und die Bitte um pochierte Eier aufgenommen hatte – für Kassandra ein ungewohntes Frühstück und bereits ihre Lieblingsspeise.
Sobald sie wieder allein waren, bemerkte er sanft: »Hin und wieder ist deine Gabe ein Fluch, den du tapfer erträgst. Doch du musst ihn nicht allein verkraften.«
Mit einer solchen Bemerkung hatte sie gerechnet, und sie fühlte sich erleichtert. Natürlich würde ihr Bruder, der sie so gut kannte, deutlich spüren, dass sie etwas bedrückte – vor allem nach ihrem Gespräch mit Royce am vergangenen Tag. Trotzdem fiel es ihr schwer, über Dinge zu sprechen, die sie tief in ihrem Herzen verborgen hatte.
Eine Zeit lang starrte sie in ihren Tee, bevor sie fragte: »Alex – du weißt es doch, nicht wahr? Was ich sehe, ist nur eine mögliche Zukunft von mehreren.«
Geduldig nickte er. »Ja, das verstehe ich.«
»Nichts ist in Stein gemeißelt. Unser Schicksal bestimmen wir selbst. Wir müssen einfach nur den richtigen Weg wählen und...«
»...und andere daran hindern, Wegen zu folgen, die uns schaden würden.«
»Genau. Letztes Jahr sah ich in einer Vision, wie die Briten in unser Königreich eindrangen und es eroberten. Da hast du, gemeinsam mit Atreus, keine Zeit verschwendet, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen.«
»Gewiss, Royce hat uns unterstützt.« Alex sprach in ruhigem Ton. Seine Hand, die auf dem Tischtuch aus blütenweißem Damast lag, ballte sich, und er schien zu ahnen, was sie ihm sagen wollte.
Um sich zu beruhigen, holte sie tief Atem. »Die Tagträume sind zurückgekehrt. Wie oder warum kann ich dir nicht erklären, denn so etwas ist nie zuvor geschehen. Aus irgendeinem Grund hat sich der Weg in diese besondere Zukunft wieder geöffnet.«
»Hast du Atreus darüber informiert?«
»Nein, er hat ohnehin schon gezögert, mir die Reise nach England zu gestatten. Wenn er wüsste, dass die Briten uns immer noch bedrohen, hätte ich Akora niemals verlassen dürfen.«
»Es sieht dir gar nicht ähnlich, dein eigenes Urteil über das deines Bruders zu stellen, der – wie ich dich erinnern möchte – zugleich dein Vanax ist.«
Ohne mit der Wimper zu zucken akzeptierte sie den Tadel, den sie verdiente. Doch sie hätte nicht anders handeln können. »Natürlich hätte ich ihm von meinen Visionen erzählt – wäre meine Fahrt nicht lebenswichtig gewesen.«
»Warum? Was kannst du hier ausrichten, was ich nicht ebenso gut schaffen würde?«
»Das weiß ich nicht. Seit meiner Ankunft hoffe ich, das herauszufinden. Aber es gelingt mir nicht. Nur eins weiß ich – ich musste nach London kommen.«
Alex schwieg eine Weile. Schließlich erwiderte er: »Also gut, ich glaube, ich verstehe deine Beweggründe. Und nun sollten wir überlegen, was deine Fantasiebilder bedeuten.«
Da sie seit der Rückkehr ihrer Visionen nichts anderes getan hatte, zögerte sie nur kurz. »Vielleicht bedeuten sie, dass Deilos nicht tot ist.«
»Also hast du ihn gesehen?«
»Nein. Aber letztes Jahr versuchte er, die Briten zu veranlassen, in unser Königreich einzudringen. Er hoffte, dann könnte er die Position des Vanax übernehmen, weil sich die Akoraner gegen Atreus stellen und ihn vom Thron stoßen würden. Offenbar nahm er an, er würde die Briten nach ihrer Invasion besiegen. Nun, da hat er sich getäuscht.«
»Er ist ertrunken.«
»Aber seine Leiche wurde nie gefunden«, wandte Kassandra ein.
»Nichts weist darauf hin, dass die umstürzlerische Bewegung, die Atreus an den dringend nötigen Reformen hindern soll, immer noch existiert – ganz egal, ob der Verräter am Leben ist oder nicht.«
»Das weiß ich. Allerdings musst du bedenken – Deilos und seine Anhänger haben es geschafft, Royce neun Monate lang auf Akora gefangen zu halten, und niemand ahnte auch nur das Mindeste von der Anwesenheit eines britischen Adligen. Hätten sie ihn benutzt, um den Zorn der Engländer über die grausame Behandlung ihres Landsmanns zu erregen, wären wir beide jetzt nicht hier.«
»Ja, das ist wahr«, gab Alex langsam zu.
»Außerdem – selbst wenn Deilos tot und die Revolte beendet wäre, stehen auf der anderen Seite immer noch Leute, die glauben, Atreus würde die Reformen nicht schnell genug durchführen. Bis jetzt begnügten sie sich mit kleineren Demonstrationen. Trotzdem haben sie die Aufmerksamkeit der Bevölkerung erregt, und möglicherweise werden sie Mitstreiter finden. Beide Parteien könnten meine Tagträume heraufbeschworen haben.«
»Davon muss Atreus erfahren.«
»Gewiss«, stimmte Kassandra zu. »Aber nun bin ich in London, und unser Bruder ist klug genug, um mir einen längeren Aufenthalt zu gestatten – wenigstens, bis wir der Sache auf den Grund gehen.«
Alex wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. »An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher.«
»Immerhin respektiert er deine Meinung, und du könntest ein gutes Wort für mich einlegen.«
In diesem Moment servierte das Dienstmädchen die pochierten Eier, die Kassandra bestellt hatte. Alex wartete, bis die junge Frau das Zimmer wieder verlassen hatte. Dann erklärte er: »Ich werde Atreus noch heute schreiben. Bevor wir eine Antwort erhalten, werden einige Wochen verstreichen. Wenn er dir die sofortige Heimkehr befiehlt, musst du gehorchen. Verstehst du das?«
Kassandra starrte die kleine weißblaue Porzellanschüssel an. Plötzlich hatte sie den Appetit verloren. »Ja, natürlich. Doch du wirst ihn ersuchen, sich anders zu besinnen, nicht wahr?«
Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Schwester und der Sorge um ihr Wohl, gestand er: »Wenn ich meinem Instinkt folgen wollte, würde ich Joanna und dich noch heute nach Akora schicken. Hier in England ist die Lage viel zu unsicher.«
»In deinem eigenen Haushalt wäre sie noch viel unsicherer, würdest du deiner eigensinnigen Frau so etwas zumuten.«
Alex seufzte tief auf. »Ja, da hast du Recht. Jedenfalls musst du mir versprechen, vorsichtig zu sein.«
»Darum bitte ich dich auch.« Liebevoll berührte sie seine Hand, und sie saßen sich eine Zeit lang schweigend gegenüber, inmitten der großen Stadt, in der rätselhafte Dinge geschahen.
»Am Dienstag kommt Royce zurück«, verkündete Joanna am späteren Vormittag. Immer noch im Bett, gähnte sie herzhaft. »Natürlich will er uns beschützen, wenn wir die Spinne besuchen.«
»Wohin ist er denn gefahren?« Kassandra saß in einem Sessel neben dem Bett, die bestrumpften Füße auf der weißen Steppdecke.
»Nach Hawkforte. Dort wird ein neues Bewässerungssystem installiert, und diese Arbeiten muss er unbedingt beaufsichtigen.« Joanna lächelte verständnisvoll. »In einem solchen Moment könnte ihn nichts auf der Welt von seinem geliebten Landgut fern halten.«
»Vermisst du es?«
»Manchmal.« Joanna legte eine Hand auf ihren gewölbten Bauch, der sich über Nacht scheinbar vergrößert hatte. »Aber es kommt mir so vor, als würde Hawkforte zu einem anderen Leben gehören.«
»Ich habe von Hawkforte geträumt.«
»Wirklich? Bemerkenswert.«
»In der zweiten Nacht nach meiner Ankunft. Seltsam – denn ich habe den Landsitz nie gesehen.«
»War es eine Vision?«
»Nein, nur ein Traum.«
Joanna biss in eines der Brötchen, die ihr Mrs. Mulridge zusammen mit dem Tee serviert hatte. Dann legte sie es beiseite, um sich mit wichtigeren Dingen zu befassen. »Wie wundervoll du mit Royce Walzer getanzt hast...«
Lachend schüttelte Kassandra den Kopf und überspielte ihre Verlegenheit. »Kannst du dich noch direkter ausdrücken?«
»Wohl kaum«, gab Joanna fröhlich zu. »Die Schwangerschaft hat mir den letzten Rest meines Feingefühls geraubt, falls ich jemals eins besaß. So gern würde ich meinen Bruder an der Seite einer Frau sehen, die ihn verdient... Und es würde mich glücklich machen, wenn du diese Frau wärst. Ist das so schrecklich?«
»Nein. Aber du musst verstehen – ich bin nicht nach England gereist, um einen Ehemann zu suchen.«
»Magst du Royce?«
»Oh ja.«
»Obwohl du den Verdacht hegst, er würde Akoras Untergang planen?«
»Das glaube ich nicht... Also gut, ich hatte es befürchtet, als ich ihn noch nicht kannte. Inzwischen wurde ich eines Besseren belehrt.«
Joanna richtete sich im Bett auf. »Hoffentlich! Einen ehrenwerteren Mann gibt es nicht – von Alex abgesehen.«
»In den Monaten seiner Gefangenschaft musste er so viel Leid ertragen. Nur wenige hätten das überstanden.«
»Davon hat er sich mittlerweile erholt«, versicherte Joanna. »Er schläft sogar wieder im Haus – hin und wieder. Nach seiner Befreiung konnte er die Nächte nur im Freien ertragen. Und er hat gesagt, wenn er sich an jemandem rächen wollte, dann nur an Deilos ...«
»... der ertrunken ist, während er dich zu entführen versuchte«, fiel ihr Kassandra ins Wort.
»Ja, er ging mit seinem Schiff unter.« Nach einer kurzen Pause fragte Joanna. »Glaubst du, er ist noch am Leben?«
»Warum sollte ich das vermuten?«, erwiderte Kassandra. »Dafür gibt es keinen Grund.« Was sie Alex anvertraut hatte, würde sie ihrer Schwägerin verschweigen. Es genügt, wenn er weiß, warum ich nach England gekommen bin, entschied sie. Darüber muss seine hochschwangere Ehefrau nicht informiert werden.
Ein paar Minuten später sah sie sich in ihrem Entschluss bestärkt, als es an der Tür klopfte.
»Herein!«, rief Joanna.
Eine große, kräftig gebaute ältere Frau, die eine fließende Robe im akoranischen Stil trug, betrat das Zimmer. Um ihre hellblauen Augen zogen sich feine Fältchen, die ihr heiteres Wesen verrieten. Ihr Gesicht war leicht gebräunt. Dazu bildete ihr schneeweißes Haar – zu einem Zopf geflochten, der den Kopf umgab und am Rücken hinabhing – einen faszinierenden Kontrast.
»Guten Morgen, Lady Joanna«, grüßte Elena. »Wie gut, dass Sie im Bett geblieben sind!«
»Dank Ihrer strengen Anweisungen würde ich’s gar nicht wagen, aufzustehen.« Joanna lächelte die Begleiterin der Frau an. »Kennst du Brianna, Elenas Nichte, Kassandra?«
Sobald die Akoranerinnen hereingekommen waren, hatte sich Kassandra erhoben. In der Gegenwart der Heilkundigen, der sie großen Respekt zollte, konnte sie unmöglich sitzen bleiben. Von Elenas Nichte wusste sie nichts, was sie verblüffte. Sie hatte geglaubt, sie wäre allen Menschen begegnet, die in irgendeiner Verbindung mit dem Palast standen, wenn auch nur durch verwandtschaftliche Bande.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Brianna bediente sich der üblichen Floskel, mit der man eine neue Bekanntschaft schloss.
Sie war etwas größer als Kassandra, mit feuerrotem Haar, das ihrer hellen Haut und den fein gezeichneten Zügen schmeichelte. In ihren dunkelgrünen Augen glänzten goldene Pünktchen. Ihr Blick strahlte Klugheit aus – und noch etwas, das Kassandra nicht zu definieren vermochte. Vielleicht einfach nur mädchenhafte Scheu?
»Leider konnte ich Sie bei Ihrer Ankunft nicht begrüßen, Prinzessin, weil ich mich erkältet hatte und das Bett hüten musste«, fuhr Brianna fort. »Und bevor ich nicht genesen war, wollte ich niemanden anstecken.«
»Ich fürchte, unser englischer Frühling ist Brianna nicht gut bekommen«, sagte Joanna freundlich.
»Am Wetter hat’s nicht gelegen«, entgegnete Elena, »eher an den vielen Stunden, die sie in Ihrer ungeheizten Bibliothek zubrachte. Ich versprach meiner Schwester, auf Brianna zu achten, wenn sie mich als meine Gehilfin hierher begleiten würde. Offenbar habe ich meine Pflicht vernachlässigt.«
»Oh nein, für meine Krankheit war ich selbst verantwortlich«, widersprach Brianna. »Meine Familie besitzt einen Bauernhof auf Leios.« So hieß die westliche der beiden Hauptinseln, die zusammen mit drei kleineren Akora bildeten. »Nur mein Vater und mein ältester Bruder reisen regelmäßig in die königliche Stadt Ilius. Wir Frauen fahren nur selten hin. Das letzte Mal sah ich den Palast, als ich ein kleines Kind war und meine Adoption registriert wurde. Welch ein aufregendes Erlebnis, mich so weit von daheim zu entfernen – ich war völlig überwältigt.« Daran zweifelte, Kassandra. Sie vermutete eher, Brianna hätte stille Zufriedenheit empfunden, weil ein Traum Wirklichkeit geworden war.
Bei ihrem Anblick hatte sie sofort gewusst, dass das Mädchen nicht auf Akora zur Welt gekommen war. Mit ihrem roten Haar und dem blassen Teint unterschied sich Brianna von den zumeist schwarzhaarigen, dunkelhäutigen Inselbewohnern.
»Sind Sie eine Xenos gewesen?«, fragte Kassandra leise.
Brianna nickte. Eigentlich müsste sie das Wort kränken, denn so bezeichnete man alle Fremden, und die Xenos gehörten zu einem der sorgsam gehüteten Geheimnisse von Akora. Doch sie berichtete unbefangen: »Nach einem heftigen Unwetter wurde ich gefunden. Ich war an Bord eines Schiffs gewesen, das der Sturm zerstört hatte. Unglücklicherweise gab es sonst keine Überlebenden.«
»Und Ihre Eltern?«
»Sie sind ertrunken. Sobald ich das Bewusstsein wiedererlangte, stellte sich heraus, dass ich aus England stammte, denn ich drückte mich in dieser Sprache aus. Man zog Erkundigungen nach etwaigen Verwandten ein, ohne Erfolg.«
»Hoffen Sie, Familienmitglieder aufzuspüren, während Sie sich hier aufhalten?«
In Briannas Augen flackerte ein sonderbares Licht. Wehmut? Sehnsucht? Doch sie antwortete: »Diese Suche wäre sinnlos, denn ich habe keinen Grund, an die Existenz von Angehörigen zu glauben. Außerdem bin ich jetzt eine Akoranerin.«
Mehr muss man nicht dazu sagen, dachte Kassandra. Obwohl die Akoraner dem Rest der Welt ein abweisendes Gesicht zeigten und nur sehr begrenzte Kontakte zuließen, nahmen sie jeden Xenos, der ihr Land erreichte, freundlich auf. Schon vor langer Zeit hatte das Inselvolk erkannt, dass es frisches Blut brauchte, um zu überleben. Und kein Xenos wollte Akora verlassen, nachdem er sich dort eingelebt hatte. Alle wurden Akoraner, so wie Brianna.
Und wie wäre ihnen zumute, den Zugereisten und den Einheimischen, wenn sie wüssten, welche Gefahren ihrem befestigten Königreich drohten?
Doch sie ließ sich ihre Sorge nicht anmerken. »Jetzt, wo Sie wieder gesund sind – wollen wir zusammen London besichtigen?«, schlug sie vor. »Da gibt es so vieles, was ich sehen möchte. Und Elena würde mir sicher verbieten, Joanna ins Schlepptau zu nehmen.«
»Ganz egal, was ich davon halte – Kyril Alexandros würde es niemals billigen«, betonte die Heilkundige. Offensichtlich versuchte sie, mit Alex akoranischem Titel seine Autorität zu unterstreichen. »Obwohl Lady Joanna kerngesund ist, muss sie sich schonen.«
»Insbesondere, wenn ich weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will«, ergänzte Joanna. »Erinnerst du dich, Kassandra? Am Dienstag werden wir im Spinnennetz erwartet.«
»Du musst Lady Melbourne nicht besuchen. Auf dieser Dinnerparty werde ich mich auch ohne deinen Beistand zurechtfinden.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber die Frau fasziniert mich. Wenn du sie siehst, wirst du verstehen, warum.« Joanna lächelte tapfer. »In der Zwischenzeit kannst du mit Brianna die Stadt erforschen. Amüsiert euch, und kümmert euch nicht um meine Wenigkeit. Ich fühle mich großartig.«
»Kein Wunder, solange ein fürsorglicher Ehemann um dich herumtanzt«, neckte Kassandra ihre Schwägerin, der diese Aussicht sichtlich gefiel.
Als sie das Zimmer verließ, rief Joanna ihr nach: »Wenn du ins Gunter’s gehst, bring mir Himbeerbonbons mit! Oh, und diese himmlischen Orangengelee-Scheiben! Die darfst du nicht vergessen!«
Und die Honigdrops und Buttertoffees, die Nougatwürfel und Pastillen, den türkischen Honig und die Sahnekaramellen, die während der nächsten Tage auf Joannas Bett hinabregneten... Darüber freute sie sich, aber sie aß nicht allzu viele Süßigkeiten, denn sie hatte die letzte Phase ihrer Schwangerschaft erreicht. Und sie würde nur mehr ein einziges Mal aufstehen, um die Spinne zu besuchen.
»Magnifique!«, jubelte Madame Duprès. Dann fügte sie in bedeutsamem Ton hinzu: »Vor allem, wenn man bedenkt, unter welch widrigen Umständen das Kleid vollendet wurde.«
»Für mich war’s gar nicht so widrig, weil Sarah mich bei den Anproben vertreten hat«, bemerkte Kassandra fröhlich, während sie sich vor dem Spiegel hin und her drehte.
Die neue Robe war ebenso schön wie das Kleid, das sie im Carlton House getragen hatte, entsprach jedoch einem ganz anderen Stil. Von der hohen Taille fielen Seidenfalten in der Farbe eines Frühlingswalds hinab. Perlenstickereien schmückten den Saum, die Puffärmel und das Oberteil. Wenn sie sich bewegte, schwang der Rock umher, als würde ihn eine sanfte Brise bewegen. Verglichen mit den Toiletten, die sie in der Residenz des Prinzregenten gesehen hatte, wirkte das Kleid eher schlicht, aber sehr feminin. Mochte die Schneiderin auch ziemlich von sich eingenommen sein – das war ihr gutes Recht.
»Zweifellos hat Sarah eine wahre Engelsgeduld bewiesen.« Nicht zuletzt, weil sie ein Kleid für sich selbst verdient hat, ergänzte Kassandra in Gedanken.
»Es wäre trotzdem besser gewesen, Hoheit hätten sich den Anproben selbst unterzogen. Nun kann ich unmöglich die Verantwortung übernehmen...«
»... aber mein Lob akzeptieren, nicht wahr? Das Kleid ist exquisit! Genauso wie in meinen kühnsten Träumen! Madame, Sie haben sich selbst übertroffen.«
Besänftigt und hochzufrieden verließ die Schneiderin das Haus. Kassandra seufzte erleichtert und ergriff das Limonadenglas, das ihr die Schwägerin eingeschenkt hatte.
»Für Anfang Mai ist es ziemlich warm, nicht wahr?«, meinte Joanna und fächelte sich Kühlung zu. Sie saßen im Schlafzimmer. Durch die offenen Fenster wehte frische Luft herein, hohe Bäume spendeten angenehmen Schatten. Von der Straße jenseits der Gartenmauer drangen nur wenige Geräusche herein. Sogar das geschäftige London schien zu faulenzen, wenn die Temperatur stieg.
»In Akora würde man das nicht so empfinden. Aber die Engländer sind wahrscheinlich nicht an solche Frühlingstage gewöhnt. Geht es dir gut?«
»Ganz ausgezeichnet. Und wenn du deinem liebem Bruder etwas anderes erzählst, drehe ich dir eigenhändig den schönen Hals um.«
»Fällt er dir wirklich dermaßen auf die Nerven?«
»Nicht einmal blinzeln darf ich, ohne dass er glaubt, die Wehen hätten begonnen.«
»Er meint es nur gut.«
»Mit dieser übertriebenen Fürsorge wird er mich noch in den Wahnsinn treiben. Glücklicherweise liebe ich ihn bis zur Selbstverleugnung. Bitte, erinnere mich in den nächsten Tagen möglichst oft daran.«
»Gewiss, ich werde es regelmäßig erwähnen«, versprach Kassandra feierlich. »Bist du immer noch fest entschlossen, die Soiree zu besuchen?«
»Nur die Ankunft des Babys würde mich davon abbringen.«
Da Joanna kurz vor der Niederkunft stand, rechnete Kassandra durchaus mit der Möglichkeit, die Pläne für diesen Abend könnten sich ändern, ehe sie im Landauer sitzen und zum Melbourne House fahren würden.
Eine halbe Stunde vor ihrem Aufbruch erschien Royce, das Gesicht von der Sonne gerötet. Weil er von Hawkforte aus hierher gesegelt war, roch er nach salziger Meeresluft. Kassandra verdrängte den Neid, den seine Schiffsreise geweckt hatte, ignorierte ihre beschleunigten Herzschläge und konzentrierte sich auf die bevorstehende Party. Zu ihrem Leidwesen fiel ihr das schwer, weil sich immer wieder ihre Knie streiften, während sie einander in der schwankenden Kutsche gegenübersaßen. Und weil er jedes Mal lächelte, wenn sie der Berührung auszuweichen suchte.
Das Melbourne House lag in der Nähe des St. James Park, und Kassandra vermutete, von den oberen Etagen aus würde man die Schwäne über den See gleiten sehen. An einem der letzten Tage war sie an der Residenz vorbeigegangen und hatte die imposante Fassade bewundert. Jetzt weckte die Innenausstattung ihre Neugier.
Rings um die runde Halle reihten sich mehrere Empfangsräume aneinander – mit hohen Stuckdecken, reich vergoldet und voller Menschen. Steile Stufen führten nach oben, die Kassandra etwas seltsam fand. Aber sie passten wohl zum Stil des Gebäudes, und die Melbournes hatten sich offenbar an die körperliche Anstrengung gewöhnt. Sonst wären sie durch eine andere Treppe ersetzt worden. Oder die jüngeren Familienmitglieder wussten eine Kletterpartie zu schätzen, während die über 60-jährige Hausherrin wahrscheinlich den Komfort der Salons im Erdgeschoss vorzog.
An diesem Abend hielt sie im größten, besonders extravagant eingerichteten Empfangsraum Hof. Ihr Gesicht zeigte die Spuren einstiger Schönheit, die ihr schon seit Jahrzehnten die Position einer renommierten Gastgeberin eintrug und mächtige Männer ihres Alters nach wie vor in ihre Nähe lockte. Aber es war die hellwache Intelligenz ihres Blicks, die Kassandra beeindruckte. So viel hatte sie über Elizabeth Milbanke, Lady Melbourne, gehört – nicht zuletzt den schrecklichen Spitznamen –, so dass sie sich auf die Begegnung mit einer Xanthippe vorbereitete. Doch Joanna hatte sie vor dem entwaffnenden Charme der Spinne gewarnt.
»Oh, meine liebe Prinzessin Kassandra!«, rief Lady Melbourne. Wie ein strahlendes Lächeln verriet, besaß sie immer noch ihre eigenen Zähne, die sie offensichtlich sorgsam pflegte. »Welch eine Freude, Sie kennen zu lernen!« Trotz ihres Alters erhob sie sich und begann zu knicksen.
»Nein, bitte!«, protestierte Kassandra hastig. »Es wäre mir lieber, wir würden von diesem Zeremoniell absehen. Immerhin statte ich Ihrem Land nur einen privaten Besuch ab.«
»Sehr vernünftig, meine Liebe«, lobte Lady Melbourne und nahm wieder Platz. »Auch ich verzichte sehr gern auf solche Förmlichkeiten.« Einladend klopfte sie neben sich auf das Sofa. »Ich konnte es kaum erwarten, Ihre Bekanntschaft zu machen. Seit Ihrer Ankunft haben Sie sich kaum in unseren Kreisen blicken lassen.« Ihre Stimme nahm einen schelmischen Klang an. Zweifelsohne hatte sie erfahren, dass Kassandra im Carlton House gewesen war, und sich über alle Einzelheiten informieren lassen – das Kleid der akoranischen Prinzessin, die Gesprächspartner und -themen, wie lange sie geblieben und was nach ihrem Abschied gemunkelt worden war.
Kassandra beschloss, ihr ironisches Lächeln nicht zu unterdrücken. Zu ihrer eigenen Verblüffung amüsierte sie sich. »Ah, wie Sie sicher wissen, ist Lady Joanna, meine Schwägerin, guter Hoffnung«, erwiderte sie und sank auf das Sofa. »Deshalb bin ich nach England gekommen, und ich fürchte, meine Anwesenheit wird sie dazu verleiten, ihre Kräfte übermäßig zu strapazieren.«
»Das verstehe ich.« Forschend schaute Lady Melbourne zu Joanna hinüber, die klugerweise in sicherer Entfernung saß und mit Royce plauderte.
Auch Alex hielt sich, stets wachsam, in der Nähe seiner Frau auf, nachdem er die Gastgeberin nicht allzu herzlich begrüßt hatte.
»Lady Joanna ist so – pflichtbewusst«, murmelte die Spinne. »Wenn man bedenkt, dass sie noch im Vorjahr für eine graue Maus vom Lande gehalten wurde...«
Kassandra lachte, als hätte Lady Melbourne gescherzt. Natürlich traf das nicht zu. Joanna hatte erklärt, die alte Dame könne sie nicht ausstehen, sei aber zu vorsichtig, um das zu zeigen.
»Wenn jemand glücklich ist, erträgt sie’s nicht«, hatte Joanna spöttisch bemerkt. »Angeblich, weil Peniston Milbanke, Lord Melbourne, ihre Gefühle verletzt hat. Bei der Hochzeit war sie sechzehn und ganz wahnsinnig in ihn verliebt. Wenige Monate später wusste ganz London, dass er sich mit einer neuen Geliebten vergnügte. Sobald ihr gebrochenes Herz geheilt war, wurde sie als die genialste Zynikerin unseres Zeitalters wiedergeboren. Skrupellos nutzte sie ihre Macht aus. Und sie warf keinen einzigen Blick zurück.«
Ohne Rücksicht auf Lady Melbournes Abneigung gegen romantisches Glück und die Gründe, die dahinter steckten, erwiderte Kassandra: »Wäre Lady Joanna eine graue Maus, hätte sie meinen Bruder wohl kaum erobert.«
»Ja, das ist ihr gelungen. Erstaunlich, nicht wahr? Das hätte niemand von Darcourt erwartet. Aber genug davon – ich darf Ihre reizende Gesellschaft nicht allzu lange beanspruchen. Erzählen Sie mir von Ihren Plänen. Was werden Sie während Ihres Aufenthalts in England unternehmen?«
»Nichts Besonderes, außer meiner Familie beizustehen.«
»Wie großmütig! Sagen Sie doch – stimmt es, was man von Akora behauptet? Dass die Krieger herrschen und die Frauen dienen?«
»Nun, ich glaube, diesen Eindruck haben einige Leute gewonnen.« Sehr raffiniert, dachte Kassandra. Ohne Umschweife wechselt sie das Thema, um eine messerscharf gezielte Frage zu stellen.
Aber Kassandra war an einem königlichen Hof aufgewachsen und diplomatisch geschult. Von solchen Finten ließ sie sich nicht überrumpeln.
»Ah – und stimmt es? Wenn man solche Geschichten erzählt, müssen sie ein Körnchen Wahrheit enthalten.«
»Das akoranische Gesellschaftssystem ist sehr alt, um Jahrhunderte älter als das englische. In unserem Königreich verbindet man mit manchen Dingen vielschichtige Bedeutungen.«
»Tatsächlich? Wie faszinierend! Aber Sie sind auch Engländerin, nicht wahr?«
»Gewissermaßen.«
»Nur gewissermaßen? Fühlen Sie sich nicht ein kleines bisschen britisch?«
»Ja – wenn ich Jane Austen lese«, gab Kassandra zu.
»Jane Austen? Ach, diese Landpomeranze, die Romane schreibt! Meine liebe Nichte Annabella betet sie an. Oh, ich muss Sie unbedingt mit ihr bekannt machen.«
Noch während Lady Melbourne sprach, winkte sie eine junge Dame zu sich, die in der Nähe stand. Kassandra nahm an, das Mädchen müsste in ihrem Alter sein. Obwohl man Annabella nicht als dick bezeichnen konnte, war sie keineswegs schlank, eher rundlich. An ihr wirkte alles rund – die Augen, die Wangen, der Busen. Sie hatte jene Art von Figur, die sicher zahlreiche Männer bewunderten. Und nach ihrer Miene zu schließen, war sie vernünftig genug, um ihre Tante zu respektieren.
Sofort beendete sie ihr Gespräch mit einem Gast und eilte beflissen herbei. »Ja, Tante Elizabeth?«
»Mein liebes Kind, ich möchte dich Ihrer Hoheit vorstellen, der Prinzessin Kassandra von Akora. Warum sollte ich dich sonst hierher beordern? Du solltest nicht so viel Zeit damit vergeuden, deine Nase in Bücher zu stecken, und stattdessen, die Welt ringsum wahrnehmen.« Nach diesem Tadel, den Annabella sicher schon sehr oft gehört hatte, wandte sich Lady Melbourne wieder zu Kassandra. »Meine Nichte ist sehr intelligent, wenn ich das sagen darf. Zum Beispiel hat sie ein ganz besonderes Talent für die Mathematik entwickelt, worin man sie natürlich nicht bestärken darf, weil es als unweiblich gilt. Annabella, auch die Prinzessin schwärmt für deine Miss Austen.«
»Meine Miss Austen ist sie wohl kaum, Tante.« Erfreut lächelte das Mädchen Kassandra an. »Wie schön, dass sie Ihnen gefällt, Prinzessin! Haben Sie wirklich etwas von ihr gelesen?«
»Oh ja, zumindest das eine Buch, das ich bekommen konnte. Gibt es noch andere?«
»Nein, nur Gerüchte, und ich fürchte, es wird mindestens ein Jahr dauern, bis das nächste Werk erscheint. Auf welche Weise haben Sie Miss Austen entdeckt?«
»Mein Bruder brachte mir ihren Roman von einer Reise nach England mit.«
»Wie nett von ihm! Was lesen Sie sonst noch?«
»Eigentlich alles. Da bin ich nicht wählerisch.«
»Kennen Sie Lord Byron? Sein Gedicht hat großes Aufsehen erregt.«
»Ja«, stimmte Kassandra vorsichtig zu, »es ist sehr – ausdrucksstark.«
»Damit hat er aller Welt bewiesen, welch ein genialer Geist ihn auszeichnet. Und ich muss zugeben – ich bin hingerissen.« Hastig fügte Annabella hinzu: »Natürlich von seinem Werk. Über ihn selbst weiß ich nicht viel.«
»Sind Sie ihm begegnet?«
Das Mädchen nickte. »Obwohl ich mich wahrlich nicht darum bemüht habe.«
Zunächst fand Kassandra diese Erklärung etwas verwirrend. Aber nachdem sie eine Zeit lang mit Lady Annabella Milbanke geplaudert hatte, begann sie zu verstehen, warum das Mädchen kein persönliches Interesse an dem ruhmreichen Poeten hegte.
Ein Raunen ging durch die Gästeschar, gefolgt von plötzlicher, atemloser Stille. Dann versammelten sich mehrere Leute am Eingang des Empfangsraums, und kurz danach hörte auch Kassandra, dass George Gordon, Lord Byron, soeben eingetroffen war.
Wenn sie auch eine gewisse Neugier verspürte – es drängte sie nicht, sich in das Getümmel der Bewunderer zu mischen, die einander beiseite schoben, um möglichst nahe an den Dichter heranzukommen. Dieses Ziel schien Annabella genauso wenig anzustreben, denn sie blieb an Kassandras Seite. Doch die Apfelbäckchen waren erblasst, und die runden Augen spiegelten einen inneren Konflikt zwischen Sehnsucht und Schrecken wider.
Wie Kassandra bald feststellte, war der Urheber dieser ganzen Aufregung ein Mann von Anfang zwanzig, etwas größer als sie selbst, gertenschlank und sonderbar gekleidet. Während die anderen Gentlemen dunkle Kniehosen, Fräcke und schmucklose Hemden trugen, bevorzugte Byron eine weite weiße Leinenhose, so weit geschnitten, dass man sie für einen Rock halten konnte, ein genauso ungewöhnliches voluminöses Hemd und eine bestickte Weste. Eine schwere Goldkette hing an seinem Hals.
Mit dieser Aufmachung sah er ebenso maskulin wie feminin aus und erweckte den Eindruck, beide Geschlechter wären in seinem Wesen vereint. Das galt auch für seine Gesichtszüge. Um die dichten dunklen Wimpern, die große graue Augen einrahmten, mochten ihn viele Frauen beneiden. Hingegen wirkte das kraftvolle Kinn eindeutig männlich.
Als er zu Lady Melbourne ging, bemerkte Kassandra, dass er sein rechtes Bein nachzog, und sie überlegte, ob er sich vor kurzem verletzt hatte. Aber dann entdeckte sie die dicke Schuhsohle, die offenbar eine Verformung des Fußes ausgleichen sollte.
Wie eigenartig – ein Mann, der seine anmutige Erscheinung so wichtig nahm, musste eine so auffallende Missbildung ertragen. Also steckte der »geniale Geist« voller Widersprüche.
»Lady Melbourne...« Schwungvoll beugte er sich über die Hand der Gastgeberin, während sein Blick bereits Kassandra suchte. »Es war so gütig von Ihnen, mich einzuladen.«
»Unsinn, mein lieber Junge«, erwiderte die Spinne mit einer Herzenswärme, die sie ihrer Nichte vorenthalten hatte. »Ich freue mich doch immer, Sie zu sehen. Hoffentlich befolgen Sie meinen Rat und achten inzwischen besser auf sich. Haben Sie heute schon etwas gegessen? Mit dieser grässlichen Diät schaden Sie Ihrer Gesundheit.«
»So sehr ich mich auch bemühe – es ist schwierig. All die Forderungen, die man an mich stellt...« Höflich lächelte er Annabella zu, schaute aber nicht in ihre, sondern in Kassandras Augen. Mit einer matten Geste in Lady Melbournes Richtung bat er: »Wenn Sie so freundlich wären...«
»Ja, selbstverständlich. Hoheit, darf ich Ihnen George Gordon, Lord Byron vorstellen? Zweifellos habt Ihr schon viel von ihm gehört.«
Kühle, glatte Finger umschlossen Kassandras Hand. Obwohl er sich nicht erlaubte, ihre Haut mit seinen Lippen zu berühren, spürte sie seinen Atem – warm, sogar heiß. Im Inneren des Poeten schien eine Flamme zu lodern. So intensiv, dass sie ihn zu verbrennen drohte?
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Lord Byron.«
Einige Sekunden lang antwortete er nicht und starrte sie nur an. Als er zu sprechen begann, stotterte er ein wenig, gewann aber nach den ersten Worten seine Fassung wieder. Trotzdem genügte ihr die kleine Unsicherheit, um ihr zu verraten, dass der scheinbar weltgewandte Künstler, dem die Londoner Gesellschaft zu Füßen lag, im Grunde seines Herzens ein schüchterner junger Mann war.
»Eh – nun – ah – Prinzessin – wie großmütig Sie sind! Offen gestanden, ich begreife nicht, dass irgendjemand von meiner armseligen Person Notiz nimmt, nachdem Sie in London angekommen sind. Alles, was mit Akora zusammenhängt, fasziniert mich. Wenn wir uns unterhalten könnten...«
»Gewiss werden sich viele Gelegenheiten ergeben«, erwiderte Kassandra unverbindlich. Auf keinen Fall würde sie ihm die private Begegnung versprechen, die er anscheinend erhoffte.
»Also werden Sie an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen?«
»Wenn es die Umstände gestatten.« Aus einem Augenwinkel sah sie Royce heranschlendern und seufzte erleichtert. »Ich bin aus familiären Gründen nach England gereist.«
»Ach – ja...«, murmelte Byron vage. »Aus familiären Gründen...« Er drehte sich zu Royce um. Und dann vermochte er seinen Blick nicht mehr von ihm loszureißen. Einen größeren Unterschied zwischen zwei Männern konnte es nicht geben. Während Byron kultiviert und sanft, sogar zerbrechlich wirkte, strahlte Royce unbesiegbare Kraft und Entschlossenheit aus. Niemals würde man an ihm auch nur die geringste Spur femininer Züge entdecken. »Oh, Lord Hawkforte!«, begrüßte ihn der Poet. »Wir sehen Sie viel zu selten auf diesen Partys.«
»Weil mich wichtigere Dinge beanspruchen«, entgegnete Royce in beinahe rüdem Ton.
Damit schien er Byron nicht zu entmutigen. »Was beschäftigt Sie denn so sehr? Wo wir doch in so banalen Zeiten leben...«
»In banalen Zeiten?«, wiederholte Royce.
Instinktiv berührte Kassandra seinen Arm, um ihn zu besänftigen. Das hätte jede Akoranerin getan, und – wie sie verwirrt erkannte – jeder Akoraner hätte sich genauso verhalten wie Royce. Schützend und zugleich besitzergreifend legte er seine Hand über ihre Finger, was Byron nicht entging.
»Ja«, betonte er und runzelte die Stirn, «völlig sinnlos, ohne jede Bedeutung. Natürlich gibt es Leute, die das nicht wahrhaben wollen.«
»Im Gegensatz zu Lord Byron, der das wahre Wesen der Realität erkennt?« Royce entspannte sich ein wenig. Jetzt lächelte er sogar, wenn auch spöttisch. »Nach meiner Ansicht stellt uns die Realität nicht in den Mittelpunkt aller Dinge, so eifrig das die Eitelkeit mancher Menschen auch anstreben mag. Die Wirklichkeit ist viel komplexer. Um sie zu erfassen und zu begreifen, müssen wir unseren Horizont erweitern.«
»Das ist nur ein Standpunkt«, mischte sich Lady Annabella ein. Bisher hatte sie geschwiegen, von Byron ignoriert. Aber nun verteidigte sie ihn. »Sie sind kein Künstler, Lord Hawkforte. Damit will ich Sie nicht herabwürdigen, denn Sie besitzen sicher sehr viele hervorragende Fähigkeiten. Aber Lord Byron sieht die Welt mit anderen Augen.«
Verblüfft wandte sich der Dichter zu ihr. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft nahm er sie zur Kenntnis. Aber es war Lady Melbournes Reaktion, die Kassandras Aufmerksamkeit fesselte. Die Spinne musterte ihre Nichte und den Poeten so begierig, wie sich ihre Namensvetterin auf eine saftige Fliege stürzen würde.
Was immer die Gastgeberin auch plante, sie wurde von einer jungen Frau gestört, die leichtfüßig herbeieilte und eher zu schweben als zu laufen schien. So klein und zierlich wirkte sie, dass Kassandra nicht überrascht gewesen wäre, hätte sie Flügel an dem schmalen Rücken erblickt. Große Augen beherrschten ein herzförmiges, von erstaunlich kurz geschnittenen, wilden Locken umrahmtes Gesicht. Seltsamerweise trug sie ein fast durchscheinendes Kleid, das mehr entblößte als verhüllte.
»Ich wusste gar nicht, dass du hier bist, Byron!«, rief sie empört. »Warum hat mir das niemand mitgeteilt?«
»Um Himmels willen«, murmelte der Poet und wandte sich Hilfe suchend zu Lady Melbourne.
Da wusste Kassandra, wer die unpassend gekleidete Elfe war – Lady Caroline Melbourne, die Schwiegertochter der Hausherrin. Erst vor wenigen Wochen hatte ihre Affäre mit Byron begonnen, entwickelte sich aber schon jetzt zu einem gewaltigen Skandal. Von Joanna über alle Einzelheiten informiert, war Kassandra schockiert gewesen – nicht wegen des Ehebruchs, sondern weil Caro Lamb ein öffentliches Spektakel aus dieser Liaison machte. Und nun wollte sie es offensichtlich fortsetzen.
»Dasch du heute Abend hierher kommen würdescht, hascht du mir nicht geschagt«, fügte sie in jenem lispelnden Tonfall hinzu, den manche Londoner Damen schick fanden. »Beinahe wäre ich ausgegangen! Also wirklich, du benimmst dich unmöglich!«
»Nicht so laut, Caro!«, fauchte Lady Melbourne. »Da Lord Byron dir seine Absicht verschwiegen hat, meine Soiree zu besuchen, wollte er dich vermutlich nicht sehen. Erwartest du etwa, dass er wie eine Klette an dir klebt? Auf diese Art wirst du das Interesse eines Mannes nicht schüren.«
Kassandra konnte es kaum glauben. Durfte sie ihren Ohren trauen? Erklärte Lady Melbourne ihrer Schwiegertochter, der Ehefrau ihres Sohnes, wie sie das Verhältnis mit Byron vertiefen sollte, statt sie energisch davon abzubringen? Dachte diese Frau nicht an die Ehre ihres Sohnes? Oder fand sie Caros Verhalten aufgrund ihrer eigenen fragwürdigen Vergangenheit normal? Immerhin hatte sie sechs Kinder von verschiedenen Vätern geboren.
»Ach, sei doch still!«, fuhr Lady Caroline ihre Schwiegermutter an. »Ich finde es grauenhaft, wie du George immer wieder dazu bringst, dir alle seine Geheimnisse anzuvertrauen. Und dann verdrehst du seine Worte, um einen Keil zwischen uns zu treiben. Du verstehst mich doch, Annabella?«, flehte sie ihre Kusine an. »Seit du nach London gekommen bist, sind wir die besten Freundinnen. Und du weißt, was in meinem Herzen vorgeht...«
»Zumindest weiß ich, dass du überreizt bist«, entgegnete Annabella. Falls sie auch nur ein bisschen Mitleid mit der Frau empfand, verbarg sie es höchst gekonnt. Weil sie eine Rivalin in ihr sieht und sich insgeheim ebenfalls um Byrons Gunst bemüht, vermutete Kassandra. »Am besten legst du dich hin.«
»Stellst du dich auch noch gegen mich!«, schrie Lady Caroline. Beide Hände auf den Busen gepresst, wankte sie, als würde sie in Ohnmacht fallen. »Das ertrage ich nicht!«
Lady Melbourne erhob sich. Erbost fixierte sie ihre Schwiegertochter. Dann winkte sie zwei Lakaien zu sich. »Vielleicht wirst du es anderswo etwas leichter ertragen.«
Vor den Augen eines sensationslüsternen Publikums wurde Lady Caroline aus dem Empfangsraum eskortiert. Schluchzend beklagte sie die Grausamkeit ihres Schicksals.
Sobald sie sich entfernt hatte, wurden die Gespräche fortgesetzt, als wäre nichts geschehen. Byron schwatzte mit Annabella und Lady Melbourne, und Kassandra stand fassungslos daneben.
»Haben Sie genug gesehen?«, fragte Royce leise.
»Schon viel zu viel«, flüsterte sie.
Wenige Minuten später saßen sie mit Joanna und Alex in der Kutsche. Zu ihrer maßlosen Erleichterung verschwand das Melbourne House im nächtlichen Dunkel.