Читать книгу Insel meiner Sehnsucht - Josie Litton - Страница 6
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ОглавлениеAber am nächsten Tag wurde Royce aufgehalten, bevor er die Londoner Residenz seiner Schwester und seines Schwagers besuchen konnte. Stattdessen ging er ins Carlton House. Der Prinzregent hatte ihn dorthin bestellt, überraschend früh für einen Mann, der den Großteil seiner Tage verschlief, weil er die Nächte möglichst intensiv genießen wollte.
Noch erstaunlicher war die mangelnde Eleganz des Prinzregenten, der normalerweise großen Wert auf seine äußere Erscheinung legte. Er trug immer noch dieselbe Hose und dasselbe Hemd wie am vorigen Abend. Jetzt wirkte seine Kleidung zerknittert und fleckig, und sein Haar erweckte den Anschein, als wäre es mehrmals zerzaust worden. Dies alles nahm Royce ebenso wahr wie das gedunsene Gesicht und die bebenden Lippen.
In ruhigem Ton begann er zu sprechen. »Majestät, Sie wollten mich sehen?«
Eine Zeit lang starrte der Prinzregent ihn verwirrt an, als könnte er sich nicht entsinnen, dass er ihn hierher bestellt hatte. Seine wässerigen Augen blinzelten, dann ergriff er ein Brandyglas und leerte es mit der Grimasse eines Mannes, der eine bittere Medizin schluckte.
»Ja, ja, natürlich«, murmelte er und bedeutete den Lakaien, den Raum zu verlassen. »Verschwindet! Dauernd lungern sie herum. Und nie sind sie zu irgendwas nütze.«
Geduldig stand Royce da, wartete und musterte den Mann, der mit der Aufgabe betraut war, England zu regieren. Seit der Prinzregent im vergangenen Herbst bei einem schottischen Volkstanz seinen Fußknöchel verletzt hatte, schritt sein körperlicher Verfall rapide voran. Monatelang hatte er das Bett gehütet, über seine Schmerzen geklagt und seine Ärzte beschimpft, weil sie unfähig gewesen waren, ihm zu helfen. Schon vorher korpulent, war er während des Müßiggangs immer dicker geworden, und er hatte mehr getrunken denn je. Was zu noch größerer Sorge Anlass gab – er hatte sich angewöhnt, Laudanum zu nehmen, und steigerte die Dosis fast täglich. Darunter litt nicht nur seine Gemütsverfassung, sondern auch sein Verstand.
»Diese verdammten Ludditen!«, murrte er. »Die ganze Nacht habe ich mir um die Ohren geschlagen und überlegt, was ich tun soll. Immerhin trage ich die Verantwortung für England. Was in Frankreich geschehen ist, darf sich hier nicht wiederholen.« Schaudernd schenkte er sich noch einen Brandy ein.
Solche Befürchtungen hatte er schon oft ausgesprochen, und Royce wusste, wie er damit umgehen musste. »Majestät, die Schreckensherrschaft liegt fast zwanzig Jahre zurück. Sollten gewisse Teile der englischen Bevölkerung etwas Ähnliches planen, hätte die Revolution schon längst stattgefunden.«
»Während der Regentschaft meines Vaters? Das hätte er niemals zugelassen. Er war überhaupt ziemlich unduldsam. Und jetzt habe ich das alles am Hals.« Prinny wollte aufstehen, besann sich aber anders und sank in seinen Sessel zurück. »Eigentlich dachte ich, Percevals neues Gesetz würde den Ludditen den Wind aus den Segeln nehmen. Welcher vernünftige Mann will denn sterben, nur weil er einen Webstuhl zertrümmert hat? Aber sie treiben’s immer ärger.«
»Weil sie verzweifelt sind«, warf Royce mit sanfter Stimme ein.
»Dann müssen sie eben härter arbeiten, um ihre Lage zu verbessern, nicht wahr? Wenn sie alles kurz und klein schlagen, wird es ihnen wohl kaum helfen.«
»Verzweifelte Menschen benehmen sich manchmal unvernünftig, Majestät.«
»Sieht so aus ...« Müde strich der Prinzregent über sein Gesicht.
»Falls ich mir erlauben darf, Ihnen einen Rat zu geben, Sire – Sie sollten sich ausruhen.«
»Oh Gott, was würde ich für einen erholsamen Nachtschlaf geben! Aber die Last meines Amtes ... Wahrscheinlich werde ich nie mehr inneren Frieden finden. Wie dem auch sei, kommen wir zur Sache, Hawkforte. Ich habe Sie aus einem ganz bestimmten Grund zu mir beordert.«
Bei seiner Ankunft und dem Anblick des derangierten Prinzregenten hatte Royce vermutet, es würde viel länger dauern, bis er erfuhr, worum es ging. Je früher er das hörte, desto besser. Dank des Tempos, in dem der Brandy durch die königliche Kehle floss, würde der Mann nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben.
Mit schmalen Augen schaute Prinny zu ihm auf. »Schon immer habe ich Sie – und früher Ihren Vater – für klüger gehalten als all die anderen Lords. Vielleicht neigen Sie zum Weitblick, weil Sie einer so alten Familie entstammen.«
»Ja, Majestät, das mag stimmen.«
»Glauben Sie immer noch, wir sollten Bonaparte besiegen?«
»Allerdings – denn Friedensverhandlungen mit Napoleon würden Großbritanniens Position in der Welt für lange Zeit schwächen.«
Der Prinzregent lachte heiser. »Wenn das Grey und die anderen bloß einsehen würden! Leider begreifen die vermaledeiten Whigs nicht, was es bedeuten würde, wenn England hinter Frankreich an zweiter Stelle stünde.«
»Wie Sie sicher wissen, Sire – in meinen Ansichten über notwendige Reformen stimme ich mit den Whigs überein.«
»Ja, ja, ja... Aber im Moment wäre es völlig sinnlos, darüber zu reden. Warum Sie glauben, in diesen unsicheren Zeiten könnte man Reformen durchführen, ist mir ein Rätsel. Jedenfalls beharren Sie auf diesem Standpunkt. Worauf es ankommt – man kennt Sie auf beiden Seiten. Und weil Sie Hawkforte heißen, wage ich zu behaupten, dass Ihnen beide vertrauen.«
Oder keine, dachte Royce. Doch diesen Gedanken behielt er für sich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Majestät.«
»Nein, einfach nur vernünftig. Ich brauche einen Mann wie Sie, der zwischen beiden Parteien vermitteln kann. Stellen Sie fest, was man tun kann, um die Situation zu entspannen und die Dinge wieder ins Lot zu bringen.«
Plötzlich erinnerte sich Royce an einen alten Kinderreim.
»Humpty Dumpty saß auf einer Mauer.
Humpty Dumpty fiel ganz tief hinab.
Humpty Dumpty kam nie mehr nach oben,
Obwohl sich eine Heerschar so viel Mühe drum gab.«
Aufgedunsen, mit blutunterlaufenen Augen, verkörperte Prinny einen erbärmlichen Humpty Dumpty. Trotzdem versprach Royce: »Ich werde mein Bestes tun, Sire.«
Kurz danach verließ er das Zimmer, von neugierigen Höflingen beobachtet, die wie üblich in der Nähe des Prinzregenten herumlungerten und seinem Besucher nicht mehr entlockten als eine knappe Antwort auf ihren eifrigen Gruß. Vor der königlichen Residenz blieb Royce stehen, wandte sein Gesicht zur Sonne und gönnte sich eine kurze Ruhepause, um nachzudenken. Was Prinny verlangte, war unerfüllbar. Doch das durfte man ihm natürlich nicht erklären. Vom geräuschvollen Londoner Straßenverkehr umgeben, wünschte er nicht zum ersten Mal, man würde eine Alternative zur Monarchie mit erblicher Thronfolge finden. Zumindest in England übte das Parlament eine beträchtliche Macht aus. Aber nach Royces Ansicht genügte das nicht. Frankreich hatte einen König durch einen Kaiser ersetzt – keine brauchbare Lösung. Und in Amerika experimentierte man mit dem Republikanismus, ein außergewöhnliches Wagnis. Ob es zum Erfolg führen würde, blieb abzuwarten. England musste eben einfach seinen eigenen Weg suchen.
Ein paar Sekunden lang erwog er, in einen seiner Clubs zu gehen. Aber sobald er dort erschien, wäre er dem hartnäckigen Versuch einiger Mitglieder ausgeliefert, ihn in ein Gespräch zu verwickeln – vorzugsweise über ein Thema, das später auf begierige Ohren in ganz London stoßen würde. Der Prinzregent hatte seine Geduld ohnehin schon zur Genüge strapaziert. Und so schlenderte er zum Strand, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Doch er war nicht überrascht, als ihn seine Schritte zu Rudolph Ackermanns Grafikhandlung führten.
Mr. A., wie er von seinen Kunden genannt werden wollte, machte gute Geschäfte, indem er den anscheinend unersättlichen Appetit der Öffentlichkeit auf politische Karikaturen nutzte. Im Schaufenster, vor dem Royce jetzt stand, wurden die neuesten dieser Werke ausgestellt. Er erwartete, die üblichen Bilder zu erblicken, die den Prinzregenten, aristokratische Gesellschaftsgrößen oder neureiche Bürgerliche verhöhnten. Sich selbst hatte er in dieser Auslage noch nie entdeckt und Mr. A. darauf hingewiesen. Da hatte der Mann erwidert, sogar in London würde es Leute geben, die er respektiere, und es dabei bewenden lassen.
Aber an diesem Morgen war das Schaufenster seltsamerweise fast leer. Nur eine einzige Zeichnung lehnte an einer kleinen Staffelei in der Mitte, von elegant drapierter Seide umgeben. Und es war nicht einmal eine Karikatur, sondern das Porträt einer jungen Frau mit langen dunklen Locken, einem bezaubernden Lächeln und Augen voller Klugheit und Herzenswärme.
Kassandra.
Einerseits war er verblüfft, andererseits nicht. Ihr Besuch im Carlton House hatte nicht nur die Aufmerksamkeit gehobener Kreise, sondern auch der breiten Öffentlichkeit erregt, die dazu neigte, außergewöhnliche Schönheiten sofort nach deren gesellschaftlichem Debüt auf den Thron des Ruhms zu heben. Und wie schön Kassandra war, zeigte das Porträt deutlich genug.
Wer mochte es gezeichnet haben? Einer von Madame Duprès Freunden, dem sie diesen speziellen Auftrag erteilt hatte? Ein Dienstbote im Carlton House, der seinen mageren Lohn aufbesserte? Oder ein Mitglied der besseren Gesellschaft, das seine Spielschulden begleichen musste?
Nicht, dass es eine Rolle spielte. Wie immer der Künstler hieß, er hatte großartige Arbeit geleistet. Je länger Royce das Bild anstarrte, desto klarer erkannte er, wie gut Kassandras Wesen getroffen war – ihre Natürlichkeit, ihr Humor, ihre Begeisterung für alles, was das Leben zu bieten hatte. Ganz zu schweigen von den vollen Lippen, dem schlanken Hals, dem Busenansatz am unteren Rand des Bilds, über dem angedeuteten Ausschnitt eines Kleids.
Die Tür prallte gegen die Wand, als er in das Geschäft und zum Ladentisch aus poliertem Mahagoni eilte, hinter dem ihn Mister A. zu erwarten schien.
»Guten Morgen, Mylord – ich dachte mir schon, dass Sie zu mir kommen würden. Eine wundervolle Zeichnung, meinen Sie nicht auch? Sicher kennen Sie die Prinzessin von Akora, nicht wahr? Natürlich, sie ist ja Ihre Schwägerin«, fügte der Ladenbesitzer hinzu, als würde ihm das eben erst einfallen. »Wenn man sich das vorstellt...«
»Würden Sie mir verraten, wer das Porträt gezeichnet hat?«
»Nun, was das betrifft – der Künstler zieht es vor, anonym zu bleiben.« Ausdrucksvoll zuckte Mister A. die Achseln, ein Mann von Welt, der einem anderen gegenüberstand. »Sie wissen ja, wie das ist.«
In der Tat. »Wie viel?«
Mit dieser Frage schien Royce den pfiffigen Geschäftsmann ausnahmsweise zu verwirren. »Wie, bitte?«
»Was soll das Bild kosten?«
Mister A. erholte sich erstaunlich schnell von seiner Überraschung und nannte einen Preis, über den jeder vernünftige Mensch gelacht hätte. Royce stimmte ohne Zögern zu, und der Ladeninhaber runzelte die Stirn. Offenbar hatte er sich auf eine amüsante Feilscherei gefreut. »Aber – Mylord, es ist nur eine Zeichnung.«
»Nehmen Sie das Geld, Rudolph.«
Dass Royce ihn mit dem Vornamen ansprach, was überdeutlich auf die langjährige Bekanntschaft hinwies, brachte Mister A. sichtlich aus dem Konzept. Langsam entgegnete er: »Da ich ein Ehrenmann bin, Mylord, würde mich mein Gewissen plagen.«
Royce lachte. »Dann spenden Sie die Summe eben für einen wohltätigen Zweck. In London gibt es weiß Gott genug Bedürftige.«
»Vielleicht könnte ich einen hungernden Künstler unterstützen...«
»Welch eine gute Idee! Die Zeichnung...«
»... gehört Ihnen, Mylord.«
Zufrieden verließ Royce den Laden. Er hatte beschlossen, nicht zu überlegen, warum er das Porträt gekauft hatte. So spontan verhielt er sich nur selten.
Bevor er in sein Haus zurückkehrte, widerstand er der Versuchung, das Bild zu betrachten. Erst in seinem Arbeitszimmer entfernte er die Schnur und das blaue Papier. Auf dieser sorgsamen Umhüllung hatte Mister A. bestanden. Eine Zeit lang starrte Royce die Zeichnung an – zweifellos ein gelungenes Porträt. Aber kein Ersatz für das Original.
Mister A. hatte es sich nicht nehmen lassen, auch die kleine Staffelei einzupacken. Dafür fand Royce einen Platz in einem der Bücherregale, die an allen vier Wanden vom Boden bis zur Decke reichten. Er platzierte das Bild so, dass er es von seinem Schreibtisch aus sehen konnte. Auch in diesem Fall weigerte er sich, seine Beweggründe zu erforschen.
»Er lässt sich entschuldigen«, erklärte Joanna, nachdem sie den kurzen Brief ihres Bruders gelesen hatte. »Da er ins Carlton House gerufen wurde, weiß er nicht, wann er Zeit finden wird, um uns zu besuchen.«
»Wie schade...« Kassandra schaute in den Spiegel. Irgendwie schaffte sie es, nicht zu seufzen. »Aber das verstehe ich natürlich.«
Joanna faltete den Briefbogen zusammen. »Anscheinend braucht der Prinzregent neuerdings viel Zuspruch, und ich fürchte, es geht ihm nicht gut.«
»Kein Wunder – die Verantwortung seiner Position lastet bleischwer auf seinen Schultern.«
Bestürzt hielt Joanna den Atem an. Dann fragte sie leise: »Sagst du das, weil du irgendeine Vision hast?«
»Nein«, erwiderte Kassandra überrascht. »Das verrät mir mein gesunder Menschenverstand. Ein Sohn, jahrelang im Schatten eines dominanten Vaters – nicht durch dessen Tod an die Macht gekommen, sondern weil eine mysteriöse Krankheit den König in den Wahnsinn getrieben hat. Wäre Shakespeare noch am Leben, würde er ein Drama darüber schreiben.«
»Vielleicht wird ein anderer Dichter das Thema aufgreifen.«
»Byron?« Kassandra lachte. »Oh, ich sehe ihn schon vor mir. Wie ein wiedergeborenes Insekt steigt er aus seinem Kokon empor und entdeckt eine Welt, die bisher jenseits seiner ichbezogenen Grenzen lag.«
Stöhnend schnitt Joanna eine Grimasse. »Das klingt ja schrecklich!«
»Gewiss. Aber missversteh mich nicht – es ist eine faszinierende Welt, viel jünger und unberechenbarer als Akora. Und ich bin so froh, dass ich hier bin.«
»Darüber freue ich mich auch.« Joanna umarmte ihre Schwägerin. Dann fuhr sie unvermittelt fort: »Das Baby, das meine Mutter verloren hat, ist ein Mädchen gewesen. Eigentlich sollte ich das gar nicht wissen. Aber ich weiß es. Und ich habe mich immer gefragt, wie es wäre, wenn ich eine Schwester hätte.«
Kassandra trat ein wenig zurück und schaute sie an. »Auf Akora bringt man jeden Sommer alle Mädchen, die im jeweiligen Jahr geboren worden sind, in den Tempel, wo sie ihren Segen erhalten. Für die Jungen gibt es einen anderen Ritus. Dieser besondere ist nur für das weibliche Geschlecht bestimmt. Wenn das kleine Mädchen eine ältere Schwester hat, nimmt sie die Zeremonie vor und träufelt geheiligtes Öl auf seine Stirn. Manchmal sind die Schwestern erst zwei oder drei Jahre alt. Aber sie erfüllen ihre Pflicht ernsthaft und feierlich.«
Auf Joannas Wangen glänzten Tränen, und Kassandra wischte sie mit einer Fingerspitze weg.
»Glaub mir, in deinem Herzen lebt deine Schwester. Mag sie auch nicht von dieser Welt sein – sie ist ein Kind der Schöpfung.«
»Besteht da ein Unterschied?«
»Oh ja,«, antwortete Kassandra lächelnd. »In der Schöpfung ist alles möglich, und alles existiert. Nur in dieser kleinen Welt werden uns Grenzen gesetzt.«
Joanna schaute ihr tief in die Augen, mit einer Intensität, die Kassandra nicht ignorieren konnte. Da entsann sie sich, dass auch ihre Schwägerin eine Gabe besaß – verschwundene Menschen und verlorene Dinge zu finden.
»Spürst du diese anderen Möglichkeiten?«, fragte Joanna.
»Hin und wieder. Hast du jemals zwei Spiegel so postiert, dass der eine die Reflexion des anderen zeigt?«
»So etwas habe ich bei Schneiderinnen beobachtet.«
»Unzählige Male siehst du dich selbst.«
»Aber das sind nur Spiegel.«
»Nein, es ist die Wahrheit. Aber genug davon, sonst bekommen wir noch Kopfschmerzen. Also kann Royce heute nicht zu uns kommen. Wie wollen wir uns amüsieren?«
»So ungern ich es auch erwähne – Madame Duprès ...«, begann Joanna.
»Erst einmal muss ich dich um einen Gefallen bitten.«
»Natürlich, was immer du willst.«
»Eine deiner Dienerinnen heißt Sarah. Da sie so groß wie ich ist und etwa die gleiche Figur hat, würde ich sie gern beauftragen, bei der nächsten Anprobe meinen Platz einzunehmen.«
»Was für eine ausgezeichnete Idee! Dann hätten wir Zeit, um...«
»... um zu tun, was uns gefällt. Aber keine Frau soll leiden, ohne entschädigt zu werden. Wie ich herausgefunden habe, fühlt sich Sarah zu einem jungen Diener hingezogen. Da dachte ich, ein hübsches neues Kleid...«
»Wunderbar! Das werde ich Mrs. Mulridge sagen. Sie wird zwar murren, aber ein Kleid für Sarah beschaffen. Und jetzt erzähl mir, wohin du am liebsten gehen würdest.«
»Überallhin«, erwiderte Kassandra. Dann fügte sie hastig hinzu: »Aber du darfst dich nicht zu sehr anstrengen.«
»Keine Bange, ich werde unseren Ausflug genießen – insbesondere, wenn wir das Gunter’s besuchen...«
»... und Eiscreme essen? Oh, das wäre himmlisch!«
Sie machten sich zu Fuß auf den Weg, denn die Konditorei lag nicht weit entfernt, und beide wollten frische Luft schöpfen. So gut sie es vermochten, ignorierten sie die Wachtposten, die ihnen folgten – eine stumme Warnung, an alle gerichtet, die töricht genug wären, die jungen Damen zu behelligen.
Am Berkeley Square angekommen, gingen sie in die berühmte Konditorei und fühlten sich herrlich genusssüchtig, weil jede eine große Papiertüte voller kandierter Früchte, Marzipan- und Nougatbonbons, Pastillen und Toffees kaufte. Auch die Leibwächter wurden mit Süßigkeiten beschenkt, die sie dankbar und erfreut entgegennahmen.
Nachdem die zwei Frauen voller Hingabe große Portionen Eiscreme verspeist hatten, schlenderten sie zum Strand. Dort beobachteten sie, wie das Schaufenster von Ackermanns Grafikgeschäft mit neuen Karikaturen dekoriert wurde. »Seltsam«, bemerkte Joanna, »normalerweise wird die Auslage am frühen Morgen hergerichtet.«
Arm in Arm wanderten sie die Bond Street entlang und besuchten einige Läden. Eigentlich wollten sie sich nur umsehen. Aber Joanna fand ein Babyhäubchen, mit winzigen Veilchen bestickt, dem sie nicht widerstehen konnte.
Am späteren Nachmittag kehrten sie zur Mayfair-Residenz zurück, und als sie in die Halle traten, hörten sie Schwerter klirren.
Die weißen Leinenhemden klebten schweißnass an den breiten Schultern der beiden Männer. Unter dem weichen Stoff der Hosen zeichneten sich schmale Hüften und muskulöse Schenkel ab. Einen Arm erhoben, standen sie einander gegenüber, in anmutigen Posen, die an Balletttänzer erinnerten. Für einen Augenblick schienen sie im Lichtschein zu erstarren, der durch das Fenster unter der hohen Decke der Galerie herabfiel und die Ahnenporträts erhellte. Mit stoischen Mienen verfolgten die gemalten Gesichter den Kampf.
Dann warf Royce sein dichtes Haar in den Nacken und ging zum Angriff über.
Stahl traf auf Stahl, als Alex die Attacke parierte. Verbissen fochten sie, tänzelten in der langen Galerie hin und her, fintierten, attackierten, wehrten kraftvolle Schwerthiebe ab. Keiner gab sich geschlagen. Und keiner erwartete es von seinem Gegner.
»Nicht schlecht«, keuchte Alex, nachdem er Royces Klinge mit seiner eigenen beiseite geschlagen hatte. »Aber nicht gut genug.«
»Wirklich nicht? Und das?«
Wieder klirrten die Waffen, und das bedrohliche Duell faszinierte Kassandra, obwohl sie um die Sicherheit der Männer bangte. Sie stand mit Joanna an der Brüstung eines Balkons oberhalb der lang gestreckten Galerie, auf dem Musiker für eine andere Art von Tänzern aufzuspielen pflegten.
»Fechten sie oft?«, fragte Kassandra – unfähig, ihren Blick von den Männern loszureißen.
»Oft genug«, erwiderte Joanna leise. »Sind sie nicht großartig?«
Kassandra schaute noch eine Weile zu, bevor sie nickte. »Welch ein Glück, dass sie nicht verfeindet sind...«
Während sich die Klingen wieder einmal kreuzten, schaute Royce zufällig zum Balkon hinüber und sah die Frauen. Da trat er zurück und wies Alex auf seine Entdeckung hin. Beide Männer ließen die Waffen sinken, und Alex drehte sich um. »Ah, da seid ihr wieder! Wie war’s im Gunter’s?«
»Stickig«, antwortete Joanna. »Und wir haben unserer Naschsucht viel zu hemmungslos gefrönt.«
»Was zu erwarten war«, meinte Royce. »Hoffentlich haben wir euch nicht beunruhigt.« Er schaute Kassandra an, die seinen Blick möglichst gleichgültig erwiderte, obwohl ihr Herz wie rasend schlug. Nur widerstrebend wandte sie sich ab und folgte Joanna die Treppe hinab.
Als sie die Galerie erreichten, fragte Joanna: »Warum sollte es mich beunruhigen, wenn mein Ehemann und mein Bruder einander zu erstechen suchen?«
»Es ist nur ein Spiel, das weißt du doch«, verteidigte sich Alex. »Dabei entspannen wir uns.«
»Wenn ihr nicht entspannt wärt, würde ich euch gar nicht zusehen«, konterte Joanna. Aber sie lächelte zärtlich. Zwischen den Eheleuten herrschten eine Liebe und ein Einvernehmen, so vollkommen, dass Kassandra die Lider senkte, denn sie wollte nicht in eine Welt eindringen, die nur ihnen gehörte.
Offenbar hegte Royce ähnliche Bedenken. Nachdem er das Paar kurz gemustert hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Kassandra. »Und wie hat Ihnen der Stadtbummel gefallen?«
»Sehr gut! Alles war beinahe so, wie ich’s mir vorgestellt habe – nur viel schöner. London ist einfach grandios.«
»Dank Ihres Überschwangs wird der Enthusiasmus noch in Mode kommen.«
»Glauben Sie?« Was sie sagte, nahm sie kaum wahr, denn seine Nähe drohte sie zu überwältigen. Das Schwert in der Hand, stand er vor ihr, das Hemd an die kraftvollen Muskeln seiner Brust und der Arme geschmiegt. In diesem Moment glich er den akoranischen Kriegern, die sie zusammen mit anderen jungen Mädchen verstohlen beobachtet hatte, wenn sie heimlich zum Exerzierplatz geschlichen waren. Hinter vorgehaltener Hand hatten sie verlegen gekichert, wenn sie entdeckt worden waren und die bewundernden Blicke der Kämpfer genossen.
Und doch war Royce ein Brite, vom goldblonden Scheitel bis zu den glänzend polierten Stiefeln.
Ein britischer Lord, der beinahe in einem akoranischen Gefängnis gestorben wäre. Danach hatte seine Schwester in die königliche Familie von Akora eingeheiratet, mit seiner vorbehaltlosen Zustimmung. Oder es sah nur so aus. Alex akzeptierte ihn als vertrauenswürdigen Freund. Inbrünstig wünschte Kassandra, sie könnte sich auf die Menschenkenntnis ihres Bruders verlassen, und Royce wäre tatsächlich so rechtschaffen und ehrlich, wie er ihr erschien. So viel stand auf dem Spiel – ihr Land – ihr Volk – Leben oder Tod für die Menschen, die sie liebte. Und jetzt komplizierten ihre unerwarteten Gefühle eine ohnehin schon schwierige Situation.
»Stimmt etwas nicht?« Royce wollte ihren Arm ergreifen, und sie wich hastig zurück. Verwundert runzelte er die Stirn, ebenso wie Alex, der die kleine Szene beobachtet hatte.
»Kassandra...?«, begann ihr Bruder.
»Verzeiht mir«, bat sie und versuchte, ihr Unbehagen mit einem Lächeln zu überspielen. »Es war ein fabelhafter Tag. Aber nun zehrt die ganze Aufregung allmählich an meinen Kräften.« Das klang so unaufrichtig, zumindest in ihren eigenen Ohren, dass sie beinahe fürchtete, Alex würde sie eine Lügnerin nennen.
Stattdessen musterte er sie besorgt.
»Nun musst du dich ausruhen«, entschied Joanna.
Zerknirscht, weil sie eine Rücksichtnahme beanspruchte, die eher ihrer hochschwangeren Schwägerin zustehen würde, folgte Kassandra ihr nach oben. Natürlich würde sie kein Auge zutun. Sie wollte nur eine Zeit lang allein bleiben, um ihre Gedanken zu ordnen. Noch nie im Leben hatte sie sich von einem Mann betören lassen. Damit würde sie auch jetzt nicht anfangen, ganz egal, wie attraktiv Royce Hawkforte sein mochte.
»Sind dir die Süßigkeiten nicht bekommen?«, fragte Joanna, als sie Kassandras Schlafzimmer betraten. »Wenn du an Magenbeschwerden leidest, kann dir Mrs. Mulridge eine Medizin bringen. Oder Elena wird sich um dich kümmern, wenn du das vorziehst.«
»Oh nein, danke – das ist nicht nötig«, versicherte Kassandra. »Es geht mir gut.«
»Wirklich?«
»Ja, ganz bestimmt. Sorg dich nicht um mich. Außerdem – solltest du dich nicht auch ausruhen?«
»Eigentlich schon«, gab Joanna zu. »Falls du irgendetwas brauchst...«
»Dann läute ich, und eines deiner tüchtigen Dienstmädchen wird sofort zu mir eilen.«
Besänftigt verließ Joanna den Raum. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schlüpfte Kassandra aus ihren Schuhen – was für grässliche Folterwerkzeuge, vorn zugespitzt, mit keilförmigen Absätzen! – und sank seufzend auf das Bett.
Ihr Verhalten erfüllte sie nicht mit Stolz. Wahrlich nicht. Wie sie sich eingestand, war sie vor Royce Hawkforte und der Sehnsucht geflohen, die er in ihr weckte. Und jetzt versteckte sie sich in ihrem Schlafzimmer, um ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen, bevor sie ihm wieder gegenübertrat. So durfte sich eine Prinzessin von Akora nicht benehmen.
Nachdem sie sich energisch ermahnt hatte, nahm sie ein erfrischendes Bad, das ihre Gemütslage aber nicht verbesserte. Als sie nach unten ging, läutete die Uhr am Treppenabsatz viermal. Gerade rechtzeitig zum Tee traf sie im Salon ein.
Joanna saß auf dem Sofa, ein silbernes Teeservice vor sich. In der Nähe standen Royce und Alex. Keinem der beiden Männer war die körperliche Anstrengung des Fechtkampfs anzumerken.
Natürlich wusste Kassandra, dass Royce ebenso wie ihr Bruder das Herz eines Kriegers besaß. Das durfte sie nicht vergessen. Sie nahm neben Joanna Platz. Nach ihrem Befinden befragt, antwortete sie, noch besser könnte sie sich gar nicht fühlen.
»Sehr gut.« Joanna reichte ihr eine zierliche Meißener Tasse, mit Earl Grey gefüllt, und ein Stück Zitronenkuchen. »Jeden Augenblick müsste Monsieur Maurice eintreffen.«
»Monsieur Maurice?«
»Der Tanzlehrer.« Bedauernd zuckte Joanna die Achseln. »Das lässt sich leider nicht vermeiden. Bei den meisten gesellschaftlichen Veranstaltungen herrscht ein so dichtes Gedränge, dass man gar nicht tanzen kann. Aber früher oder später wirst du’s dir wünschen. Also solltest du die richtigen Schritte lernen.«
»Wieso sind die Briten inmitten eines langen, blutigen Kriegs gegen Frankreich so besessen vom französischen Stil? Französische Mode, französische Weine, französische Tänze. Gibt es irgendwas Französisches, das die Engländer nicht begeistert? Von Napoleon natürlich abgesehen.«
»Nun, daran erkennen Sie, was für ein widersprüchliches Volk wir sind, Kassandra«, bemerkte Royce und nahm eine Tasse Tee von seiner Schwester entgegen. »Aber man muss unserem Volk zubilligen – es gibt sehr viele Engländer, die gar nichts von den Franzosen halten.«
Zum ersten Mal, seit Kassandra den Salon betreten hatte, sah sie ihn an. Die Intensität, mit der er ihren Blick erwiderte, verwirrte sie. Viel zu tief schien er in ihre Seele zu schauen. Mit einiger Mühe brachte sie ein Lächeln zustande. »Solche Leute zeigen sich wohl kaum am königlichen Hof.«
»Im Allgemeinen nicht. Joanna hat mir erzählt, im akoranischen Palast würden andere Sitten herrschen. Da geht jeder ein und aus.«
»Ja, das stimmt. Um ein akoranisches Sprichwort zu zitieren – wenn man jemanden treffen will, wartet man am besten im Palast, denn dort wird er früher oder später erscheinen.« Dann fasste sie Mut und fügte hinzu: »Wie schade, dass Sie nach Ihrer Befreiung nicht ein bisschen länger auf Akora geblieben sind! Andererseits verstehe ich Ihren Wunsch, möglichst schnell heimzukehren. Ich fürchte, Sie konnten uns nicht so kennen lernen, wie wir wirklich sind. Und Sie haben den allerschlimmsten Eindruck gewonnen.«
Nur am Rande nahm sie Alex und Joannas Überraschung wahr, als sie ein so heikles Thema anschnitt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Royces Reaktion.
Er stellte seine Teetasse auf das Kaminsims und nickte. »Weil ich glaubte, der Vanax wäre für meine Gefangenschaft verantwortlich, reiste ich so schnell wie möglich ab. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, trifft ihn keine Schuld.«
Entschlossen hakte Kassandra nach. »Dann hegt Ihr keinen Groll mehr gegen mein Volk?«
Unbehaglich rutschte Joanna auf dem Sofa umher, und Alex runzelte die Stirn. Er wollte sich einmischen, aber Royce kam ihm zuvor. »Ich zürne den Gegnern Ihres Bruders, die mir das alles antaten. Bedauerlicherweise dürfte der Anführer im letzten Jahr ertrunken sein. Seither scheinen die Rebellen nichts mehr zu unternehmen, und so muss ich vermutlich auf meine Rache verzichten.« Sein Lächeln ließ ihr Herz höher schlagen. »Sind Sie jetzt beruhigt, Prinzessin?«
Gewiss, was diesen Punkt betraf. Umso heftiger beunruhigten sie die Emotionen, die er in ihr weckte. Und so suchte sie Ausflüchte. »Haben wir nicht vereinbart, Sie würden mich Kassandra nennen?«
»Natürlich, verzeihen Sie mir. Und nun möchte ich Sie um einen Gefallen bitten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Da sie ihn so freimütig herausgefordert hatte, schuldete sie ihm eine Entschädigung. »Was kann ich für Sie tun, Royce?«
»Wie ich hörte, möchten Sie Walzer tanzen lernen.«
Plötzlich fühlten sich ihre Beine bleischwer an – sicher nicht wegen des mutwilligen Ausdrucks in seinen Augen... »Ja, das habe ich erwähnt.«
»Darf ich mich in aller Bescheidenheit als Tanzpartner anbieten?«
»Und wie wollen wir tanzen – ohne Musik?«
Dieses Problem wurde gelöst, denn wenige Minuten später erschien Monsieur Maurice, begleitet von einem halben Dutzend Musiker, die sich prompt im großen Ballsaal postierten. Royce reichte Kassandra seinen Arm. Während Joanna an einem der Fenster saß, die zum Garten hinausgingen, und wohlwollend lächelte, stand Alex neben ihr. Seine Hand lag auf ihrer Schulter, eine Besitz ergreifende und zugleich tröstliche Geste. Nachdenklich beobachtete er seine Schwester und den Engländer, mit dem sie tanzte.
Und sie tanzten und tanzten und tanzten. Gewissenhaft befolgten sie Monsieurs Anweisungen. Offenbar war er ein echter Franzose, denn er schien die Keime einer Amour mit geübtem Auge zu erkennen. Bald verwandelten sich seine Instruktionen in sanfte, ermutigende Worte.
Aber Kassandra brauchte keine Ermutigung. Selbstvergessen überließ sie sich dem warmen Druck der Hand, die ihre festhielt, dem Arm, der ihre Taille umfing, der Nähe des Mannes, der ihre Sinne so unwiderstehlich betörte. Als wäre sie mit ihm eins geworden, glaubte sie, durch den Ballsaal zu schweben, im London ihrer Träume.