Читать книгу 99,9 % - Buch 2 - Jozi Salzberg - Страница 10
Benek
ОглавлениеBenek glaubt nicht, was er da sieht: eine unverschlüsselte Nachricht aus dem Untergrund an den Kommandanten hat er abgefangen. Die Router führen zu einer Adresse in der Schönbrunner Straße. Die E-Mail ist kurz gehalten „Lebe noch. Deine Tochter.“
Erstens hat Benek und niemand im Computer-Zentrum je etwas davon gehört, dass der Geier eine Tochter hat und zweitens bedeutet das nichts Gutes für die 99,9 %. Die Frage ist: Weiß Mun-Dong von einer Tochter seines Kommandanten, weiß er davon, dass sie in die Untergrundbewegung eingeschleust worden ist und weswegen? Wenn nicht, und man verwendet das Wissen geschickt, dann könnte der eine Narziss den anderen vernichten. Dann könnte Mun-Dong den Geier des Verrats bezichtigen, der Kollaboration mit dem Feind.
Benek fühlt seine Machtlosigkeit in Verzweiflung umschlagen. Er fährt mit den Fingern durch sein Haar, streicht dann mit dem Daumen und dem Zeigefinger – von der Mitte der Stirn über die Brauen, umklammert an deren Ende seine Schläfen, aber verstecken kann er sich nicht. Die 99,9 % kann er nicht warnen. Seine Position ist zu schwach, um mit einer Intrige punkten zu können. Oder ist es vielleicht so, dass er gerade deswegen punkten könnte, dass gerade seine Schwäche für ihn spricht und Mun-Dong ihm glauben würde? Ein Hoffnungsschimmer am Horizont? Es kann die Zeit kommen, und er benötigt eine Handhabe gegen den Geier. Dann hätte er etwas in der Hand, um seine Tochter aus den Klauen der Geier-Schwester zu befreien. Er veranlasst also, dass alle Nachrichten von dem Server, bei dem er die charakteristischen Traffics festgestellt hat, bei ihm vorbeilaufen. Zweitens installiert er einen Filter. Die E-Mails, welche mit „Deine Tochter“ unterschrieben sind, wird das Programm künftig für ihn herausfischen. Dann wird man weitersehen.
Benek beschließt ein Schachspiel der Gedanken zu veranstalten. Nach einem kurzen, aber intensivem Durchdenken der Situation, wagt Benek lieber gleich den ersten Schritt, leitet die abgefangene Nachricht besser sofort an die persönliche E-Mail-Adresse von Mun-Dong weiter. Als Leiter der Computerabteilung ist zwar sein unmittelbarer Chef der Geier, aber für wichtige Fälle besitzt Benek die E-Mail-Adresse des Obersten. Es hat so seine Vorteile, eine höhere Position zu bekleiden, und sei sie auch mit Zwang verbunden.
Benek hat keine Macht im Alltagsgeschehen der Nullen, genauso wenig Macht hat er wie andere „Sklaven“ (denn nichts anderes sind die erpressten Leistungen der unzähligen DienstleisterInnen der Nullen aus Beneks Sicht). Sollte der Kommandant den Einsatz seiner Tochter mit seinem Herrn und Meister abgesprochen haben, dann wird ihn der Kommandant „absägen“, das ist ihm klar. Es ist sehr riskant, was er da tut. Hoffentlich irrt er sich nicht. Sollte jedoch Mun-Dong „anbeißen“, hätte er, Benek, viel gewonnen. Seine erste, in Englisch verfasste Nachricht ist knapp gehalten. Der Informatiker wählt die Muttersprache des Mannes, weil er hofft, der Text würde dem Vorgesetzten dann eher „ins Auge springen“. Das automatische Übersetzungstool könnte fehlerhaft sein, daher … Unklare Äußerungen könnte Mun Dong in den Papierkorb verfrachten. Die Gefahr ist, dass so eine Nachricht dem Mann „Topfen“ ist, wie man in Österreich gerne sagt, wenn einem etwas gleichgültig ist. Benek geht lieber auf Nummer sicher, es ist ihm nämlich nicht bekannt, ob der Australier der Österreichischen Sprache überhaupt mächtig ist oder sich des Übersetzungstools bedient.
Benek schreibt erklärend an Mun Dong, er leite diese aufgefangene E-Mail an ihn weiter, weil es „mit hoher Wahrscheinlichkeit für den sehr verehrten Mr. Mun-Dong“ wichtig sein könnte. Zurückschreiben wird ihm der Ober-Macho kaum, glaubt Benek, obwohl er als Verantwortlicher Leiter der Abteilung die E-Mail signiert hat. Die nächsten Tage verbringt er in großer Anspannung. Doch Gott-sei-Dank, nichts geschieht. Der Kommandant ließ ihn nicht in den Kerker werfen, also wurde der Geier nicht wegen der Sache von Mun Dong befragt. Nie und nimmer hat Mun Dong diese E-Mail übersehen. Man weiß, wie misstrauisch er ist. Das kann nur heißen, hofft Benek, dass Mun-Dongs Misstrauen gegenüber seinem obersten langjährigen Handlanger tatsächlich geweckt worden ist. Bösewicht Nummer Eins belauert Bösewicht Nummer Zwei.