Читать книгу 99,9 % - Buch 2 - Jozi Salzberg - Страница 5
Trügerisch
Оглавление2027. Wien. Großgruppe Meidling und Schönbrunn. Auf dem Weg durch den Speisesaal der Meidlinger Gruppe der Wiener 99,9 % (in der einstigen Tiefgarage) fällt Sieben ein neues Gesicht auf. Ein Kind? Sieben war noch nie schüchtern, also geht sie schnurstracks zum Tisch der Familie von „Bufo“, der Goldkröte (Bufo periglenes) und deren Mann Toni, den Sieben noch gar nicht zurück vermutet hat, nachdem er noch vorhin an den Söldnern Schießübungen veranstaltet hatte.
„Bienchen“ heiße das neue Familienmitglied, stellt Toni freudestrahlend sein neues Familienmitglied vor. Wie ausgewechselt ist er, der oft so zornige, in seinem Unglück verzweifelte Silberlöwe. Man sieht ihm an, dass an diesem Kind sein Herz hängt, dass das pure Glück in sein Leben zurück gekehrt ist. In Sieben wallt eine tiefe warme Freude auf. Toni hat das Familienglück endlich gefunden.
Kluge blaue Augen taxieren Sieben, bis das zarte Wesen den Blick senkt, als wäre es ein bisschen schüchtern, was ihr Sieben nicht ganz abnimmt. Aus der Nähe schätzt Sieben die junge Frau auf dreißig Jahre. Wegen der zierlichen Gestalt und der zarten, bleichen, unglaublich reinen Haut wirkt sie aber wie ein Kind. „Wo bleiben die unzähligen Sommersprossen, die sonst bei Rothaarigen die Nase zieren?“ geht es Sieben durch den Kopf. Sie hat sie wohl in den „guten Jahren“ in einer der unzähligen Schönheitspraxen weg „lasern“ lassen. Geziert reicht die Junge der Älteren eine gepflegte Hand mit perfekt manikürten Nägeln. Kokett wirft sie ihr langes, gepflegtes, karottenrotes Haar zurück. Ein wenig verwundert es Sieben, dass jemand im Untergrund die Muße hat, so langes, offenes Haar zu pflegen und sich trotz der verschiedenen Arbeitseinsätze so zarte Hände zu bewahren. Das schöne Kind wird halt ein wenig eitel sein, was nicht weiter stört. Ein junger Mann wird eine Freude an ihr haben. Die Gemeinschaft auch, denn Kinder sind höchst willkommen.
Der sonst wortkarge Toni erzählt eifrig, wie er das verletzte Bienchen an der Grenze zwischen dem sechsten und dem ersten Bezirk entdeckt hat. Sie lag da, angeschossen, liegen gelassen zum Verbluten, nachdem sie ihrem Sklavenhalter, dem steinalten australo-asiatischen Bin Mun Dong und seiner blutjungen afro-europäischen Frau Ruby davongelaufen war. Mitleid wallt in Sieben auf. Härte und Brutalität wird insbesondere mit Mun-Dong (wie er landläufig genannt wird), dem Medienmogul, in Verbindung gebracht. Mit eiserner Hand hat er sein Familien-Imperium aufgebaut, das ist bekannt.
Aber „Gott sei Dank“ seufzt Toni erleichtert auf, es sei bei Bienchen nur ein Streifschuss gewesen. Sieben überlegt, dass Bin und Ruby zu der jungen Frau nicht brutal gewesen sein können, sie sieht weder verhärmt noch unterernährt aus, vielmehr wiff, taff und sehr gepflegt. An eine fleißiges Honigbiene erinnert das schöne Kind eigentlich nicht, vielmehr an andere Hexapodae, an den winzigen, haarigen, orangen Springschwanz vielleicht. Sieben beschließt insgeheim, den Neuzugang nach der Überklasse der Sechsfüßer einfach „kleine Hex'“ zu nennen – das ist keineswegs böse gemeint, höchstens belustigt es sie ein wenig.
Toni berichtet, er hätte die Ohnmächtige zunächst mit einem Kind verwechselt. Im ersten Moment dachte er, dass seine kleine Enkelin doch irgendwie überlebt haben könnte und nun vor ihm liege. Schließlich trug man ihn selbst damals schwer verletzt vom Unglücksort, sodass er es nicht einmal bemerkt hätte, falls jemand seine innigst geliebte Enkelin gerettet hätte. Beim Begräbnis seiner Kleinen war er nicht dabei, damals lag er noch im künstlichen Tiefschlaf. Kein Wunder, dass ihn der Zweifel übermannte, als er die kleine Elfe sah, die seiner Kleinen so ähnlich sah. So sehr verwirrte ihn das rote Haar. Dasselbe Haar hatte seine Enkeltochter. Sieben freut sich ungeheuer für Toni und grinst breit. Da fällt ihr Blick auf Bufo, die bisher kein Wort gesagt hat. In Bufos Augen schwimmen Tränen. Doch Toni bemerkt sie nicht. Die Familie wird noch einiges klären müssen, wird es Sieben klar. Peinlich berührt verabschiedet sie sich hastig von den Freunden und Kampfgefährten, nickt dem neuen Mitglied der Familie kurz zu und verlässt das Grüppchen. Bufo weint nicht leicht, der Tod der ihrigen ließ sie zu einer Kampfmaschine abstumpfen, meinen manche. Aber Sieben kennt die Freundin besser. Beide denken sie ähnlich. Bufo meinte einmal resigniert, ja todtraurig, Geschehenes könne sie nicht Ungeschehen machen, nur neuerliche Tode der jungen Leute würde sie mit allen Mitteln verhindern. Das ist tatsächlich ihre „Spezialität“. Meistens lässt sich sich zum Schutz der „Jungen Spezies“ in den äußeren Bereichen des Untergrunds einteilen. Ihr Werk vollbringt sie gern im Stillen – ganz anders als ihr Ehemann Toni, der buchstäblich das explosive Getöse liebt. Wird eine Gruppe angegriffen, geht Bufo kalt, brutal, pragmatisch vor. Sie würde eher sterben, als zuzulassen, ein junges Leben an die Zeros zu verlieren. Für diese Fähigkeit und für diese Bereitschaft wird Bufo von ihrer Gemeinschaft hoch geachtet und geliebt. Darin findet sie Trost. Die alte Kampfgefährtin ist unverbrüchlich treu und hundertprozentig zuverlässig, und sie hat stets Augenmaß bewiesen – ganz anders als ihr cholerischer Ehemann, dessen Wüten sie mehr als einmal eingedämmt hat. Sieben fängt zu grübeln an. Ihr erster Gedanke war vielleicht kurzsichtig. Könnte Bufo wirklich fürchten, Toni würde das Andenken der getöteten kleinen Enkelin gegen die lebende Adoptivtochter eintauschen? Diese Eifersucht traut sie bei näherem Augenschein der Freundin nicht zu. Was hat Bufos Tränen aber dann ausgelöst? Nun ja, es ist nicht Siebens Sache, ruft sie sich zur Ordnung. Sie würde auch nicht in die Freundin dringen, mit ihr ihre Sorgen zu besprechen. Nein, das liegt ihr fern. Die Freundin würde sprechen, falls und sobald die Zeit reif wäre. Sieben muss sich anderen Aufgaben zuwenden. Es wird ohnehin langsam Zeit, sich in den Versammlungsraum zu begeben.
Sieben schlendert durch den Saal und grüßt im Vorbeigehen die Mitglieder ihrer Großfamilie. Auf einmal tippt ihr jemand auf die Schulter. Sieben dreht sich um und blickt in die blauen Augen ihrer langjährigen, innig geliebten Freundin Gina. Nun erkennt Sieben den Grund für das Strahlen. Arm in Arm steht die Freundin mit einem schwarzhaarigen Mann mit ebenso blauen Augen wie die eigenen – als wären Geschwister vor sie getreten, staunt Sieben. Ginas schwarze Locken tanzen, während sie ihren neuen Freund Merino vorstellt. Sieben ist hoch erfreut, ja entzückt, denn die Freundin hatte bisher kein Glück mit den Männern. Allein hat sie ihren Sohn großgezogen, hatte keine Hilfe vom Kindesvater gehabt, auch nicht von ihrer Ursprungsfamilie, im Gegenteil. Aber Gina ist eine Kämpferin. Sie hat es auch so geschafft. Für diese Leistung bewundert Sieben die Freundin und schenkt ihr das uneingeschränkte Vertrauen. Ja, Gina ist eine enge Vertraute, eine Schwester.
In den vielen Jahren im Bauch von Wien half die Untergrundfamilie der Alleinerzieherin, wenn es nötig war. Das ist klar. Doch der Sohn ist nun fast erwachsen. Und kein Mensch will allein durchs Leben gehen. Diesmal hofft Sieben, es möge der „Richtige“ sein für diese herzensgute und mutige Frau. Sie hat ein wenig Glück verdient – was heißt ein wenig?! Unmengen davon hätte sie verdient, korrigiert sich die Freundin begeistert. Sie umarmt diese beiden „Kelten“ - die sich bücken müssen (denn sie sind überragen Sieben um Haupteslänge) und wünscht ihnen Glück, so viel Glück, wie sie benötigen würden – meint sie schmunzelnd. Nein, Merino stamme aus Griechenland, er könne kein Kelte sein, meint Gina lächelnd. „Egal! Hauptsache viel Glück! Aber wenn man Euch so anschaut, sind gute Wünsche nicht mehr nötig - Ihr habt das Glück schon eingefangen“, neckt sie die Verliebten. Leider wird Gina die Großfamilie mit diesem Mann verlassen. Merino möchte zu seiner Kleinfamilie im Norden Wiens zurückkehren. Er hätte noch seine Eltern und Geschwister dort. Und schließlich, erklärt die Freundin, hätte sie nur ihren Sohn und würde eine ganze Familie dazu gewinnen. Die Frauen verstummen. Sie verstanden einander immer auch ohne Worte, obwohl sie stundenlang reden konnten, ohne das ihnen der Gesprächsstoff ausging. Sie sind ein eingespieltes Team gewesen - sie werden einander ganz unglaublich vermissen - sie werden aber an ihrer Freundschaft ewig festhalten. Während sie einander in die Augen blicken, besiegeln sie dieses stumme Versprechen. Merino hat inzwischen seinen Blick über die Menge schweifen lassen. Nun ja, meint er, es hätte ihm hier gefallen können, wenn seine Familie nicht wäre... „Schon gut“, beschwichtigt Sieben den Mann und findet seine Worte sehr freundlich. „Es ist gut so. Punkt!“ Zum Abschied fallen die Freundinnen einander in die Arme. In Zeiten wie diesen könnte jede Umarmung die letzte gewesen sein. Doch Sieben fühlt, dass sie sich eines Tages wieder sehen werden. Sie blickt dem verliebten Paar lächelnd nach. Merino hat wieder den Arm um Ginas Schulter gelegt und hält sie eng an sich gedrückt. Gina schmiegt sich an ihn. Im Gleichschritt schlängelt sich das Paar zwischen den Tischen durch. Sieben will sich wieder auf den Weg machen. Eine halbe Wendung und sie hält inne – Merino dreht den Kopf nach der „kleinen Hex'“, die - seine Bewunderung genießend - den Mann mit ihrem Blick herausfordert. Gina hat nichts davon mitbekommen, davon ist Sieben überzeugt, denn Merino hielt sie unverändert an sich gedrückt, Ginas Haar berührt Merinos Kinn, ihr Ohr lauscht seinem Herzschlag an der rechten Seite seiner Brust. Falls sich der Herzschlag beschleunigt haben sollte, würde die Freundin diese Reaktion auf ihre eigene Nähe und Wirkung auf den geliebten Menschen beziehen. Sieben lässt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und duckt sich, weil eine Woge der Verzweiflung über sie hinweg flutet. Sie sieht sich außerstande, die Freundin zu warnen. Was sollte sie ihr sagen? Und wann? In dieser Nacht verlässt sie doch die Großfamilie mit Merino und mit ihrem Sohn. Sieben könnte ihr natürlich per E-Mail eine Botschaft senden, aber welche? Sieben fühlt sich plötzlich als Verräterin an der Freundin. So kann es nicht bleiben. Gina und sie sind durch dick und dünn gegangen und haben einander in jeder Not beigestanden. Das ließe sie sich nicht von einem daher gelaufenen Schürzenjäger kaputt machen. Sie will ihre Freundin warnen, mehr tun kann sie nicht. Vor der kommenden Enttäuschung schützen könnte sie sie natürlich nicht. Sieben weiß, sie muss meditieren, muss ihre Gedanken ordnen, analytisch vorgehen, muss eine Lösung suchen, muss Worte finden, die ihre Freundin nicht verletzen. Schwerfällig hievt sie sich vom Stuhl und schleppt sich zur Senatssitzung, als hätte sie Bleisohlen unter den schweren Schuhen. So nah liegen Hoffnung und Enttäuschung beieinander...