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Jessie

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Es waren beunruhigende Zeiten. In Ealing, im gleichnamigen Londoner Borough, trieb ein sadistischer Mörder sein Unwesen. Er hatte bereits drei junge Frauen vergewaltigt und erdrosselt. Die Polizei stellte alles auf den Kopf, fand aber keine brauchbaren Spuren. Die Angst in der Nachbarschaft der Blaneystreet wuchs gleichermaßen, wie ihr Vertrauen in die Behörden schwand.

Ausgerechnet während dieser Zeit zog Jessie in ein möbliertes Apartment in der Nummer neunundsiebzig. Sie hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben, als die erste Leiche gefunden wurde; aber ihr Vertrag sah keine Klausel vor, nach der sie aufgrund eines Nachbarn tötenden Irren aus ihm wieder aussteigen konnte. Außerdem war die Wohnung genau das, was Jessie gesucht hatte: Nicht zu weit vom Stadtzentrum entfernt, aber auch nicht zu nah. Nicht zu klein und nicht zu groß. Mit Möbeln, die weder alt und spießig, noch hypermodern und kalt waren. Und mit einer tollen Aussicht über die Dächer der Nachbarhäuser, die alle etwas niedriger zu sein schienen, als die Nummer neunundsiebzig.

In ihrem Haus wohnten insgesamt sieben Parteien; zwei auf jeder Etage, und eine unter dem Dach. Diese Partei war sie, Jessie Walsh. Sie stammte aus Loughton, einem kleinen Ort, etwa eine halbe Stunde von London entfernt. Eine Stadt der Pendler. Eine Stadt der Langweiler. Die größte Errungenschaft, die Loughton zu bieten hatte, war eine eigene Tageszeitung; der Loughton Courier. Ansonsten gab es dort nichts, das vierundzwanzigjährige Frauen wie Jessie Walsh dort hielt. Sie wollte nahe am pulsierenden Leben der großartigen Stadt sein, in der sie nun endlich eine feste Stelle als Fitnesstrainerin in einem kleinen, aber feinen Club ergattert hatte.

»Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte Thomas Walsh seine Tochter, während er die nächste Zimmerpflanze aus dem Kofferraum seines Vans hievte.

Eine überflüssige Frage. Sie waren bereits seit fast einer Stunde dabei, Jessies Habseligkeiten in den vierten Stock zu schleppen und jetzt kam ihr Vater wieder mit Grundsatzentscheidungen.

»Dad!«, zischte sie gespielt wütend.

»Sorry, Liebes. Aber nach alledem, was in der Zeitung stand…«

»Wir hatten das doch jetzt schon die ganze letzte Woche besprochen. Ich bleibe hier und fertig!«

»Du sitzt hier auf dem Präsentierteller für diesen Perversen«, raunte ihr Vater und versuchte, die Erde, die er gerade versehentlich auf den Gehweg gekippt hatte, mit den Händen aufzufegen.

»Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Und wenn du mir erst das tolle, supersichere Vorhängeschloss eingebaut hast, das du ja unbedingt noch im Baumarkt kaufen musstest, kann mir gar nichts mehr passieren.«

Sie liefen erneut hintereinander die breiten Stufen der alten Holztreppe nach oben. Sie knarrten leise bei jedem Schritt.

Die neunundsiebzig war zwar schon in die Jahre gekommen, aber gut in Schuss gehalten worden. Die rotbraune Fassade mit ihren verzierten, weiß getünchten Steinsimsen und den kleinen Rundbögen über den Fenstern, zeugte stolz von einer Zeit, in der Architektur nicht nur zweckmäßig, sondern auch ästhetisch ansprechend war. Die Flure und das Treppenhaus waren in hellen, warmen Farben gestrichen, die schwarzweißen Fliesen im Eingangsbereich strahlten einen von stetiger Pflege erhaltenen Glanz aus. Die wuchtige Treppe aus Eichenholz mit ihren breiten Stufen und dem schweren bordeauxroten Läufer gab dem einfachen Mietshaus einen ehrwürdigen Touch. Die Zargen der Wohnungstüren waren mit geschwungenen Intarsien verziert; etwas, für das sich heute niemand mehr die Zeit nehmen, geschweige denn Geld ausgeben würde. Die messingfarbenen Klingelschilder waren penibel mit den Namen des jeweiligen Mieters oder der Mieter graviert.

Man hätte die Atmosphäre durchaus als spießig bezeichnen können; aber der Eindruck täuschte, das wusste Jessie bereits von der Maklerin. Neben alteingesessenen Mietern wohnten auch mehrere junge Leute im Haus.

Aber Jessie hatte auch nichts gegen ein bisschen Spießigkeit. Sie würde ihr vielleicht etwas bei dem von ihr geplanten Lebenswandel von der jungen Partygöre zur erwachsenen Arbeitnehmerin helfen. Und wenn sie sich richtig ins Zeug legte, würde sie bald die Miete alleine durch ihren Job finanzieren können; ohne Zuschuss ihrer Eltern.

Die Wohnung im Dachgeschoss der Nummer neunundsiebzig, in der sie nun einzog, war schließlich auch kein hypermodernes Loft. Auf ihren knapp fünfzig Quadratmetern herrschte ebenso die altbackene Spießigkeit in Form alter Holzböden, klobiger Rippenheizungen und überhoher Decken vor, wie im Rest des Hauses.

Jessie trug einen Wäschekorb mit Bettzeug vor sich und ihr Vater den Ficus, der nun mit weniger Erde auskommen musste, als noch in ihrem Zimmer in Loughton. Jessies Blick fiel im Vorbeigehen auf die Briefkästen. Ihr eigener war inzwischen repariert und ein neues Schloss eingebaut worden, wie sie feststellte. Die Maklerin hatte ihr während der Besichtigung erzählt, dass er von einem unbekannten Rowdy aufgebrochen worden war.

»Das Schloss baue ich dir auf jeden Fall heute noch ein. Sonst hat deine Mutter keine ruhige Nacht«, sagte Thomas Walsh.

»Ja, klar. Mum hat keine ruhige Nacht. Lügner.« »Okay, von mir aus.«

Sie waren wieder vor ihrer Wohnung angekommen und Jessie hörte ihren Vater stöhnen. Sie selbst war absolut fit; auch noch, nachdem sie nun bereits neunmal diesen Weg gegangen war.

»Willst du dich nicht vielleicht mal einen Moment hinsetzen?«, bot sie an, doch ihr Vater schüttelte, sich den Schweiß von der Stirn wischend, den Kopf.

»Erst machen wir das hier fertig. Ich will das Auto nicht offen stehen lassen.«

»Wie du willst, Dad.« Sie machte sich wirklich Sorgen um ihren Vater. Er war zwar erst zweiundfünfzig, hatte aber schon einen recht ordentlichen Bauchansatz von zu wenig Sport und zu viel gutem Essen. Seine Kondition hätte in jedem Fall viel besser sein können. Jessie hatte ihm sogar mehrfach angeboten, mit ihm zu trainieren. Aber die Trägheit hatte hämisch lachend über Thomas Walsh triumphiert. Das einzig Positive, das ihr Vater für seinen Körper tat, waren die langen Spaziergänge und Wanderungen mit ihrer Mum an den Wochenenden.

Sie liefen den Weg durchs Treppenhaus noch zweimal, dann war, nach dem Anhänger, die große Ladefläche des Vans ebenfalls leergeräumt.

»Hast du einen Kaffee für deinen alten Herren?«, fragte Thomas Walsh, nachdem er sich erschöpft auf das noch mit Folie stramm umwickelte Sofa hatte fallen lassen.

Jessie verzog peinlich berührt das Gesicht. »Oh, die Maschine ist hier noch irgendwo in einer der Kisten.« Sie sah sich im Wohnzimmer um, wo ein Dutzend Pappkartons darauf wartete, von ihrem Inhalt befreit zu werden.

»Und ich glaube, Pulver und Filtertüten muss ich erst noch besorgen.«

Ihr Vater nahm die Flasche Mineralwasser vom Couchtisch und trank einen großen Schluck daraus. Dann sagte er:

»Mum und ich schenken dir so eine Kapselmaschine.«

»Oh, cool. Danke.«

Thomas Walsh klopfte sich voller Tatendrang auf die Schenkel. »So. Dann wollen wir uns mal um das Schloss kümmern!«

Er befreite das fabrikneue Vorhängeschloss aus seiner transparenten Plastikverpackung und faltete den kleinen Zettel mit der Einbaueinleitung auseinander.

»Aha. So wollen die das haben. Naja.«

Er wirkte unzufrieden und Jessie musste grinsen. Nach Meinung ihres Vaters waren immer alle Einbau- und Bedienungsanleitungen blödsinnig formuliert.

»Gib den Leuten von Security Master eine Chance, Dad!«, sagte sie.

Thomas Walsh ging zur Wohnungstür und öffnete sie. Prüfend nahm er Zarge und Türblatt in Augenschein.

»Hm. Ja, das müsste gehen. Huch.«

Jessie fuhr herum.

»Oh, entschuldigen Sie! Ich wollte Sie nicht erschrecken!«

Eine Frau, Jessie schätzte sie auf Anfang dreißig, stand vor der Tür.

»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«, fragte Thomas Walsh.

Seine Tochter kam näher.

Die dunkelhaarige, Brille tragende Frau mit auffallend heller Haut lächelte zaghaft. Jessie schätzte sie auf Anfang dreißig.

»Ich bin Mila Potter, die Nachbarin unter Ihnen«, stellte sie sich vor. Sie war nicht eben hübsch, zumindest nicht nach Jessies Maßstäben, aber ihr Gesicht strahlte etwas sehr sympathisches aus. Ihre Erscheinung wirkte äußerst seriös. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug, eine weiße Bluse und graue Spangenpumps.

»Oh, hallo. Kommen Sie doch rein«, bat Jessie freundlich, woraufhin ihr Vater zur Seite trat.

»Danke.« Mila Potter sah sich sofort im Raum um. »Ach herrje, ich störe Sie ja noch mitten beim Auspacken.«

Jessie winkte ab. »Das macht doch nichts.« Sie gaben sich die Hand. »Hallo, Jessica Walsh. Freut mich. Und das ist mein Vater.«

Dieser trat ein Stück vor, nahm das Schloss in die linke Hand, wischte sich die rechte am Hosenbein ab und reichte ihr sie.

»Hallo. Walsh.«

»Ich hatte gehört, dass Sie hier einziehen würden. Aber ich dachte, Sie wären schon weiter.« Als Mila Potter ihre eigenen Worte hörte, legte sie sich peinlich berührt die Hand vor den Mund.

»Oh, Verzeihung«, sagte sie und wurde leicht rot. »So war das natürlich nicht gemeint.«

Jessica entkräftete die Verlegenheit mit einem Lächeln, als ihr Vater kommentierte:

»Mehr als arbeiten können wir nicht.«

»Dad!« Jessie stampfte leicht mit dem Fuß auf und warf ihm einen rügenden Blick zu.

»Ja, also, jedenfalls wollte ich Sie hier in der Nummer neunundsiebzig herzlich willkommen heißen!«

»Wo ist denn der Kuchen?«, fragte Thomas Walsh bierernst. »Normalerweise bringen doch die Nachbarn bei solchen Gelegenheiten immer was mit. Meistens einen Kuchen.«

Jessie schüttelte den Kopf. »Sie müssen meinen Vater entschuldigen. Er hat wohl seine Manieren unten im Auto gelassen.«

»Hat er nicht. Aber er hat Hunger«, kam seine brummende Antwort.

Mila schien das alles sehr peinlich zu sein. Sie sah verschämt zu Boden.

»Naja, ich wollte ja eigentlich auch was vorbei bringen. Aber mit den ganzen Allergien, die die Leute heute haben, weiß man ja nie.«

»Oh, mein Vater hat so was nicht. Der kann alles essen. Und tut es meistens auch.«

Angesichts dieser Spitze gegen ihn, streckte Thomas Walsh seiner Tochter die Zunge raus, was die Nachbarin aber nicht sehen konnte.

»Nur ich darf keine Nüsse essen«, erklärte Jessie dann schulterzuckend. »Sonst kann man mich gleich in die Notaufnahme fahren.«

»Ah, gut zu wissen. Dann werde ich schon mal keinen Nusskuchen backen«, entgegnete Mila lächelnd.

»Sie brauchen sich für uns überhaupt keine Mühe zu machen, wirklich nicht.«

»Ach, ich denke schon, dass ich Ihnen zum Einzug etwas backen werde. Ihr Vater hat da schon recht, das gehört dazu.« Sie sah Thomas Walsh freundlich an; dieser nickte zustimmend.

»Welches Vögelchen hat Ihnen denn eigentlich gezwitschert, dass meine Tochter hier einzieht?«, wollte er dann wissen. Ein Hauch von Argwohn lag in seiner Stimme.

Mila verschränkte die Hände vor sich. »Das war Mrs Brixton.«

Jessie nickte verstehend. »Ah, die Maklerin.«

»Ja. Wir sind befreundet. Sie glauben gar nicht, was man so alles von ihr erfährt. Die kommt viel rum hier in der Gegend.«

»Eine Tratschtante, soso«, dachte Jessie.

Thomas Walsh sah sich um. »Wer hat denn eigentlich vorher hier gewohnt?«

Mila wurde plötzlich blass. »Ach, das wissen Sie gar nicht?«

Jessie zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich weiß nur von Mrs Brixton, dass das Apartment recht kurzfristig frei geworden ist.«

Mila Potter verzog das Gesicht. »Das kann man wohl sagen. Ihr Vormieter ist nämlich spurlos verschwunden.«


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