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Verborgener Mut
ОглавлениеEs war bereits Nachmittag, als ich den Sack voller Wolle endlich voll hatte. Meine Kleidung sah so aus, als hätte ich im Schlamm gebadet, weil ich jedes einzelne Tier mit vollem Körpereinsatz festhalten musste. Trotz alledem war ich ziemlich stolz auf mich und ich hoffte, dass mein Vater es eines Tages auch sein würde.
Der Himmel verdunkelte sich plötzlich und es begann in Strömen zu regnen. Schnell rannte ich in die Hütte, während mein Vater mit seinem Hirtenstab die Schafe zurück in die warme Scheune trieb. Ich beobachtete, wie er nochmal zurück zum Weidentor blickte, ehe er die Tür unserer Hütte schloss. Auch wenn er es nicht sagte, konnte ich in seinem Gesicht erkennen, dass er Mutters Wiederkehr erhoffte.
Ich befreite mich erst von dem dicken Mantel und trocknete anschließend meine orangenen, strubbeligen Haare mit einem kleinen Leinentuch ab. Vater goss sich einen Becher Bier ein, schmiss neues Brennholz in das Feuer und setzte sich in seinen Sessel davor. Allmählich sorgte ich mich auch um sie und beschloss schließlich, ihn darauf anzusprechen: „Mutter ist noch immer nicht vom Dorf zurückgekehrt. Sollten wir uns Sorgen machen?“ „Nein, sie sucht wahrscheinlich Schutz vor dem Regen und wird bald wieder hier sein.“ An seinem Unterton konnte ich jedoch heraushören, dass er sich gar nicht so sicher war. Ich kletterte auf die Leiter zu meinem Schlafplatz und nahm ein Buch zur Hand, welches meine Mutter noch aus ihrer Kindheit besaß. Sie war eine von wenigen Frauen, die Wort und Schrift beherrschte und es mir frühzeitig beibrachte. Sie hatte großes Glück, denn ihre Eltern, also meine Großeltern, waren angesehene Kaufleute des Adels, deswegen konnte sie als Kind unterrichtet werden. Allerdings kannte ich meine Großeltern nur aus Mutters Erzählungen, denn leider lernte ich die beiden niemals kennen. Sie kehrten damals meiner Mutter beschämt den Rücken zu, nachdem sie sich in meinem Vater, einem jungen Schafshirten aus ärmlichen Familienverhältnissen – verliebte.
Während ich stumm vor mich hin las, beobachtete ich immer wieder, wie mein Vater beunruhigt auf dem Stuhl hin- und her zappelte. Außer dem jaulenden Wind, der gegen die Hütte peitschte und dem leisen Knistern des Feuers, war es ziemlich ruhig in unserem Heim. Es fehlte einfach die Anwesenheit meiner Mutter, deren sanfte Stimme für Geborgenheit sorgte.
Es war bereits dunkel und der Sturm hatte sich verzogen, als plötzlich die Tür aufging. „Mutter!“ rief ich erleichtert, klappte das Buch zu, sprang auf dem Fußboden und rannte auf ihr zu. Auch mein Vater stand erleichtert auf und musterte seine Gattin. „Ich grüße dich, mein Junge!“ antwortete sie und nahm mich in den Arm. Ich wunderte mich, dass ihre Kleidung ganz trocken war. „Wo warst du denn so lange?“ fragte ich. „Der Sturm hatte das ganze Dorf überrascht. Eine nette Bauernfamilie bot mir Unterschlupf.“ Mein Vater setzte eine skeptische Miene auf. „Und die Wolldecken? Sind sie unversehrt?“ fragte er dann mit seiner tiefen Stimme. „Der Sturm ermöglichte mir nicht, alle Mäntel und Decken loszuwerden, doch ein Teil konnte ich gegen reichlich Gemüse, Fleisch und Brot eintauschen. Es wird uns die nächsten Tage wohlergehen.“ antwortete sie knapp. „Jacob, hilfst du mir bitte beim Tragen? Ich habe den Handwagen in der Scheune abgestellt.“ „Gewiss, Mutter.“ So liefen wir in die Scheune und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich im Handwagen die vielen Köstlichkeiten entdeckte. Meine Mutter folgte meine Blicke und lächelte. Kohl, Rüben, Sellerie, Lauch, Äpfel, eine Keule Fleisch und ein großer Brotlaib lagen darin. „Wie wäre es, wenn wir zusammen eine Gemüsesuppe kochen?“ fragte sie. Ich nickte und lächelte. Als ich meine Arme mit all den Sachen füllte, entdeckte ich noch etwas anderes im Wagen. Es war ein kleines, braunes ledergebundenes Buch mit aufwendigen Ornament-Verzierungen. „Was ist das?“ fragte ich neugierig. Meine Mutter schmunzelte. „Das ist ein Buch mit leeren Seiten.“ „Leere Seiten? Dann ist es aber kein Buch!“ widersprach ich. „Noch nicht, Jacob. Die Geschichte muss erst geschrieben werden.“ Ich runzelte die Stirn und folgte meiner Mutter, die nach diesen Worten zurück zur Hütte lief. Einen letzten Blick warf ich auf dieses Schmuckstück, ehe es einsam im Wagen zurückblieb.
Ich schnitt - zusammen mit meiner Mutter - das Fleisch und das Wurzelgemüse klein, füllte den Kochkessel mit Wasser und hängte ihn an den Haken über das Feuer. Während die Suppe dann vor sich hin brodelte, las ich in meinem Buch weiter und sah zu, wie sich meine Mutter an Vaters Schulter schmiegte, der in seinem Stuhl saß und nachdenklich in die Luft starrte. Auch wenn ich noch ziemlich jung war und von Liebe nichts verstand, konnte ich erkennen, dass sie wahrlich Nähe zu ihm suchte. Doch er erwiderte nicht eine ihrer Gesten, so wich sie wieder von ihm ab und schaute traurig auf den Fußboden. Ich fragte mich, aus welchem Grund mein Vater so eiskalt war. Irgendetwas beschäftigte ihn und ich vermutete, dass es etwas mit dem nächtlichen Gespräch auf sich hatte. Dachte er wohl doch über die Worte meiner Mutter nach und zog in Betracht, mit uns das Dorf zu verlassen? Aber es gab keinen Grund das zu tun, schließlich ging es uns auf der Weide gut und ich wusste, dass er seine Heimat nur ungern verlassen würde.
Nachdem der Kessel genug vor sich hin gekocht hatte, befüllte meine Mutter drei Holzschalen mit der köstlich-duftenden Suppe. Wir setzten uns zu dritt an den Tisch und löffelten diese. „Ich werde morgen nach Sonnenaufgang ein weiteres Mal ins Dorf gehen, um die restlichen Decken und Mäntel auf dem Markt zu verkaufen.“ kündigte meine Mutter an. „Wozu? Du sagtest, uns würde der heutige Vorrat für weitere Tage ausreichen. Die Schafsmilch geht langsam zuneige, ich könnte dich morgen beim Melken gebrauchen, Claire!“ antwortete mein Vater streng. Meine Mutter sah ihn erst ausdruckslos an und sagte darauf: „Jacob hilft dir bestimmt gerne!“ Verwirrt blickte ich sie an und betete, dass ich das nicht machen müsse. Mein Vater musterte mich mit ernster Miene, ehe darauf antwortete: „Der Junge bringt es nicht mal zustande, ein Schaf festzuhalten! Er ist ein Nichtsnutz!“ Ich erschrak nach diesen herzlosen Worten und sank traurig den Kopf zu Boden. Meine Mutter sah mich bemitleidend an und zog dann düster ihre Augenbrauen zusammen. „Du solltest es ihm zeigen, Ekarius! Die Zeit wird kommen, in der er es können muss!“ Wieder musterte er mich skeptisch. „Ist das so, Claire? Der Junge vergräbt sich lieber in seinen Büchern als ein Mann zu werden und das ist alles nur deine schuld! Du lerntest ihn lesen und schreiben, etwas, was ein Hirte nicht benötigt!“ rief er laut, so dass ich mich nicht mal mehr traute, ihm in die Augen zu sehen. Kurze Stille. „Es wird geschehen, Ekarius. Ob du willst oder nicht.“ Nach diesen Worten stand meine Mutter auf und verließ stürmisch die Hütte. Instinktiv wollte ich ihr folgen, doch mein Vater hielt mich grob an der Schulter fest, als ich mich bewegte. „Du bist kein Mann und wirst nie einer sein, wenn du einem störrischen Weib hinterherläufst.“ Ich sah meinen Vater in seine strengen, braunen Augen, die mir gar keine andere Wahl ließen, als sitzen zu bleiben. Natürlich wollte ich meiner Mutter folgen, doch noch schlimmer war die Erkenntnis, dass mich mein Vater für einen Versager und Nichtsnutz hielt. So stand ich auf, kletterte zu meinem Schlafplatz und vergrub mich beschämt unter die Decke. Erst nachdem sich mein Vater becherweise mit Wein betrank und in seinem Sessel einschlief, kullerten tausend Tränen von meiner Wange. Ich war einfach nicht der taffe Junge, den er gerne gehabt hätte. Und auch wenn ich es mir nie anmerken ließ, wünschte ich mir tief im Inneren, dass er einmal seine Hand auf meine Schulter legen würde, mit den Worten, dass er stolz auf mich sei.
Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte und das tiefe Schnarchen meines Vaters wahrnahm, kletterte ich von der Leiter und schlich mich leise aus der Hütte. Draußen war es bitterlich kalt und ich überlegte, wo meine Mutter nur sein könnte. Sofort fiel mir die Scheune ins Auge, aus der man durch die Schlitze der Holzhütte ein sanftes Licht erkennen konnte. Vorsichtig näherte ich mich ihr und öffnete vorsichtig die Tür. Meine Mutter saß friedlich zwischen den Schafen im Stroh. Auf ihrem Schoß lag das gebundene Lederbuch, welches sie vom Markt mitgebracht hatte. Es lag geöffnet auf ihren Beinen und sie schrieb etwas mit der Feder hinein. Als sie mich entdeckte, legte sie es beiseite und lächelte mich an. Oh, wie hübsch meine Mutter doch war. Ihre schwarzen, langen Haare hingen locker in ihr blasses Gesicht und ihre dunklen Augen leuchteten sanft im Kerzenlicht. „Was machst du denn hier?“ fragte ich neugierig und näherte mich ihr. „Entschuldige, Jacob. Ich habe etwas Ruhe gebraucht um meine Gedanken zu sammeln.“ Sie klopfte mit ihrer Hand neben sich auf das Stroh und bot mir somit einen Platz an. Ich ließ mich nieder und fiel in ihre Arme. Ich sah ihn ihr vertrautes Gesicht und war froh, dass sie wohlauf war. „Sag, mein Kind. Was liegt dir auf dem Herzen?“ fragte sie sanft. „Ich wollte dir nachgehen, Mutter, doch ich konnte nicht. Vater hat…“ „Schon gut, Jacob. Es war gut, dass du auf ihn gehört hast.“ unterbrach sie mich, ehe ich weiterreden konnte. „Weißt du, ich möchte eigentlich kein Hirte sein, ich tu das nur, damit er eines Tages stolz auf mich sein würde. Doch welche Wahl habe ich? Ich werde mich von meinen Büchern abwenden müssen und lernen, ein Hirte zu sein. So wie es Vater möchte.“ Es sprudelte alles aus mir heraus und meine Mutter berührte sanft meine Wange. „Mein lieber Jacob, es zählt nicht, was dein Vater möchte. Du bist weitaus mehr, als er von dir erwartet. Er weiß, dass du ein schlauer Junge bist und gerade das macht ihm Angst. Doch manchmal muss man über seinen eigenen Schatten springen und all seinen Mut zusammennehmen, um das zu erreichen, was man möchte. Hör auf dein Herz, Jacob. Es ist das Einzige, was zählt.“ Sie nahm meine Hand und legte sie auf meine linke Brust. Ich war immer wieder verblüfft, wie weise sie war. „Du meinst also, dass ich doch kein Hirte werden muss?“ „Nein, denn du hast etwas, was dein Vater nicht hat.“ „Und was wäre das, Mutter?“ „Du hast großen Mut, Jacob. Zwar schlummert es noch in dir, doch du besitzt eine Menge davon.“ Ich zupfte nervös am Stroh herum, während ich über ihre Worte nachdachte. „Ich fühle mich aber nicht mutig.“ sagte ich dann. „Sieh‘ mal wo du dich gerade befindest - hat es dir dein Vater nicht verboten mich aufzusuchen? Es war mutig von dir, hierher zu kommen.“ Wieder grübelte ich darüber nach, während sie mir über mein strubbeliges Haar strich. „Aber wozu ist Mut denn überhaupt gut? Ich habe das Gefühl, auf dieser Weide für immer gefangen zu sein!“ sagte ich dann. „Es gibt verschiedene Formen von Mut. Doch die wichtigste davon ist, keine Angst vor Entscheidungen und Veränderungen zu haben. Die Zeit wird kommen, in der du dich selbst beweisen musst.“ Noch nie wirkte meine Mutter so überzeugend wie jetzt und das brachte mich noch mehr zum Grübeln. „Aber woher weißt du das alles so genau? Es sind doch nur Worte, die du zu glauben meinst.“ Sie lächelte wieder. „Glaube nicht an Worte, Jacob. Sondern glaube an dich selbst.“ In meinem Kopf schwirrte alles, ich konnte mich nicht mehr konzentrieren und die letzte schlaflose Nacht hing mir wahrlich nach. Ich hatte den Kampf gegen die Müdigkeit wohl verloren, so ließ ich mich an der Schulter meiner Mutter nieder und sank sofort in den tiefen Schlaf.
Während ich in meinen Träumen verweilte, nahm meine Mutter wieder seelenruhig die Feder zur Hand und schrieb weiter in das Lederbuch – die ganze Nacht lang.
Am nächsten Morgen ertastete ich eine warme Wolldecke unter mir. Verwundert sah ich mich um – ich lag nicht mehr in der Scheune, sondern in meinem üblichen Schlafgemach unter dem Dach. Vermutlich hatte mich Mutter in die Hütte getragen, als ich in der Scheune eingeschlafen war. Ich streckte mich und sprang auf den Fußboden. Auf dem Tisch lag ein Teller mit einer Scheibe Brot, einem Stück Käse und einem Becher voller Milch. Von Mutter und Vater war weit und breit keine Spur, deswegen setzte ich mich hin und aß von dem vorbereiteten Teller. Danach zog ich mir eine lange, weiße Tunika an mit einer kurzen, schwarzen Stoffweste. Auch wechselte ich meine Stoffhose, zog mir wie üblich einen warmen Mantel an und bedeckte meinen Kopf mit der Filzkappe.
Das Wetter war an diesem Tag besser als am gestrigen. Der Himmel war zwar von grauen Wolken bedeckt, doch die Sonne kämpfte sich leicht hindurch. Einige Schafe fraßen sich auf der Weide satt, andere hingegen wurden von Vater in der Scheune gemelkt. Langsam und nur zögerlich betrat ich die Scheune, dessen Tür weit geöffnet war. „Guten Morgen, Vater.“ begrüßte ich ihn und versuchte zu lächeln. Er drehte sich mit ausdruckloser Miene um und musterte mich. „Guten Morgen, Jacob.“ antwortete er in einem ungewöhnlich ruhigen Ton. Ich beobachtete, wie die Schafsmilch in großen Tongefäßen floss. „Wo ist Mutter? Ist sie etwa ins Dorf gegangen?“ fragte ich vorsichtig. „So sei es.“ antwortete er knapp ohne mich dabei anzusehen. Ich konnte spüren, dass ihm das nicht passte. Während ich - wie ein Narr - meinem Vater bei der Arbeit zusah, fühlte ich mich wahrlich fehl am Platz. Am liebsten hätte ich mich mit meinem Buch ins feuchte Gras gesetzt und mich vollkommen darin verloren, auch wenn ich die Geschichte schon tausendmal gelesen hatte. Mein Vater stand plötzlich auf, ließ das Schaf los und stellte das mit Milch gefüllte Tongefäß auf den Handwagen, auf welchem bereits drei andere Milchgefäße standen. „Sei ein guter Junge und bring das deiner Mutter auf den Markt.“ sagte er brummend. „Ist gut, Vater.“ Ich nahm den Griff in die Hand und zog den Wagen hinter mir her, bis ich am Ende der Weide angelangt war und mich nun auf dem steinigen Pfad befand, der mich zum Dorf führen würde. Es ging nun bergab und ich zierlicher Junge kämpfte gegen das enorme Gewicht des Handwagens, welches mich nach vorn schubste und mir ungewollt Geschwindigkeit gab. Die Unebenheiten und Erdlöcher des Weges ließen die großen, quietschenden Räder auf und ab sinken. Ich betete, dass kein Missgeschick passieren würde und die Tongefäße heile blieben.
Die Sonne kämpfte sich durch die dichte Wolkendecke und kitzelte mit ihren sanften Strahlen meine Nasespitze. Ich erinnerte mich plötzlich an meinem Traum letzte Nacht, wie ich anderen Kindern aus einem Buch vorlas und diese neugierig und aufmerksam zu hörten. Ich erklärte ihnen Wörter und Begriffe, die so leicht über meine Lippen glitten, wie eine Feder im Wind. Mir war bewusst, dass ich im Traum ein erwachsener Mann war. Zu gern hätte ich mich selbst gesehen, um zu wissen, aus welchen Augen mich die Kinder sahen. War ich wohl ein kräftiger Mann mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck und einem Kopf voller unbegrenztem Wissen? Der Traum gab mir in diesem Moment das Gefühl von Zufriedenheit und Hoffnung. Hoffnung, vielleicht doch noch eines Tages zu dem Menschen zu werden, der ich immer sein wollte. Doch mein Vater beschimpfte mich nicht umsonst als Nichtsnutz, denn das Träumen ließ mich unachtsam werden – so stolperte ich über ein Erdloch und fiel zu Boden. Ich sah noch den Handwagen hinterher, wie er im rasanten Tempo davonrollte und am Ende des Hügels zum Stillstand kam. Sofort rappelte ich mich auf und rannte auf ihn zu. Schon von Weitem konnte ich sehen, dass zwei Tongefäße umgekippt waren. Schon jetzt konnte ich mir das wütende Gesicht meines Vaters ausmalen, wenn er dies erfahren würde. Am Handwagen angekommen, stellte ich völlig außer Atem die verschlossenen Tongefäße wieder auf, aus denen zum Glück nur wenige Tropfen Milch geflossen waren. Erleichtert lehnte ich mich kurz gegen den Wagen und blickte über die alte Holzbrücke, die mich direkt ins Dorf führen würde. Sorgfältig zog ich nochmals den Wagen hinter mir her und stoppte auf der Holzbrücke, unter der sich ein sanfter Fluss zog. Das Dorf lag umrandet von einer vier Meter hohen Steinmauer, die einst von den Dorfbewohnern als Schutz errichtet wurde, nachdem die Engländer das Land in Besitz genommen hatten. Es gab nur noch wenige, kleine Gebiete in Irland, die nicht unter normannischer Kontrolle waren. Dazu zählte unser überschaubares Dorf, welches die Engländer scheinbar vollkommen belanglos fanden und somit von der irischen Lordschaft Kane angeführt wurde. Zwischen der Steinmauer befand sich ein eisenbeschlagenes Tor, durch welchem ich hindurch ging und mich nun auf dem einzigen Weg befand, der mich geradewegs zum Markt führen würde. Rechts und links befanden sich immer wieder Einbiegungen und Gassen, wo sich mehrere aneinanderreihende Hütten befanden. Nichts Aufregendes eben – es war den Engländern also nicht zu verübeln, dass sie es nicht auf das ländliche Dorf abgesehen hatten. Schon jetzt konnte ich den lauten Marktlärm hören, auf dem sich die Menschen die meiste Zeit ansammelten. Mir kamen schon einige mit geflochtenen Tragekörben entgegen, welche mit einer Fleischkeule, Gemüse, Obst, Wasser, Wein und Bier und gefüllt waren. Am Marktplatz angekommen, stach einem immer wieder die große, aufwendig gebaute und verzierte Kirche ins Auge, die mehrere kreisrunde Fenster besaß und zwei schmale Türme, die mit ihren spitzen Dächern gen Himmel ragten. Ein gigantischer Spitzbogen umrandete die Eingangstür, zu der man erst nach ein paar Stufen gelangen konnte. Die Kirche war also das Herzstück des Volkes, worauf sie sehr stolz waren und ihren Glauben stets pflegten. Vor der Kirche befand sich ein großer Ziehbrunnen, aus dem man reichlich Wasser schöpfen konnte. Um die Kirche herum standen zahlreiche kleine Handelsstände, bei denen die unterschiedlichsten Waren angeboten wurden. Dies waren Fisch, Geflügel, Gemüse, Käse, Eier, Brot, Gewürze, Töpferwaren, Körbe, Tücher, Schuhe und sogar lebende Tiere wie Enten, Hühner, Gänse und Schweine. Es war nicht leicht, zwischen den vielen Menschen durchzulaufen, doch Mutter hatte ihren Handelsstand immer am selben Platz und war relativ gut zu erreichen. So zog ich weiterhin den Handwagen hinter mir her und achtete behutsam auf meine Füße, schließlich wollte ich nicht wieder über irgendetwas stolpern und hinfallen. Als ich am Rande des Marktes ankam, hielt ich Ausschau nach ihr. Ich versicherte mich, dass ich am richtigen Fleck stand, als ich sie nirgendwo entdecken konnte. Natürlich war ich viel zu klein, um über die Menschenköpfe sehen zu können, so konzentrierte ich mich und versuchte, zwischen jede kleinste Lücke hindurchzuschauen. Nachdem ich Luisa entdeckte - eine Freundin und Handelspartnerin meiner Mutter – atmete ich erleichtert auf. Luisa würde sicherlich wissen, wo sie steckte. Vorsichtig lief ich auf sie zu und ich bemerkte, wie sich ihr Gesichtsausdruck verdunkelte, als sie mich sah. „Sei gegrüßt, Jacob! Was machst du denn hier?!“ fragte sie mich mit überraschendem Unterton. „Seid gegrüßt, Luisa. Ich sollte meiner Mutter diese Milchgefäße bringen doch ich kann sie nirgends finden. Habt Ihr sie gesehen?“ fragte ich. „Deine Mutter ist in der Kirche, mein Kind.“ „In der Kirche? Heute?“ Ich überlegte und beschloss, nach ihr zu sehen. „Dürfte ich den Wagen bei Euch lassen, Luisa?“ „Gewiss, Jacob.“ antwortete sie und versuchte zu lächeln. Ich wunderte mich über ihr angespanntes Verhalten und spürte, dass etwas nicht stimmte. Ich drängelte mich durch die Menschen, bis ich vor der Kirche stand. Sofort rannte ich die Stufen hinauf und öffnete leise die Tür. Als ich eintrat, entdeckte ich sie auf den Knien vor dem Altar. Ihre Hände waren mit Seilen gefesselt und ihr Kopf sank müde zu Boden. Vor ihr saßen auf den Sitzbänken einige Mönche und der adelige Grundherr, Lord Kane, der das Sagen des Dorfes hatte. Neben ihm saßen noch weitere Herren, die dem Dorfgericht zugehörten. Diese diskutierten so laut mit den Mönchen, dass mein Kommen niemand mitbekommen hatte. Der Anblick meiner Mutter ließ mich erschaudern - am liebsten wollte ich zu ihr gehen und sie aus ihren Fesseln befreien, doch instinktiv versteckte ich mich hinter einem der Sitzbänke und lauschte. „Das ist wahrlich ein Werk des Teufels, Lord Kane!“ rief einer. „Hexerei!“ rief ein anderer dazwischen. „Sie ist ein Dämon mit tödlichen Absichten!“ rief ein weiterer. Ich bekam Gänsehaut. Meinten die etwa wirklich meine Mutter?! Nein, das kann nicht sein! „Nun, Claire Buckley. Ihr habt im Dorf für Unruhe gestiftet und das ist wahrlich eine Straftat. Vielleicht könnte ich von der Todesstrafe hinwegsehen, wenn Ihr mir hier und jetzt bestätigt, dass dieses Gerücht nur ein Schabernack einer törichten Verrückten war.“ sprach Lord Kane mit seiner unverwechselbaren hohen Stimme, die überhaupt nicht zu seinem markanten Gesicht mit den schmalen Wangenknochen und den dünnen Lippen passte. Er hatte schwarze, lange Haare die streng nach hinten gebunden waren und trug dicke, buschige Augenbrauen über seinen blauen Augen. Er trug eine schwarze Leinenhose mit einer weißen Tunika, die an den Hüften mit einem edlen Gürtel verziert war. Es wurde kurz still in der heiligen Kirche. „Schenkt dieser Frau doch etwas Vertrauen, Lord Kane! Vielleicht ist sie eine Abgesandte Gottes, um mit ihrer Gabe unser Dorf zu beschützen!“ rief plötzlich ein Mönch. „Schweigt still - Eure Meinung interessiert mich nicht.“ Ich lugte an der Sitzbank vorbei und beobachtete, wie sich einer der Mönche vor meiner Mutter stellte. „Ist schon gut, Aidan.“ antwortete meine Mutter in einem ruhigen Ton und nickte ihn lächelnd an. Er zögerte kurz und setzte sich wieder zurück in die Bankreihe, in der die anderen Mönche saßen. „Nun, Miss Buckley?“ fragte Lord Kane erneut. Sie blickte ihn an und sprach in einem selbstsicheren Ton: „Ich werde weiterhin zu meinem Wort und meiner Prophezeiung stehen, Lord.“ Mein Herz machte nach diesem Satz einen Überschlag und alle Männer die dort saßen, tuschelten empört durcheinander. Warum sagte sie das nur? War ihr denn bewusst, wen sie da vor sich hatte? Wie versteinert saß ich auf dem Boden hinter der Sitzbank und konnte mich kaum rühren. Es schossen hundert Gedanken durch meinen kleinen, dämlichen Kopf. Wieder hörte ich die Worte „Hexerei“ und „Werk des Teufels“ rufen und ich hielt mir ängstlich die Ohren zu. Erst als es wieder ruhiger wurde, lauschte ich die strenge Stimme des Lords. „Ich verurteile Miss Buckley zur Hexerei - schafft sie in den Kerker!“ rief er. Ich sah zu, wie meine Mutter von zwei Männern durch einen dunklen Gang hinter dem Altar mitgezerrt wurde. Wieso wehrte sie sich bloß nicht? Sie hat doch gar keine Straftat begangen! Als Lord Kane, die Mönche und der Rest der Männer die Kirche verließen, krabbelte ich hinter die nächst gelegene Sitzbank und wartete, bis es vollkommen still war. Dann stand ich auf und rannte mit wackeligen Beinen hinter den Altar, wo meine Mutter verschwand. Der dunkle Gang wurde von einem roten Vorhang verdeckt, welchen ich wegschob und durchging. Eine winzige Wendeltreppe führte in den Keller. Mein Herz klopfte rasend schnell, als ich diese herunterlief. Unten angekommen, war es stockdunkel. Nur eine kleine Fackel an den kühlen Wänden spendete ein wenig Licht. Vor mir befanden sich drei Kerker – zwei von ihnen waren leer. Im letzten entdeckte ich meine Mutter auf dem Boden liegen - zusammengekauert und voller Leid. „Mutter?“ versuchte ich zu flüstern, doch nur ein leises Fiepsen kam aus mir heraus. Sie blickte in meine Richtung und setzte sich sofort auf, als sie mich sah. „Junge, was machst du denn hier?“ fragte sie völlig verdutzt. Ihre Hände waren nicht mehr gefesselt, sie konnte deshalb durch die Gitter fassen und mein Gesicht berühren. Auch ich griff nach ihr und streichelte ihr weiches Haar. „Was passiert hier nur mit dir?“ fragte ich und versuchte nicht zu weinen, doch da schossen schon die Tränen über meine Wangen, weil ich die Antwort eigentlich nicht hören wollte. „Jacob, es tut mir so leid, dass ich dich verlassen muss. Doch es war die richtige Entscheidung - das weiß ich!“ Ich spürte, dass auch sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. „Nein, Mutter! Ich werde zu Vater eilen und dich hier rausholen!“ flüsterte ich wimmernd. Sie streichelte mir sanft über die Wange. „Nein, Jacob. Dafür ist es zu spät.“ „Du darfst nicht sterben, ich brauche dich doch!“ rief ich weinend. „Mein Tod hat einen Sinn, mein Kind. Ich werde gehen müssen, damit jemand anderes bleiben kann. Jacob, ich gebe dir mein Wort, du wirst es verstehen, sobald die Zeit gekommen ist.“ Meine Mutter setzte ein Lächeln auf, nachdem sie das sagte und in diesem Moment zerbrach eine ganze Welt für mich. Meine Beine sanken zu Boden und ich hämmerte kraftlos gegen die Gitter. Meine Mutter begab sich auf Augenhöhe und versuchte mich mit ihren weichen Händen zu trösten. Hin und wieder sagte sie etwas, doch ich nahm nur noch ein dumpfes Rauschen in den Ohren und ihre Lippenbewegungen wahr. In diesen Augenblick lief jemand die Wendeltreppe herunter. Ich bemerkte zwar, dass eine Person hinter mir stand, doch ich blickte nur noch in die feuchten Augen meiner Mutter. Ein kräftiger Mensch griff mir von hinten unter die Arme um mich hinfort zutragen. Ich besaß nicht mal mehr die Kraft um mich zu wehren oder zu schreien. Nur noch streckte ich die Hand nach meiner Mutter aus, die sich immer weiter von mir entfernte. Und dann verschluckte mich plötzlich die Dunkelheit – ich versank in tiefer Ohnmacht.