Читать книгу Prophezeiung - Zeilen der Zukunft - J.R. Irish - Страница 4
Irland, im Jahre 1348
ОглавлениеEs war Frühling – ich war zu einem kräftigen jungen Mann geworden und der Alltag als Hirte war inzwischen fest verankert. Ich trieb die Schafe auf die Weide, um jedes einzelne vom dicken Winterfell zu befreien. Dieses übergab ich meinen Vater, der daraus zahlreiche Decken und Gewänder verarbeitete und diese im Dorf verkaufte. Innerlich war ich dafür dankbar, dass er diese Rolle übernahm, schließlich betrat ich seit dem Tod meiner Mutter noch immer nicht das Dorf und mied weiterhin seine herzlosen Bewohner. Im Grunde war ich einfach nicht mutig genug, erneut mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Ich war es einfach leid, mir nach all den Jahren wieder dieselben Fragen zu stellen und keine Antworten zu finden.
Ein sanftes Frühlingssonnenlicht strahlte auf mich hinab, als ich eines der letzten Schafe scherte. Ich genoss den sanften Wind der durch meine strubbeligen, orangenen Haare sauste und ich schloss für einen Moment die Augen, um die wohltuende Wärme der Sonne zu genießen. In diesem Augenblick hörte ich ein aufregendes Mähen unter der Schafsherde, die meine Aufmerksamkeit erlangte. Ich blickte zum Weidentor, von dem die Schafe plötzlich aufgeregt wegrannten. Da entdeckte ich eine junge Frau hinter dem Weidentor stehen, die einen großen Korb in den Händen trug und mich direkt ansah. Sofort stand ich auf und versuchte, noch mehr zu erkennen, doch ich war einfach zu weit weg. Ich wartete etwas ab, weil ich dachte, dass sie die Weide betreten würde, doch noch immer starrte sie mich an, ohne weitere Reaktion. So nahm ich meinen Hirtenstab, lief langsam und vorsichtig auf die Frau zu. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach all den Jahren eine Dorfbewohnerin zu begegnen - so raste mein Herz in Hochtouren, als ich nun vor ihr stand.
Sie trug ein langärmliges, weinrotes Kleid mit einer weißen Schürze. Ihre dunkelbraunen, welligen Haare hingen locker über ihre Schultern und ich bemerkte ihre auffälligen, großen grünen Augen, ihre schmalen Lippen und die vielen Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Und da erinnerte ich mich plötzlich an Luisa und dieses Mädchen, welches sich vor vielen Jahren um mich gekümmert hatte. Sie öffnete immer wieder die Lippen, so als ob sie etwas sagen wollte aber sich nicht trauen würde. „Kann ich Euch helfen?“ fragte ich und erschrak erstmal von meiner eingerosteten Stimme. Sie sah mir tief in die Augen ohne ein Wort zu sagen. Und plötzlich zuckte sie verschreckt einen Schritt zurück und eilte mit samt vollbeladenen Apfelkorb davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als ich ihr verwirrt hinterher sah, entdeckte ich einen Apfel vor dem Weidentor, der ihr vermutlich aus dem Korb gefallen war. Ich öffnete das Tor, bückte mich und hob die saftig-rote Frucht auf. Ich fragte mich, was sie hier wollte und weshalb sie so stürmisch davonrannte, als ich sie ansprach. Nachdenklich warf ich den Apfel hoch und fing ihn mit der Handinnenfläche auf, als ich zurück zu den Schafen lief. Dies wiederholte ich einige Male, bis ich meinen Vater entdeckte, der vor der Scheune stand und all das beobachtet hatte. Sein Gesichtsausdruck sah angespannt und erschrocken aus. Hatte er wohl die junge Frau erwartet? Ich dachte mir nichts weiter dabei und ließ mich wieder zu den Schafen nieder und beschloss, mit dem Scheren fortzufahren, während ich hin und wieder in den saftigen Apfel biss. Noch immer verfolgten mich die Gedanken, warum sie so eigenartig reagiert hatte. Erwachte auch ihre Erinnerung an mich? Ich konnte in diesem Moment kaum verstehen, warum sie so schnell aus meinem Gedächtnis verschwand, obwohl sie sich ja so nett um mich gekümmert hatte, als Luisa bei der Hinrichtung meiner Mutter beistand. Und da war er, der unerträgliche Schmerz in mir, der mich an diesen schrecklichen Tag erinnerte. Genau dies war der Grund, warum ich das Dorf und seine Bewohner mied. Ich war einfach nicht stark genug, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden und ich hasste mich dafür, diese Frau angesprochen zu haben, die auch noch mit meiner Vergangenheit verknüpft war. Ich wünschte mir nichts sehnlichster, als ihr niemals wieder zu begegnen.
Am selben Abend stellte mir mein Vater einen Teller mit Gemüseeintopf auf dem Tisch und setzte sich mir gegenüber. Er trank sehr viel Wein und wich mir jeglichen Blick aus, als ich zusah, wie er einen Becher nach dem anderen wegkippte. Er wirkte unruhiger wie sonst und starrte nachdenklich auf dem Boden, während er die Suppe löffelte. Ich fragte mich, was mit ihm los war und ich hatte das Gefühl, dass es wegen dieser jungen Frau war. Beinahe hätte ich ihn darauf angesprochen, denn das letzte was ich wollte war, wieder monatelang mit Fragen und Ungewissheit zu leben. Doch diesmal fiel es mir besonders schwer zu schweigen. Vielleicht weil ich älter geworden war und das Leben bewusster wahrnahm. Doch ehe ich nach so vielen Jahren endlich etwas sagen konnte, stand mein Vater auf und setzte sich – wie üblich – in seinem Sessel vor dem Kamin und starrte in die Flammen des Feuers, während er sich weiter mit Wein betrank. Auch ich gönnte mir zwei Becher von der süßen Sünde, um meinen Kopf frei zu kriegen, ehe ich die Leiter zu meinem Schlafgemach bestieg und auf das Dach starrte. Für einen kurzen Moment noch, ließ ich diesen merkwürdigen Tag Revue passieren, bis ich in den tiefen Schlaf versank. Noch ahnte ich nicht, welch‘ mächtige Auswirkung diese Begegnung mit der jungen Frau hatte - mein Vater stattdessen schon. Denn während ich seelenruhig schlief, nahm er mit zitternden Händen das gebundene Lederbuch zur Hand, welches meiner Mutter gehörte. Sanft strich er mit seinem Zeigefinger über das weiche Leder und seine Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln, welches er jahrelang verloren hatte. Seit dem Tod seiner Frau hatte er das Buch versteckt und geheim gehalten, doch nun war ihm gewiss, dass es Zeit war, die Wahrheit aufzudecken.