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Zeilen der Zukunft

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Es war ein milder, bewölkter Frühlingsmorgen - daran erinnere ich mich genau. Wie üblich stand ich bei Sonnenaufgang auf und bekleidete meinen Körper mit einer braunen Stoffhose, einer langärmligen weißen Tunika und einem leichten Schaffellmantel. So verließ ich die Hütte und öffnete die Scheunentür, um nach den Schafen und den Jungtieren zu sehen. Sie waren alle wohlauf und ich ließ sie auf die Weide hinaus. Als ich auf das Tor blickte, musste ich wieder an die junge Frau und ihrem merkwürdigen Gesichtsausdruck denken. So sehr ich auch die Dorfbewohner verachtete – ich besaß eben auch einen gewissen männlichen Stolz und wollte dort keineswegs als Hirtenschreck verrufen sein. Wütend nahm ich zwei große Tongefäße aus der Scheune, um einige Schafe zu melken. Ich war voller Hoffnung auf andere Gedanken zu kommen, doch es ließ mich einfach nicht los, warum sich die junge Frau so schreckhaft von mir abgewandt hatte.

Die Sonne kämpfte sich inzwischen aus der Wolkendecke heraus und stand am höchsten Punkt des Himmels. Ich nahm die mit Milch gefüllten Tongefäße in die Hände und trug sie ins Haus hinein, wo ich meinen Vater erwartete, der sich bereit machen würde ins Dorf zu gehen. Doch die Feuerstelle war nicht entzündet und es fehlte jede Spur von ihm. Am gestrigen Tage war viel Wein geflossen, es hätte mich nicht gewundert, wenn er noch in seinem Schlafgemach gelegen wäre. So goss ich mir einen Becher der frischen Milch ein und aß etwas Brot mit Käse. Danach setzte ich mich hinaus auf die Weide und beobachtete die Schafe, welche sich mit dem saftigen Gras ihre Bäuche vollfraßen. Hin und wieder erwischte ich mich dabei, wie ich erneut zum Weidentor blickte. Immer wieder schüttelte ich energisch den Kopf und versuchte, sie aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich legte mich entspannt ins feuchte Gras und schloss die Augen, damit ich endlich abschalten könnte.

Am späten Nachmittag tröpfelten einige Regentropfen auf meine Nasenspitze. Ich öffnete die Augen und sprang sofort auf um die Schafe in die Scheune zu treiben. Als dies erledigt war, regnete es in Strömen und ich betrat die Hütte, welche noch immer nicht durch das angeschürte Feuer aufgewärmt war. Es machte mich langsam stutzig, dass Vater immer noch schlief. Mit durchnässter Kleidung näherte ich mich seiner Stube und lugte vorsichtig hinein. Als ich niemanden im Bett liegen sah, betrat ich sie und schaute mich um. All seine Gewänder, Lederstiefel und sein komplettes Hirtenequipment waren verschwunden. Auch die Schafwolldecken, in denen er schlief, lagen nicht mehr da wo sie einst waren. Dieser Raum war wie leergefegt, es sah so aus, als hätte hier niemand außer mir sonst gewohnt. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, dass er mich verlassen haben könnte – doch hatte er einen Grund dazu? Er liebte seine Weide abgöttisch, warum sollte er sie mir einfach so überlassen? Nachdenklich befreite ich mich von der nassen Kleidung, bekleidete mich mit einer neuen Tunika, schürte ein Feuer und setzte mich mit einem Becher Wein davor. Ich fragte mich, ob er vielleicht ins Dorf gegangen war, um Geschäfte zu erledigen, doch noch nie hatte er sich so lange Zeit dort aufgehalten. Aus irgendeinem Grund ließ mich die Ungewissheit keine Ruhe, so sprang ich auf und verließ das Haus um in die Scheune zu gehen. Der Regen prasselte auf mich nieder, der Wind sauste stürmisch durch meine Haare. Ich öffnete die Scheune und sah nach, ob der Handwagen an seinem Platz stehen würde. Als ich ihn in der üblichen Ecke stehen sah, wusste ich gar nicht richtig, ob ich mich freuen sollte oder ich mir Sorgen machen müsste. Es stand zumindest fest, dass er nicht ins Dorf gegangen war.

Bis spät in die Nacht saß ich in seinem Sessel vor dem Feuer und betrank ich mich mit Wein, um den Gedanken zu verdrängen, dass er mich verlassen hatte. Auch wenn wir die letzten Jahre kein herzliches Verhältnis zueinander hatten, kränkte mich die Tatsache, dass er einfach so emotionslos gehen konnte. Dies war für mich wieder der klare Beweis, dass er ein Mann ohne Herz war, der seine Frau ohne Gewissen auf dem Scheiterhaufen sterben und seinen Sohn allein auf einer riesigen Weide mit dutzenden Schafen zurückließ. Es machte mich wütend, dass ich mich nach dem Tod meiner Mutter erneut auf ihn eingelassen hatte und nun wieder von ihm enttäuscht worden war. Wie konnte ich nur so naiv sein? Verkrampft saß ich vor dem Feuer und krallte meine Finger in den Becher, um meine Wut unter Kontrolle zu halten. Doch je mehr ich trank, umso stärker wurde sie und ich konnte kaum noch klar denken. Torkelnd stand ich irgendwann auf und lief noch einmal in seine Stube. „Du elendiger Hund!“ rief ich. „Du solltest dich schämen! Das Fegefeuer soll dich bestrafen, für all die Dinge, die du uns angetan hast! Leiden sollst du, Vater! Und zwar genauso, wie du uns hast leiden lassen!“ brüllte ich weiter und hickste dabei. Und plötzlich entdeckte ich es - das verstaubte Lederbuch, welches meine Mutter einst in den Händen hielt. Sofort stellte ich meinen Weinbecher auf Vaters Tisch ab und nahm das Buch in die Hand. Ich strich mit meinem Zeigefinger über das braune Leder und dessen aufwendig verzierten Ornamenten. Es war etwas eingestaubt, ansonsten sah es genauso aus, wie es Mutter damals vom Dorf mitgebracht hatte. Erst lächelte ich, weil ich mich freute, von ihr ein Erinnerungsstück zu haben. Doch dann wurde mir klar, dass es Vater all die Jahre von mir versteckt hatte. Enorme Wut brodelte in mir - so trank ich einen weiteren Schluck aus meinem Weinbecher und stieß mit voller Kraft mit meinem Stiefel gegen sein Bett. „Du Teufel! Wie konntest du es nur von mir verstecken?“ brüllte ich und schlug immer wieder gegen die Holzbeine. Doch das war keine Genugtuung für mich. Ich griff nach den Ecken des kleinen Holztisches und warf ihn mit voller Wucht um, so dass ein Tischbein abbrach. Ich stieß diesmal nicht nur mit meinem Fuß dagegen, sondern benutzte nun auch meine Fäuste, die rasend schnell auf das Massivholz prallten. Der Alkohol hatte mich so betäubt, dass ich gar nicht bemerkte, welch‘ tiefe Verletzungen ich meinen Händen zuzog und wie sehr sie bluteten. Erst nachdem das Zimmer vollkommen verwüstet war, fiel ich erschöpft auf die Knie und kauerte mich auf dem Boden zusammen. Es dauerte nicht lange, ehe mich der Alkohol in meiner Blutbahn in einem berauschenden Schlaf verbannte.

Es war Mittagsstunde, als ich zum ersten Mal erwachte. Mein Kopf schmerzte höllisch und es drehte sich noch immer alles um mich herum. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich mich zu orientieren, bis mir bewusst wurde wo ich mich befand. Dann blickte ich auf meine beiden aufgeschürften und zugleich blutigen Handrücken, die wie Feuer brannten. Vorsichtig stützte ich mich ab und stand mit wackeligen Beinen auf. Auch diese schmerzten sehr und ich wagte es erst gar nicht, meine Stiefel auszuziehen, um nach den Wunden an meinen Füßen zu sehen. Ausdruckslos sah ich mich in Vaters Stube um und betrachtete mein Werk, welches aus purem Hass und endloser Wut entstanden war. Ich strich mit meinen Händen durch mein strubbliges, nassgeschwitztes Haar und in diesem Moment überkam mich ein enormes Durstgefühl. Sofort verließ ich die Stube und trank mehrere Becher Wasser hintereinander, welches meine trockene Kehle befeuchtete. Ich fühlte mich schwach und zittrig – ein lautes Magenknurren signalisierte mir, dass ich unbedingt Nahrung zu mir nehmen musste. So bereitete ich mir völlig lieblos einen Haferbrei zu und biss hin- und wieder in ein mittlerweile steinhartes Brot hinein. Während ich aß, dachte ich wieder an meinem Vater und konnte kaum glauben, dass ich nun wirklich allein war. Ein junger Mann, der Hirte sein musste. Ein Hirte, der keiner sein wollte. Noch immer war ich wütend auf ihn und ich ärgerte mich, dass ich ihm nie zuvorgekommen war und verlassen hatte. Nun war ich auf mich allein gestellt und war gezwungen, mein Leben lang auf dieser Weide festzusitzen, während er sich irgendwo anders ein schönes Leben machte. Ich biss mir auf die Lippen und versuchte mich zu beruhigen, schließlich wollte ich nicht noch mehr kaputt machen.

Nachdem ich aufgegessen hatte, öffnete ich die Tür des Hauses und schnappte tief nach Luft, welche meinen Kreislauf etwas stabilisierte. Doch der Schwindel ließ nicht so schnell nach und mir war gewiss, dass ich mich trotz alledem so schnell wie möglich um die Schafe kümmern musste, da ich den Morgen schon zu lange verschlafen hatte.

Die Sonne schien an diesem Tag wieder angenehm warm herab - vom nächtlichen Sturm war keine Spur mehr wahrzunehmen. Sofort begab ich mich – noch etwas torkelnd – zur Scheune und ließ die Schafe frei, die hysterisch auf die Weide rannten. Mit jeder Bewegung die ich machte, fühlte ich mich elendig und ich beschloss mich etwas abzukühlen. Ich näherte mich dem kleinen Wasserbrunnen, welcher mitten auf der Weide stand. Durch den Sturm letzte Nacht war er bis oben hin gefüllt und ich tauchte meinen Kopf in das eiskalte Wasser hinein, welches mich prompt wachrüttelte. Auch meine Hände kühlte ich darin und entfernte das getrocknete Blut. Während ich das machte, erinnerte ich mich plötzlich an Mutters Lederbuch, welches ich letzte Nacht auf Vaters Tisch fand. Mein Herz begann zu rasen. Wie konnte ich das nur vergessen? Sofort trocknete ich meine nassen Hände an meiner Stoffhose ab und eilte in die Hütte hinein. Hektisch durchforstete ich die ganze Stube und hielt panisch Ausschau nach dem Schatz. Als ich es unversehrt auf dem Boden liegen sah, atmete ich erleichtert auf und nahm es zur Hand. Ich beschloss es mir genauer anzusehen und nahm es mit nach draußen auf die Weide. Ich setzte mich ins feuchte Gras und öffnete es mit zitternden Händen.

Der mutige Hirte

Eine Geschichte für meinen Sohn Jacob

Von Claire Buckley

Schon nach den ersten Zeilen wurde mir ganz warm ums Herz. Es tat gut, ihre sanfte Handschrift zu sehen, die ihren gutmütigen Charakter widerspiegelte. Es war hart für mich weiterzulesen, doch scheinbar hatte sie diese Geschichte nur für mich geschrieben, die mir so lange Zeit von meinem Vater vorenthalten worden war. Es wäre eine Schande gewesen, wenn ich nicht weitergelesen hätte.

Ein junger Hirte, verträumt und verloren

tief im Herzen - ein Traum fest verborgen.

Tagtäglich schaute er grimmig drein,

denn er wollte niemals Hirte sein.

Gefangen auf der Weide, ihm war bewusst,

dass dies sein Schicksal sein muss.

Ich machte eine kurze Pause und fragte mich, ob sie wohl mich mit dem Hirten meinte. Es rührte mich einerseits, dass sich mich daran erinnerte, wie sehr ich als Kind an diesen einen bestimmten Traum festhielt. Doch andererseits hörte sich das so an, als hätte sie mich damals nur ermutigen wollen, doch innerlich ganz klar gewusst, dass ich immer ein Hirte werden würde. Es kränkte mich, dass ich der Mensch geworden war, der ich nie sein wollte. Ich überlegte dreimal, ob ich weiterlesen sollte, weil ich es einfach nicht wahrhabe wollte, was sie da schrieb. Doch dann tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass es ja nur eine Geschichte sei, die sich meine Mutter für mich ausgedacht hatte. So las ich im warmen Sonnenlicht seelenruhig weiter:

Da stand sie plötzlich einfach da,

am helllichten Tag, der Himmel so klar.

So lieblich, schön und schüchtern,

doch traute sich kein Wort zu flüstern.

Da ergriff sie – geschwind – weit weg die Flucht,

verlor dabei – aus dem Korbe – saftige Frucht.

Nach diesen Sätzen erschrak ich und schlug das Buch zu. Ich überlegte. Dieses Geschehnis hatte sich tatsächlich ereignet, wie konnte es nur sein, dass meine Mutter das schrieb? War das reiner Zufall? Ich las die letzten Sätze noch einmal. Nein, es ereignete sich definitiv genauso, wie sie es schrieb. Aber wie konnte das meine Mutter nur wissen? Sie lebte zwar, als sie diese Zeilen erfasste, doch war längst schon tot, als ich das Mädchen traf. Schlagartig bekam ich Gänsehaut und in diesem Moment, kam mir wieder die ganze Vergangenheit hoch.

„Claire Buckley hat in den heiligen Wänden Gottes gestanden, die Zukunft unseres Dorfes vorauszusehen. Dies ist nicht nur Gotteslästerung, sondern auch das Werk des Teufels, der Claire Buckleys Körper nutzt, um unser Volk zu schaden.“ rief der adelige Grundherr, Lord Kane, in die Menschenmasse hinein. „Hexe!“, „Dämonin!“, „Verbrennt ihre Seele!“

In meinem Kopf konnte ich plötzlich – wie damals - die beängstigenden Stimmen des Volkes hören. Instinktiv hielt ich mit den Händen meine Ohren zu, um diese schrecklichen Erinnerungen zu verdrängen, doch zu laut waren die Stimmen des Todes. Sofort stand ich auf, rannte wieder zum Brunnen und tränkte meinen Kopf erneut in das eiskalte Wasser hinein. Erst nachdem ich wieder auftauchte, stützte ich mich mit den Armen an den Rändern des Brunnens ab und starrte auf die klare Wasseroberfläche, die mein Gesicht spiegelte. Ich blickte in mein erwachsenes Gesicht und erkannte die Züge meiner Mutter. War sie wirklich eine Hexe? Konnte sie die Zukunft tatsächlich voraussehen? Ich schüttelte den Kopf und vergrub mein Gesicht in den Händen – überwältigt von dem Gefühl des Verlustes und Schmerzes. Es war alles viel zu viel für mich. Doch mein Kopf ließ nicht locker, er arbeitete in Hochtouren, versuchte Antworten zu finden und nach dem Sinn zu fragen. Es zerriss mich innerlich, weil ich es einfach nicht an mir vorbeiziehen lassen konnte. So tauchte ich wieder meinen Kopf in das eiskalte Wasser und ich überlegte mir für eine Sekunde, niemals mehr aufzutauchen.

Am Ende des Tages ließ ich mich müde in Vaters Sessel nieder, nachdem ich ein Feuer geschürt hatte. Den ganzen Tag lang reinigte ich die Scheune, um auf andere Gedanken zu kommen. Und nun lag das Buch wieder vor meiner Nase auf der Kaminkante und ich starrte es pausenlos an, während meine Finger nervös auf den Armlehnen des Sessels auf- und abgingen. Einerseits wollte ich mit meinem Leben in Reinen kommen und das dunkle Kapitel der Vergangenheit abhaken, andererseits juckte es in meinen Fingern, das Buch in meinen Händen zu halten und vielleicht endlich Antworten auf meine Fragen zu bekommen, die mich jahrelang auffraßen. Unentschlossen stand ich auf, nahm das Buch und strich über das weiche Leder, welches mich an Mutter erinnerte.

„Was ist das?“ fragte ich neugierig. Meine Mutter lächelte. „Das ist ein Buch mit leeren Seiten.“ „Leere Seiten? Dann ist es aber kein Buch!“ widersprach ich. „Noch nicht, Jacob. Die Geschichte muss erst geschrieben werden.“

Sofort kniff ich die Augen zu und überlegte für einen Moment, ob ich das Buch nicht lieber ins Feuer werfen sollte, damit der Spuk sein Ende nehmen würde. Doch wieder mal war ich einfach nicht mutig genug. Stattdessen legte ich es wieder auf seinen Platz, suchte verärgert mein Schlafgemach auf und war froh, dass dieser Tag endlich vorbei war.


Prophezeiung - Zeilen der Zukunft

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