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Die Flammen des Todes

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Erst am späten Nachmittag öffnete ich zum ersten Mal die Augen. Ich blickte auf ein unbekanntes Dach und versuchte mich zwanghaft zu orientieren. „Mutter, er ist aufgewacht!“ rief eine piepende Stimme. Vorsichtig neigte ich meinen Kopf zur Seite und sah ein Mädchen meines Alters, die gerade dabei war, meine Stirn mit einem feuchten Tuch abzutupfen. Ich konnte spüren, wie sehr ich glühte und meine Haare waren pitschnass geschwitzt. Und plötzlich stand Luisa neben ihr, die mich besorgt ansah. „Na los, hol ihn einen Becher Wasser.“ sagte sie prompt und das Mädchen räumte den Platz. Nun setzte sich Luisa neben mich an das Bett und musterte mich. „Wie geht es dir, Jacob?“ fragte sie mich. Ich blickte verwirrt in ihr errötetes Gesicht und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Und plötzlich kamen die Erinnerungen zurück. „Mutter!“ flüsterte ich und setzte mich sofort auf. „Ich muss zu Mutter!“ rief ich dann hysterisch. „Du kannst jetzt nicht zu deiner Mutter, Jacob.“ Sie legte eine Hand auf meine Schulter und in diesem Moment kam das Mädchen mit einem Becher Wasser zurück. Sie reichte es mir und versuchte zu lächeln, dennoch konnte ich in ihren großen grünen Augen etwas Mitleid sehen. Das Mädchen hatte braunes, langes Haar welches zu zwei Zöpfen geflochten war und auf ihrem Gesicht sprießten überall Sommersprossen. Sie trug ein langärmliches, weinrotes Kleid mit einer weißen Schürze, die von einigen Schmutzflecken befallen war. Nachdem ich sie gemustert hatte, nahm ich den Becher entgegen und trank hastig daraus. Währenddessen spielte sich das Geschehnis mit meiner Mutter noch einmal vor meinen Augen ab und ich konnte einfach nicht glauben, was passiert war. Die Tatsache, dass meine Mutter hinter Gittern saß und schlimmstenfalls hingerichtet werden würde, brachte mich fast um den Verstand.

Ich gab dem Mädchen den leeren Becher zurück und versuchte aufzustehen. „Wo willst du denn hin? Du solltest dich ausruhen, Jacob!“ riet mir Luisa im strengen Ton. „Nein, ich muss zu meinem Vater!“ rief ich und riss mich von ihr los, als sie mich festhalten wollte. So rannte ich zur Tür und verließ die Hütte, welche in einer der dunklen, verwinkelten Gassen lag. Ich eilte durch sie hindurch, rammte einige Dorfbewohner die mir entgegenkamen, die mich mit „Pass doch auf, du Narr!“ oder „Welch‘ unverschämter Knabe!“ beschimpften. Doch das juckte mich überhaupt nicht, ich wollte nur noch zu meinem Vater, der meine Mutter aus diesem Albtraum herausholen würde. Ganz bestimmt.

Als ich das Dorf endlich verlassen hatte und auf der vertrauten Holzbrücke stand, lehnte ich mich kurz an das Holzgerüst und schnappte nach Luft. Erschöpft nahm ich einen letzten tiefen Atemzug ehe ich weiterrannte. Die Steigung des Hügels gab mir nochmal den Rest und ich versuchte gleichmäßig weiter zu atmen, doch es fühlte sich so an, als würde ich jeden Moment ersticken. Aus der Ferne konnte ich schon unsere Weide sehen, so kniff ich die Zähne zusammen und rannte weiter – mit der Gewissheit, es gleich geschafft zu haben. Noch bevor ich das Weidentor erreichte, schrie ich: „Vater! Vater! Vater!“ Stürmisch überquerte ich die Weide und hielt Ausschau nach ihm. Nochmals rief ich nach ihm, bis er endlich aus der Scheune kam. Erleichtert rannte ich auf ihn zu und er musterte mich mit weiten Augen. Mir kam es so vor, als wüsste er schon, dass etwas Schreckliches passiert war. „Mutter wird im Kerker gefangen gehalten! Sie wollen sie hinrichten und wir müssen sie befreien, Vater! Komm schnell!“ rief ich und lehnte mich völlig atemlos nach vorn, um wieder Luft zu kriegen. Erschrocken blickte er in die Richtung des Dorfes und legte seinen Hirtenstab beiseite. Erwartungsvoll blickte ich ihm in sein angespanntes Gesicht, bis er eiskalt antwortete: „Deine Mutter hat es nicht anders gewollt. Ich habe sie davor gewarnt.“ Nach diesen herzlosen Worten wandte er sich dann von mir ab. „Was?! Aber Vater, das kannst du doch nicht zulassen! Sie hat nichts getan - wir müssen sie da rausholen und zwar schnell!“ rief ich wieder und brach sofort in Tränen aus. Er ignorierte mich und kehrte mit ernster Miene einen Strohhügel zusammen. „Aber Vater, willst du denn, dass sie stirbt?“ fragte ich ihn und meine Stimme versagte beim letzten Wort. Ohne mich anzusehen, antwortete er mit seiner tiefen Stimme: „Nein, das möchte ich nicht. Sie hat ihren Tod selbst gewählt – das ist ein Unterschied.“ Mit diesen kühlen Worten hatte ich gewiss nicht gerechnet, so sackten meine butterweichen Beine zusammen und ich fiel mit den Knien auf den Boden. Ich stützte mich auf den Händen ab und bekam kein einziges Wort mehr heraus. Die Tränen kullerten über mein Gesicht und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich wimmerte lautstark vor mich hin - war kraftlos und müde. Meine einzige Hoffnung wurde nun zerstört - von meinem eigenen Vater, der seine Frau – meine Mutter – scheinbar nicht genug liebte um sie zu retten. Doch ich liebte sie - mehr als er sich erdenken konnte. Es fraß mich innerlich auf, dass ich nichts tun konnte, ich war schließlich nur ein kleiner, dummer Junge, der noch nicht erwachsen und mutig genug war, um zu handeln. Und plötzlich erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter, letzte Nacht in der Scheune: „Du hast etwas, was dein Vater nicht hat.“ „Und was wäre das, Mutter?“ „Du hast großen Mut, Jacob. Zwar schlummert es noch in dir, doch du besitzt eine Menge davon.“ In diesem Moment krallte ich wütend meine Hände in den Erdboden. „Mutter hatte Recht!“ brüllte ich lautstark und blickte provozierend zu meinem Vater, der mir immer noch den Rücken zuwandte. „Du bist der größte Feigling, den ich kenne! Ich bin nicht so wie du und werde auch niemals so sein, hörst du!“ Ich wartete kurz auf eine Reaktion, doch er unterbrach weder seine Arbeit, noch antwortete er auf meinen Wutausbruch. Noch nie zuvor hatte ich mich getraut, mich gegen ihn zu verschwören doch zu groß war meine Wut, die in mir kochte. „Du verdammter Feigling!“ brüllte ich wieder, wischte mir mit meinem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Zum ersten Mal fühlte ich mich mutig, was mich dazu motivierte, meinen Vater weiter zu beschimpfen. Doch bevor ich den nächsten Brüller loslassen konnte, kam er plötzlich auf mich zu und gab mir eine Ohrfeige, die in der ganzen Scheune erschallte. Erschrocken blickte ich noch für einen Moment in seine bösen Augen, ehe ich mich umdrehte und über die Weide rannte. Der kleine Funken Mut, der kurz in mir geleuchtet hatte, war bereits wieder erloschen - so rannte ich zurück in die Richtung des Dorfes, ohne Plan und ohne jegliche Hoffnung. Ich nahm nicht mal den kühlen Wind wahr, der durch meine wuscheligen Haare blies, während ich den steilen Hügel hinunterrannte. Ich wollte einfach nur weg – weg von meinem herzlosen Vater, der meine geliebte Mutter einfach so losließ. Kein einziges Mal dachte ich darüber nach, wo ich nun hingehen sollte, meine Beine trugen mich einfach durch die dunklen Gassen des Dorfes, bis ich vor Luisas Tür stand und stürmisch daran klopfte. Sofort wurde sie geöffnet, doch ich konnte einfach nichts sagen. Mir wurde schwindelig, ich sah alles verschwommen und kniff mir konzentriert die Augen zu. Luisa sprang auf mich zu und begleitete mich in das Haus hinein, in dem ich an diesem Tag schon einmal aufgewacht war. Luisa reichte mir ein warmes Getränk, in dem verschiedene Kräuter schwammen. Durstig trank ich den Becher aus und ehe mir bewusst wurde welch‘ betäubende Wirkung dieses Getränk hatte, entkrampfte sich mein angespannter Kiefer, meine zusammengeballten Hände lösten sich und ich fühlte mich plötzlich leicht wie eine Feder. Ich merkte, wie meine Muskeln erschlafften und mein ganzer Körper zusammensackte - ich hatte auf einmal keine Kontrolle mehr über mich. Nur noch erinnerte ich mich an das Mädchen, das mich mit ihren neugierigen, großen Augen beobachtete, wie sich mein Kopf langsam dem weichen Stroh näherte. Ich konnte spüren, wie sie eine warme Decke über mich legte und mit ihrer zierlichen Hand über meinen Kopf streichelte. Je mehr ich mich innerlich gegen diese Betäubung wehrte, umso müder wurde ich, bis ich den Kampf gegen die starke Kräutermischung endgültig verloren hatte.

Erst am nächsten Tag öffnete ich zum ersten Mal die Augen. Es war still um mich - man konnte nur das Knistern der Feuerstelle hören und ich blickte mich verwirrt um. Sofort nahm ich das Mädchen wahr, das neben mir auf einem Stuhl saß und mich musterte, so als hätte sie die ganze Nacht nichts anderes getan. Sie trug eine weiße, langärmliche Bluse mit einem schwarzen, kurzärmligen Kleid darüber. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten und vereinzelte Strähnchen hingen in ihr kleines, dünnes Gesicht. Als ich in ihre großen, grünen Augen blickte, versuchte sie mit ihren schmalen Lippen zu lächeln. „Sei gegrüßt, Jacob.“ sagte sie dann und ich war fasziniert von ihrer piependen und sanften Stimme, die mich an meiner Mutter erinnerte. „Möchtest du etwas trinken?“ fragte sie und reichte mir einen Becher. Ich lugte vorsichtig hinein, um sicherzugehen, dass nicht wieder irgendwelche Kräuter darin schwammen die mich erneut betäuben würden. Als sie meinen skeptischen Blick folgte, fügte sie dann hinzu: „Keine Sorge, das ist nur Wasser.“ Ihr Lächeln überzeugte mich und ich trank hastig aus dem Becher. Währenddessen versuchte ich mich zu erinnern, was genau passiert war. Ich legte eine Hand auf meine brennende Backe, die mich an Vaters Ohrfeige zurückblicken ließ. Ein wütendes Gefühl brodelte in mir, als ich langsam in die Realität zurückkehrte. „Möchtest du etwas essen?“ unterbrach das Mädchen meine Gedanken. „Nein, ich muss zu meiner Mutter.“ antwortete ich und setzte mich auf. Es drehte sich alles um mich herum und ich konnte spüren, dass diese verdammten Kräuter noch leicht wirkten. So blieb ich einen kurzen Moment sitzen und sah dem Mädchen in ihr sommersprossiges Gesicht, aus welchem ich wieder einen bemitleidenden Blick lesen konnte. Dann fiel mir plötzlich auf, dass wir ganz allein waren und das machte mich wahrlich stutzig. „Wo ist Luisa?“ fragte ich. „Auf dem Markt.“ antwortete sie knapp. Als ich weiter darüber nachdachte, stand sie auf und brachte mir eine Scheibe Brot mit einem kleinen Stück Käse. „Hier, iss‘ das, es wird dir guttun.“ Sie sah mir gar nicht mehr ins Gesicht, sondern starrte verlegen auf dem Boden während sie es mir reichte. Und da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich stand sofort auf und lief mit wackeligen Beinen zur Tür. „Wo willst du hin?“ rief sie. „Zu meiner Mutter!“ antwortete ich lautstark. „Aber das darfst du nicht, Jacob!“ Sie stampfte auf mich zu und versuchte mich festzuhalten. Ich war verblüfft von ihrem verborgenen Temperament. Demonstrativ öffnete ich die Tür und wollte gehen, doch sie hielt mich weiterhin am Arm fest. „Lass mich los!“ brüllte ich. „Du darfst nicht gehen, Jacob!“ rief sie wieder und ließ sich plötzlich fallen, sodass mich ihr Gewicht nach unten zog und auf die Knie fielen ließ. Das ging mir wahrlich zu weit. Ich rappelte mich auf und wollte losrennen, doch das Mädchen war schon längst wieder auf den Beinen und hielt mich erneut am Arm fest. Mit voller Kraft schubste ich sie zurück in die Hütte und sah nur noch, wie sie rückwärts zu Boden fiel und mit voller Wucht auf dem Hinterkopf aufschlug. Überwältigt von der Sorge um meine Mutter, rannte ich närrischer Knabe einfach davon, ohne zu wissen, dass ich das bewusstlose Mädchen ganz allein und mit blutender Kopfplatzwunde zurückgelassen hatte.

Es war ruhig in den Gassen des Dorfes – keine Menschenseele kam mir entgegen und ich befürchtete, dass dies kein gutes Zeichen war. In diesem Moment nahm ich den Geruch von Feuer und die große Rauchwolke wahr, die gen Himmel stieg. Panisch rannte ich zum Marktplatz und entdeckte all die Menschen um einen bereits brennenden Scheiterhaufen. „Claire Buckley hat in den heiligen Wänden Gottes gestanden, die Zukunft unseres Dorfes vorauszusehen. Dies ist nicht nur Gotteslästerung, sondern auch das Werk des Teufels, der Claire Buckleys Körper benutzt, um unser Volk zu schaden.“ rief Lord Kane in die Menschenmasse hinein. „Hexe!“, „Dämonin!“, „Verbrennt ihre Seele!“ hörte man das Volk nach diesem Urteil rufen. Mein Kopf war völlig durcheinander und an der frischen Luft bemerkte ich, wie benebelt ich noch war. Wie versteinert stand ich da – konnte weder schreien noch weitergehen. Mein Körper verkrampfte sich wieder, mein Atem beschleunigte sich. Ich sah meine Mutter, angeseilt an einem Pfahl, der von feuchtem Stroh umgeben war. Ihre Haare hingen ihr ins Gesicht, ihr Blick wirkte entspannt und desinteressiert - selbst als die Flammen näher zu ihrem zierlichen Körper krochen. Sie würdigte der Menschenmasse keines Blickes, sondern starrte immer geradeaus, auf die gleiche Stelle. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich ihren Blick folgte und meinen Vater sah. Er stand abseits der Menschenmasse und erwiderte ebenfalls mit leerem und kühlem Gesichtsausdruck ihren Blick. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und konnte nicht fassen, dass er einfach so zusehen konnte, wie die Flammen um meine Mutter tanzten. Es fühlte sich so an, als wäre ich in einem Albtraum gefangen, aus dem ich mich befreien wollte, aber nicht genug Kraft besaß. Wieder sah ich meiner Mutter ins Gesicht, als die Flammen immer näher zu ihrem Körper krochen und das Dorf sie weiterhin als Hexe beschimpfte. Der Schmerz in mir fraß mich innerlich auf - ich wollte schreien und sie von ihrem Leid befreien, doch ich konnte es einfach nicht. Sie hatte einen solch‘ friedlichen Ausdruck im Gesicht, was mich an ihre Worte im Kerker erinnerte. „Mein Tod hat einen Sinn, mein Kind. Ich werde gehen müssen, damit jemand anderes bleiben kann. Jacob, ich gebe dir mein Wort, du wirst es verstehen, sobald die Zeit gekommen ist.“ Es fühlte sich so an, als würde sie mir diesen Satz noch einmal sagen. Er wiederholte sich mehrmals in meinem Kopf und ich genoss ihre sanfte Stimme, die meine geballten Fäuste entspannen ließen. Und in diesem Moment wich sie den Blick meines Vaters ab und sah mir direkt in die Augen, so als hätte sie meine Anwesenheit gespürt. Der schwarze Rauch blies in ihr hübsches Gesicht, doch ich konnte ihre leicht geformten Mundwinkel sehen, welches mir versicherte, es bald zu verstehen. Dann schloss sie die Augen, sank den Kopf nach unten und verlor durch die mächtige Rauchwolke das Bewusstsein, noch bevor die lichterlohen Flammen ihren ganzen Körper zerfraßen.

Nachdem meine Mutter von uns fortgegangen war, regnete es tagelang am Stück, es war so, als würde nicht nur ich um sie weinen, sondern auch der Himmel. Ich lag den ganzen Tag lang in meinem Schlafgemach, starrte auf das Dach und war traumatisiert von dem Geschehen, welches mir tausend Fragen bereitete. Meine Seele war wie ausgelöscht, es schien so, als würde mein Körper nur noch eine leere Hülle sein, die einfach nur noch existierte und langsam vor sich hinvegetierte. Meine Freude für das Leben war verschwunden, nicht mal interessierten mich die Bücher, die mich mit ihren Worten und Buchstaben sonst so glücklich machten.

Meinem Vater ging ich strikt aus dem Weg, ich hatte sogar das Gefühl, dass er es genauso tat. Wir tauschten keine Worte mehr miteinander aus, blickten uns nicht mehr in die Augen oder tafelten gemeinsam. Er kümmerte sich den ganzen langen Tag um die Schafe, kochte am Abend etwas zu essen und stellte mir einen Teller an die Tischecke, welchen ich mir erst holte, nachdem er sich betrunken hatte und in den tiefen Schlaf versank.

Es war nun Winter - meine Trauer verwandelte sich in Wut. Ich entwickelte Hass für das Dorf, für meinen Vater und für mich selbst. Andauernd stellte ich mir die Frage, ob ich meine Mutter auf irgendeiner Weise doch hätte retten können, doch mir fiel einfach nicht mehr dazu ein. Ich war eben noch viel zu jung, um wie ein Mann zu handeln. Und diese Tatsache machte meinen Hass nicht besser. Ich überlegte manchmal, einfach wegzulaufen und ein anderes Dorf aufzusuchen. Doch dazu fehlte mir jeglicher Mut. Oft dachte ich an die Worte meiner Mutter, als wir in der Scheune saßen. „Du hast großen Mut, Jacob. Zwar schlummert es noch in dir, doch du besitzt eine Menge davon.“ Ich hörte sie das immer wieder sagen, bevor ich mich in den Schlaf weinte, denn ich erkannte, dass sie Unrecht hatte. Und das Schlimmste daran war, dass meine Mutter es auch wusste, weil ich einfach so zusah, wie sie in den Flammen starb. Ich war also doch wie mein feiger Vater und dieser Gedanke ließ meinen Hass für ihn noch tiefgründiger werden. Mein Leben bestand also - neben Hass und Selbstzweifel - nur noch aus Schweigen und Distanzierung.

Der Winter war bitterlich kalt und er zog sich eine halbe Ewigkeit. Selbst ein paar Schafe waren zu schwach und erlagen dem frostigen Tode. Weiterhin zog ich mich zurück und vermied jeglichen Kontakt meines Vaters, der genauso stumm vor sich hinlebte – und dies schien ihm nicht mal zu stören. Die schmerzhaften Fragen die ich mir stellte, veränderten sich mit der Zeit. Gewiss beschäftigte ich mich noch immer damit, ob es einen Ausweg hätte geben können und ich einfach nur zu blind war, ihn zu sehen. Doch auch war mir bewusst, dass meine Mutter nun Tod war und ich daran nichts mehr ändern konnte. So quälte mich die Frage, aus welchem Grund man sie sterben ließ, was sie verbrochen hatte, um solch einen qualvollen Tod einzuleiten. Ich sehnte mich nach Antworten, doch dafür hätte ich entweder ins Dorf gehen oder meinen Vater fragen müssen. Beide Möglichkeiten waren für mich ausgeschlossen.

„Claire McCarthy hat in den heiligen Wänden Gottes gestanden, die Zukunft unseres Dorfes vorauszusehen. Dies ist nicht nur Gotteslästerung, sondern auch das Werk des Teufels, der Claire Buckleys Körper nutzt, um unser Volk zu schaden.“

Dies waren die Worte von Lord Kane, an welche ich mich noch erinnern konnte, bevor das Feuer entfacht wurde. Tag für Tag fragte ich mich, warum meine Mutter nur so etwas getan haben könnte. Die Zukunft voraussehen? Mir war bewusst, dass dies Hexerei war, doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen und daran glauben, dass sie eine Hexe ist. Es musste ein Irrtum gewesen sein – ein Hirngespinst, was das Dorf erfunden hatte und zum Tod meiner Mutter führte. Dieser Gedanke war keine Antwort, sondern eher ein Seelentrost eines 12-jährigen Jungen, der nur versuchte, einen Schuldigen zu finden. Diese Ansicht half mir, die Trauer und den Verlust besser zu verstehen und zu verarbeiten - der natürliche Instinkt des Menschen, um mit dem Schmerz weiterleben zu können. Es dauerte zwar noch eine Weile, doch irgendwann weinte ich mich nicht mehr in den Schlaf und war auf dem richtigen Weg zu mir zurückzufinden. Es gab allerdings zwei Dinge die ich mir fest vornahm: Nie wieder einen Fuß in dieses abscheuliche Dorf zu setzen und eines Tages diese trostlose Weide für immer zu verlassen. Doch dafür musste ich erst einmal erwachsen werden und nur eine einzige Person kam infrage, die mir das beibringen konnte. Und dies zuzulassen, würde mich die größte Überwindung kosten.

Es war Frühsommer, als ich zum ersten Mal meine Filzkappe auf dem Kopf setzte und auf die Weide lief. Die Sonne strahlte mir sanft in mein blasses Gesicht und ich atmete die frische, feuchte Landluft ein. Ich erwischte mich dabei, wie ich kurz lächelte. Ein Gefühl, welches ich schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Tagtäglich sah ich meinem Vater dabei zu, wie er mit den Schafen arbeitete. Ich nahm genau unter die Lupe, wie er mit ihnen umging, wie er sie einfing, festhielt und losließ. Ich hörte zu, wie und was er mit ihnen redete und versuchte mir die Melodien seines Pfeifens zu merken, mit denen er die Schafe beruhigte und bändigte. Ich lugte ihm über die Schulter, wie er bei Geburt, Krankheit oder Tod eines Schafes handelte. Niemals sprach mich mein Vater an oder verlangte etwas von mir, worüber ich sehr froh war. Vielleicht konnte er spüren, dass ich noch nicht bereit dazu war, mich ganz und gar für das Leben als Hirte hinzugeben. Er gab mir die Zeit die ich brauchte und das lernte ich bald an ihn zu schätzen. Ich sah ein, dass das Leben für mich weitergehen musste und ich konnte endlich akzeptieren, dass mein Schicksal als Hirte schon seit meiner Geburt versiegelt war.

Mein Lernprozess verlief rasant schnell. Vielleicht auch, weil ich es wollte und nicht musste. Ich beherrschte bald den Umgang mit den Schafen, konnte sie füttern, scheren, melken und die Tiere hörten auf mich, wenn ich sie lautstark in die Scheune trieb. Auch lernte ich das Herstellen von Wolldecken- und sogar Gewänder, die meine Mutter immer machte. Ich bereitete verschiedene Gemüsesuppen zu und verarbeitete Fleischwaren. All das erlernte ich mit meinen bloßen Augen, denn noch immer sprachen mein Vater und ich kein Wort miteinander. Und es war auch gut so, denn die Arbeit als junger Hirte lenkte mich von diesem unerträglichen Schmerz ab, den ich so lange Zeit in mir trug. Scheinbar war uns beiden gewiss, dass wir nicht miteinander reden konnten, ohne dass uns irgendwann die Vergangenheit einholen würde und wir gezwungen wären, über Mutter zu sprechen. So schwiegen wir uns an und es vergingen viele, viele Jahre.

Prophezeiung - Zeilen der Zukunft

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