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Оглавление7 Schnittmengen zwischen Steuerrecht und -verwaltung13
7.1 Einfachheit und Komplexität
Das deutsche Steuerrecht ist komplex und wird fortlaufend komplexer. Gesprächspartner in der Steuerverwaltung berichten von Verboten, sich Handbücher und Anwendungsvorschriften auszudrucken, weil sie so schnell überarbeitet werden. Das hat zu tun mit Jahrhunderten an Rechtsentwicklung, grenzübergreifender Globalisierung und internationalen Verträgen, Rechtsprechung, aber auch mit den Versuchen, jeweils einzigartigen Situationen der Bürger bzw. Betriebe so gerecht wie möglich werden zu wollen: Schließlich gleicht kein Fall dem anderen. Und in der Tat ergeben Umfragen, auch die des Forschungsprojekts, dass überraschend viele Bürger ihre Behandlung durch das deutsche Steuersystem als fair und gerecht erleben, wenngleich man zugleich der Meinung ist, dass Inhaber großer Vermögen und Firmen privilegierter sind als der Normalbürger. Dieses Gefühl ist korrekt:
Die Komplexität des deutschen Steuerrechts nützt vor allem jenen, die sich teure Anwälte und Steuerberater leisten können und die dann aus vorhandenen Anwendungs- und Kombinationsmöglichkeiten die lukrativste ‚Steueroptimierung‘ entwickeln. Zwar gibt es eine Schwelle, an der die legale Steuerplanung eine Grenze überschreitet und illegitim, vielleicht sogar illegal wird. Wie die Luxemburg-Leaks enthüllten, nehmen es die hochspezialisierten Firmen mit der Legalität nicht immer zu genau: Die Vertreter der Steuerabteilungen der „Big 4“-Beratungsgesell-schaften mussten vor einem britischen Untersuchungsausschuss zugeben, dass bei ihren Steuermodellen hier und da nur eine 50:50-Chance besteht, dass sie noch legal sind (Committee on Public Accounts, 2013). Solches bei regulären Prüfungen zu durchschauen braucht viel Expertise, Zeit und Personal und es wundert nicht, dass die größeren Betrugsfälle auf diesen Gebieten weniger von Steuerprüfungen als vielmehr durch Datenlecks bekannt wurden. Entsprechend sind es einflussreiche Gruppen, die ein Interesse am Fortbestand der aktuellen Situation haben. Auch hier brachte es Peer Steinbrück auf den Punkt: „Forderungen nach einer Vereinfachung des Steuerrechts kenne ich aus Sonntagsreden. Wenn ich montags ins Büro komme, stehen die Lobbyisten vor der Tür und fordern noch mehr Ausnahmen und Sonderregelungen.“
Kommen solche Tricksereien, etwa durch Luxemburg-Leaks, ans Tageslicht, wird reflexartig eine Steuerrechts-Vereinfachung gefordert, etwa entlang der „Bierdeckel-Steuererklärung“ à la Friedrich Merz oder der Vorschläge des früheren Verfassungsrichters Paul Kirchhof. Wäre dies eine Alternative und würde es funktionieren?
Gesprächspartner bei Steuerverwaltung und Steuerberatern sind sich einig: nein. Zunächst ist es aufgrund internationaler rechtlicher Verbindungen und Verpflichtungen unmöglich. Dann scheint man seitens Politik und Verwaltung zu resignieren. Der Vizepräsident des Bayerischen Landesamts für Steuern meint etwa: „Eine grundlegende Vereinfachung des Steuerrechts (wird) politisch nicht mehr diskutiert. Der Bundesgesetzgeber ist im Steuerbereich ganz überwiegend ein Reparaturbetrieb, der auf Initiative des Bundesfinanzhofs, des Bundesverfassungsgerichtes und vermehrt des Europäischen Gerichtshofes tätig wird“ (Bayerisches Landesamt für Steuern, 2016, S. 7).
Aber es sind nicht nur Gerichte und Lobbyistenmacht, die steuerrechtlichen Vereinfachungen im Weg stehen: Gesprächspartner bei Steuerverwaltung und Steuerberatern sind der Meinung, dass selbst einfache Bürger und kleine Betriebe gegen Steuerbescheide, die auf der Basis vereinfachter und deshalb typisierender Steuergesetze ergingen, wegen der „ungerechtfertigten Behandlung“ ihres Falls vermehrt Widerspruch einlegen würden. Über die dadurch einsetzende Rechtsprechung und entsprechende Nachbesserungen würde ein vereinfachtes Recht bald genauso kompliziert sein, wie es heute schon ist. Diese Aussage ist, wenn man sich die ‚Prozesswut‘ der Bürger gegenüber der Steuerverwaltung anschaut, durchaus nachvollziehbar: Bayernweit kam es 2014 zu fast 600.000 Einsprüchen gegen Steuerbescheide, bundesweit lag die Zahl bei 4,23 Millionen, von der die Hälfte erfolgreich war.
Es bleiben Vereinfachungen im Bereich der Steuerverfahren, wie sie bei den Elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmalen (ELStAM), der Elektronischen Steuererklärung (ELSTER) oder der Vorausgefüllten Steuererklärung bereits umgesetzt werden. Solche Innovationen sind noch neu, ebenso ist noch nicht eindeutig erwiesen, wie missbrauchsanfällig diese Systeme sind. Entsprechend herrscht hier einerseits noch Zurückhaltung, gleichzeitig gibt es über Umfragen, etwa die zum Forschungsprojekt, Anhaltspunkte dafür, dass solche Vereinfachungsvorschläge, sofern sie transparent und gut erklärt sind, für die Bürgerinnen und Bürger akzeptabel sein könnten.
7.2 Politische Lenkungsziele
Ein weiterer Grund für die Komplexität des Steuerrechts liegt darin, dass Steuern nicht nur eine staatliche Einnahmequelle sind. Vielmehr kann man mit ihnen auch gesellschaftliche Entwicklungen steuern, d. h. Erwünschtes stärken, Unerwünschtes zurückdrängen („Steuern durch Steuern“).
Hier ist ein gewisser Wildwuchs nicht zu leugnen: Mit Steuern werden Urwälder geschützt, Kriege und Terrorbekämpfung subventioniert, Kampfhunde verteuert und die Liquidität der Rentenkasse gesichert. Sicherlich sind solche politischen Steuerungsabsichten nicht illegitim, man sollte aber überprüfen, was in der Tat gerechtfertigt ist und wo man, wie etwa bei der ‚Hotelier-Steuer‘, primär Lobbyisten gefolgt ist.
Es gilt, genau hinzuschauen, was der am häufigsten hier diskutierte Zusammenhang veranschaulichen soll, nämlich der zwischen Steuern und Arbeitsplätzen: In der Tat ergibt es wenig Sinn, in der Folge einer Betriebsprüfung auf Steuernachzahlungen zu pochen, wenn dadurch ein Betrieb mit seinen Arbeitsplätzen gefährdet wird. Hier bieten geltendes Recht und Rechtsanwendungen genügend Möglichkeiten, eine Pleite zu verhindern, auch wenn diese eben nicht immer großzügig angewendet werden. „So fürsorglich geht der Staat mit seinen Steuerbürgern leider nicht um – auch in Bayern nicht“, so ein Steuerberater.
Manchmal werden aber bei diesem Thema auch Nebelbomben geworfen, die dem Laien eine Einordnung erschweren. Beispielsweise betont die Industrie immer wieder, auch in Bezug auf Umfragen, dass das deutsche Steuerrecht im internationalen Wettbewerb schwere Nachteile für Investoren bringt. Dabei wird gerne verschwiegen, dass Steuergesetze und -verwaltung, unterm Strich gesehen, nicht die wichtigsten Kriterien für Investitionsentscheidungen und Jobs sind: Entscheidender sind Rechtssicherheit, Infrastruktur oder gut ausgebildete Arbeitnehmer (siehe 16.3.2). Ähnlich selektiv wird mit Fakten in der Diskussion zur Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer operiert: Bislang konnte nicht belegt werden, dass Betriebe aufgrund der Erbschaft- und Schenkungsteuer bankrott und Jobs verloren gegangen sind – überraschend ist das nicht, denn auch hier gab und gibt es umfangreiche Freibeträge und Stundungsregeln.
Eine letzte kritische Vermischung von Interessen- und Steuerpolitik entsteht, wenn Letztere als Wirtschaftsförderung zu Lasten anderer Länder betrieben wird (siehe 8.8.4).
7.3 Transparenz und Kontrollen
Die Komplexität des Steuerrechts lässt fragen, wie die darauf aufbauenden Vorgänge überhaupt gleichmäßig, gerecht und effizient verarbeitbar und verwaltbar sind. Durch zweierlei: eine umfassende Offenbarung der Sachverhalte auf Seiten der Steuerpflichtigen sowie angemessene Ressourcen zur Verarbeitung und Überprüfung gemachter Angaben auf Seiten der Steuerverwaltung.
Und hier liegt ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem: die unterschiedliche Transparenz gegenüber den Behörden und Kontrollen zwischen Sozialhilfeempfängern und abhängig Beschäftigten einerseits sowie den Beziehern großer Einkommen bzw. Inhabern großer privater und betrieblicher Vermögen andererseits. Dabei gibt es ein wunderbares Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1991, welches wert ist, immer wieder gelesen zu werden. Es behandelt die Hinterziehung von Kapitaleinnahmen, die Rolle von Steuer- und Bankgeheimnis sowie die Aufgaben von Steuerverwaltung und Politik. In den Leitsätzen heißt es:
„(1.) Der Gleichheitssatz verlangt für das Steuerrecht, daß die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden … (2.) Hängt die Festsetzung einer Steuer von der Erklärung des Steuerschuldners ab, werden erhöhte Anforderungen an die Steuerehrlichkeit des Steuerpflichtigen gestellt. Der Gesetzgeber muß die Steuerehrlichkeit deshalb durch hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip … (4.) Wirkt sich eine Erhebungsregelung gegenüber einem Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig aus, daß der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann, und liegen die Voraussetzungen dafür vor, daß dieses Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen ist, so führt die dadurch bewirkte Gleichheitswidrigkeit zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Steuernorm.“14
Statt entsprechend zu handeln, verschlimmerte sich die Situation zusehends: Die mit der Suspendierung der Vermögensteuer 1997 entfallende Deklarationspflicht wurde nicht durch vermehrte Prüfungen und entsprechende Personalaufstockungen ausgeglichen. Entsprechend dürfte das durch Offshore-, Luxemburg-, Swiss- und Panama-Leaks in das öffentliche Bewusstsein tretende Ausmaß an Vermögensverschiebungen nicht erstaunen: Aktuelle Transparenzbestimmungen sowie die Verteilung personeller Ressourcen sind schlicht zu Gunsten der Vermögenden. Der Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, bilanziert die Situation wie folgt:
„Wer in Deutschland von unselbstständigem Arbeitseinkommen lebt, führt seine Einkommensteuer als Lohnsteuer beim Arbeitgeber ab, ohne Geheimnis, ohne Beschränkung und ohne Sonderbonus für Gesetzestreue. Derweil wird … gegen den Sozialbetrug gekämpft: Wenn 10.000 Hartz-IV-Bezieher monatlich 500 Euro zu Unrecht erlangen, sind das im Jahr 50 Millionen Euro. Wenn 1.000 Kapitalanleger in demselben Jahr je 20.000 Euro Kapitalertragsteuer hinterziehen, haben sie 80 Millionen Euro Zinsen verdient“ (Fischer, 2014).
7.4 Sicht von Ministerien und Parteien
In den Stellungnahmen zum Forschungsprojekt werden Möglichkeiten, das Steuerrecht zu vereinfachen, überwiegend skeptisch eingeschätzt, zumal es sich um einen Kompromiss zwischen Einfachheit und Gerechtigkeit handele (SPD Bund). Zwar habe Deutschland „das wohl komplizierteste Steuersystem der Welt“ (CDU/CSU Bund), Verbesserungspotenzial wird aber von einer effizienteren Verwaltung sowie zunehmender Digitalisierung bzw. Automatisierung und den daraus resultierenden Verfahrensvereinfachungen erhofft.
Auf die Frage, wie die unterschiedliche Transparenz der Steuerpflichtigen gesehen wird bzw. die Balance zwischen Deklarations- und Verifikationsprinzip, antwortet das Bundesfinanzministerium differenziert. Man orientiere sich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung, bestätige, dass strukturelle Defizite „strikt zu vermeiden“ sind, und ist zuversichtlich, dass durch das auf den Weg gebrachte Steuerverfahrens-Modernisierungsgesetz langfristig Verfahrensqualität gesichert und Defizite ausgeschlossen werden können.
Das Bayerische Finanzministerium stellt lapidar fest, dass „es … kein Gerechtigkeitsdefizit bei der Behandlung von Lohneinkünften und betrieblichen Einkünften“ gibt (obwohl das nicht die Frage war) und betont: „Insoweit werden die Grundsätze des von Ihnen zitierten Verfassungsgerichtsurteils selbstverständlich in vollem Umfang beachtet.“ Und weiter: „Es entspricht im Übrigen nicht der freiheitlichen Ordnung einer Gesellschaft, vermögende Personen bzw. Unternehmen unter den Generalverdacht einer unsachgemäßen Steuerabführung zu stellen.“15
Die Berechtigung politischer Lenkungsziele zusätzlich zum Ziel der Steuereinnahmen wird von allen bejaht, wenngleich es bei einem Gesetz nicht zu viele sein dürfen (CDU/CSU Bund), Alternativen über gezielte Subventionen und Freibeträge überlegt oder regelmäßige Wirksamkeitsüberprüfungen gefordert werden. Die bayerische CSU zieht bezüglich steuerlicher Lenkungsziele als zusammenfassendes „Fazit: Von entscheidender Bedeutung ist, dass Bayern wirtschaftlich stark bleibt. Das ist die Basis für unseren gesellschaftlichen Wohlstand in allen Bereichen.“
7.5 Schlussfolgerungen
Die Komplexität des deutschen Steuerrechts bringt es mit sich, dass viele einfache Bürger selbst mithilfe aller verfügbaren Online-Informationen kaum mehr durchblicken. Zumeist sind es auch jene, die nie auf die Idee kämen bzw. sich nicht trauen würden, Widerspruch oder andere Rechtsmittel gegen Bescheide einzulegen. Das bedeutet, dass viele niedrige Einkommensbezieher vielleicht mehr Steuern zahlen, als sie zahlen müssten, schlichtweg weil sie unfähig sind, Absetzbares korrekt zu erkennen und einzufordern. Umso lukrativer wird es für die Bezieher hoher Einkommen und Besitzer großer Vermögen: Selbst sechsstellige Honorare können sich rechnen angesichts der Rendite aus Steuerplanungsoptionen, die ihnen Steuerberatungsspezialisten entwickeln. Hat dem gegenüber der Staat wirklich seine Hausaufgaben hinsichtlich des vom Verfassungsgericht geforderten „Verifikationsprinzips“ gemacht? Dies steht im Zentrum des folgenden Kapitels.
13 Siehe ausführlicher: http://tinyurl.com/tjp-GER-Va
14 BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991 (2 BvR 1493/89). BStBl. 1991 II S. 654.
15 Dem wird selbstverständlich zugestimmt. Ein Fachmann aus der Steuerverwaltung, dem die Stellungnahme des Bayerischen Finanzministeriums zur Kommentierung überlassen wurde, hält dennoch dagegen: „Das Argument mit dem Generalverdacht auf Steuerhinterziehung kommt aus interessierten Kreisen reflexartig, um die Notwendigkeit einer stärkeren Prüfungsintensität zu bestreiten. Aber um bewusste Steuerhinterziehung geht es ja nicht allein. Es geht viel häufiger um strittige Interpretationen des Sachverhalts, es geht um Rechtsauffassungen, die angewandt werden, ohne sich mit denen der Finanzverwaltung zu decken. Man muss kein Verbrecher sein, um nach einer Betriebsprüfung ordentlich nachzuzahlen. So eindeutig ist unser Steuerrecht nicht, sonst müsste ja bei jeder Betriebsprüfung mit Ergebnis ein Strafverfahren eingeleitet werden. Das ist nicht der Fall, weil es eben Interpretationsspielräume gibt. Der Lohnsteuerzahler hat solche definitiv nicht.“