Читать книгу Die Farben im Paradies - Jörg Geisbüsch - Страница 6
2. Kapitel in dem das Gestern, das Heute und das Morgen ein wenig durcheinandergeraten
ОглавлениеDie Dämmerung hatte sich bereits über das Land gelegt, als Jakob und Elisa endlich das Dorf erreichten. Rotweiße Fachwerkhäuser ragten links und rechts der Straße empor und grüßten sie stumm. In ihren Fenster brannte nirgends Licht, denn ihre Bewohner waren längst aufgebrochen zum Dorfplatz. Am heutigen Festtag blieb kein Mensch zu Hause; alle hatten sich auf dem Platz eingefunden. Elisa und Jakob hörten das Lärmen der Menschen schon von weitem. Onkel und Nichte bogen gerade in die Dorfgasse ein, als eine kleine Gestalt an ihnen vorüber huschte. Sie trug etwas Großes in Händen.
„Michael!“, rief Jakob erstaunt und ungehalten zugleich. Der Angesprochene hielt inne, wandte sich um und kam mit gesenktem Kopf zurück geschlichen.
„Ja“, sagte Michael sichtlich verlegen.
„Wo kommst du denn her? Solltest du nicht längst auf dem Dorfplatz sein? Und was trägst du da überhaupt mit dir herum?“, fragte Jakob streng. Man sah es dem Jungen selbst in der Dunkelheit an, dass es ihm unangenehm war, so ertappt worden zu sein. Er wollte nicht recht mit der Sprache heraus.
„Na los, sag schon, was du da hast!“ Jakobs Tonfall wurde ungehaltener.
„Ich hab was gefunden“, nuschelte der Junge.
„So? Was denn?“ Jakob wollte es genau wissen.
„Och, nur so was Kleines“, druckste Michael herum. „Da war so ein Kästchen zwischen den großen Steinen da hinten hinter dem Dorf. Da war diese kleine Maschine drin, mit der man Dampf machen kann. Oder so ähnlich. Glaub ich jedenfalls. Und dann hab ich einfach mal damit rumgespielt und das mit dem Dampf herausgefunden. Wie das geht. Durch den Dampf kann man hier vorne so eine Kurbel bewegen. Und wenn sich alles dreht, dann kann ich vielleicht über eine Schnur etwas Anderes wie ein Rad oder so antreiben. Und wenn wir das dann in groß bauen würden!“ Das Leuchten in Michaels Augen war sogar noch im Dämmerlicht zu erkennen.
„Das hast du dir ausgedacht?“, fragte Elisa sichtlich erstaunt, ohne dass sie das alles bis ins Letzte verstanden hatte.
„Na ja“, antwortete Michael. „Ich hab die Teile eigentlich nur gefunden und damit gespielt. Sieht so aus, als ob jemand das da mal versteckt hat. Am Anfang wusste ich nicht recht, was es sein soll. Aber beim Feuer machen kam mir dann irgendwie die Idee mit dem Dampf. Und heute wollte ich es dann mal ausprobieren. Es klappt schon ganz gut.“
„So, so“. Jakob nickte ernst. „Sachen, die man zwischen Steinen findet. Wo die wohl herkommen. Und Dampf. Und eine Maschine. Nun ja, nun ja. Bist ein pfiffiges Kerlchen. So, aber jetzt bring das mal schnell nach Hause und dann nichts wie ab auf das Fest. Gleich geht es los und wir warten nicht auf dich!“ Jakob schickte den Jungen davon. Michael ließ sich das nicht zweimal sagen und verschwand im Dunkel der Gassen.
„Ein ganz schön aufgeweckter Junge“, befand Elisa als sie mit ihrem Onkel wieder allein war. „Er erinnert mich sehr an Janos.“ Traurig blickte sie dem Jungen nach.
„Mich auch“, antwortete Jakob grummelnd. „Komm, lass uns gehen! Vergessen wir das Ganze! Die anderen warten schon.“
Sie hatten nur noch eine letzte Biegung vor sich, dahinter erstreckte sich der Dorfanger. Überall hatte man kleine Feuer angezündet, um den Platz auch im Dunkel der aufziehenden Nacht hell zu erleuchten. Elisa liebte diesen Anblick. Jedes Mal bekam sie eine Gänsehaut. Die Schatten der züngelnden Feuer tanzten frivol an den Wänden der Häuser. Je dunkler es wurde, desto wilder schienen sie zu tanzen. Jakob und Elisa näherten sich nun den anderen. Die Stimmung war heiter und erwartungsvoll wie jedes Jahr. Fröhlich wurden sie begrüßt. Elisa sah ihre Mutter auf sich zukommen.
„Ach Kind“, sagte die vorwurfsvoll, „wo hast du dich denn schon wieder herumgetrieben? Sag, du siehst ja ganz mitgenommen aus? Komm her und setz dich mal. Dann iss und trink und dir wird es gleich besser gehen!“ Und bevor Elisa auch nur ansatzweise etwas erwidern konnte, hatte sie schon einen Krug Bier und einen Teller Suppe in Händen.
„Hier wird nicht protestiert, hier wird gefeiert!“, sagte ihre Mutter resolut. Erschöpft ließ sich Elisa neben ihre Mutter auf die Bank sinken und gestattete es sich, auch nur noch einmal Tochter zu sein. Sie aß, trank und blendete die Gedanken an das heute Erlebte aus.
Der Zauber des Frühlingsfestes hatte sie schnell in seinen Bann gezogen. Genau wie all die anderen Menschen um sie herum. Das Treiben nahm seinen Lauf. Der Platz war proppenvoll mit allen Bewohner der drei Dörfer. Das Frühlingsfest wurde traditionell von den Bewohnern aus Freudental ausgerichtet, Elisas Heimatdorf, welches auch zugleich das größte aller Dörfer war.
Zu den Festen kamen die Menschen von überall her zusammen, dann bildeten sie eine verschworene Gemeinschaft. Die Männer aus Esperanza grölten mit denen aus Beauville und die Frauen aus Esperanza schäkerten mit den Männern aus Freudental. Und umgekehrt.
Diese Feste waren etwas Besonderes. Es gab Bier in rauen Mengen, dazu Kartoffelsuppe, Gemüse und Salat im Überfluss. Und als besondere Delikatesse: Wildbret, Schweine- und Rindfleisch. An diesen Abenden durften die Menschen einmal richtig über die Stränge schlagen. Und das kosteten sie auch aus. Die Stimmung war ausgelassen und tat schon bald ihr Übriges, dass von Elisa alle trüben Gedanken abfielen. Sie ließ sich in der heiteren Stimmung treiben, schwatzte und lachte mit den Leuten um sie herum. So flogen die Stunden nur so dahin und es wurde ein sehr lustiges Fest.
Jakob hatte den ganzen Abend über das getan, was er auf den Festen immer tat. Er ging durch die Reihen, sprach mit den Leuten, hörte, wie es ihnen ging und hatte für jeden ein gutes Wort übrig. Als er seine Runde beendet hatte, kam er zurück an Elisas Tisch und nahm ihr gegenüber Platz.
Zu allererst leerte er einen Krug Bier, dann machte er sich über eine Portion Salat her, bevor er am Ende noch einen Teller Kartoffelsuppe verdrückte. Müde lehnte er sich zurück und verschnaufte ein Weilchen.
Elisa beobachtete ihn. Der quirlige und putzmuntere Jakob wirkte heute mitgenommen, müde und erschöpft. Zum ersten Mal, fand Elisa, war ihm anzumerken, was das alles für eine Kraft erforderte. Doch dies alles währte nicht lange, denn nur einen Augenblick später hatte Jakob wieder die Augen geöffnet, tief durchgeatmet und sich vom Tisch erhoben.
„So, es geht los. Schau gut hin und betrachte alles ganz genau“, riet er Elisa, dann eilte er in die Mitte des Platzes.
Elisa und die Umstehenden wurden von Erregung erfasst. Sie wussten, was jetzt kam. Jakob ging zu einer der großen Trommeln, die dort in der Mitte standen, und begann zu trommeln. Erst langsam, dann wurde er immer schneller bis er sich in den traditionellen Rhythmus eingefunden hatte. Alle Anwesenden waren verstummt, nun wandten sie ihre Köpfe der Mitte des Platzes zu, um dem Spektakel zu folgen und nur ja nichts zu verpassen.
Vier Männer eilten daraufhin zu Jakob; sie begannen ebenfalls zu trommeln und dem Rhythmus zu folgen. Drei Frauen traten aus der Menge hervor. Sie trugen brennende Fackeln, mit denen sie kleine Feuer in der Mitte des Platzes entfachten.
Alle Menschen sollten genau sehen können, was sich ihnen in der Folge darbot. Elisa hatte es zwar schon oft gesehen, aber immer wieder wurde sie in den Bann gezogen – in den Bann des Genaro, des Zerstörungs- und Schöpfungsmythos ihrer Welt. Durch diesen Tanz wurde den Menschen immer wieder vor Augen geführt, wie ihre Welt entstanden war.
Das Trommeln dröhnte über den ganzen Platz. Die Spannung war zum Greifen. Auf den Platz traten nun vier kostümierte Gestalten. Die erste war in einen dunkelblauen Umhang gekleidet, an den Seiten hingen Tropfen herab. Sie stellte das Wasser dar. Die zweite Gestalt war in einen durchsichtigen, hauchdünnen Stoff gehüllt – die Luft. Ein feuerroter Umhang zierte die dritte Gestalt – das Feuer. Zu guter Letzt gesellte sich die vierte Gestalt zu den drei anderen. Wegen des Umhangs aus dickem braunem Stoff war sie zweifelsfrei als die Darstellung der Erde zu erkennen. Die vier Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer formten nun einen Kreis, indem sie sich fest bei den Händen fassten. Langsam begannen sie zu tanzen und wogten dabei sanft im Rhythmus der Trommeln hin und her.
Wie alle anderen um sie herum, so folgte auch Elisa dem Spiel mit größter Aufmerksamkeit, schließlich wurde dies hier nur einmal im Jahr dargeboten. Zu gerne hätte Elisa bei diesem Schauspiel einmal selbst mitgewirkt. Doch war sie bisher immer zu jung gewesen, um mitmachen zu dürfen. Vielleicht im nächsten Jahr. Heute blieb ihr, wie den meisten anderen auch, nur die Zuschauerrolle. Alle schauten sie auf die tanzenden Elemente in der Mitte des Platzes: Alte, Junge, Große, Kleine, Frauen und Männer.
Das Trommeln wurde schneller und kündigte den Aufmarsch von zwölf Frauen und Männern an. Sie traten zu den Elementen und begannen ebenfalls hin und her zu wiegen. Erst ganz sachte und vorsichtig, um die Elemente nicht zu stören, doch dann wurden sie forscher und forscher.
Zunächst drehten sie sich nur um die eigene Achse, dann machten sie zudem einen Schritt vor und wieder einen zurück. Zu den zwölf Menschen kamen noch ein Mann und eine Frau hinzu und auch sie tanzten mit den anderen im flackernden Lichtschein. Weitere Paare kamen hinzu. Bald waren es mehr als zwanzig Männer und Frauen, die um die vier Elemente herumtanzten.
Erde, Luft, Feuer und Wasser hielten sich immer noch an den Händen, doch sie wurden von den tanzenden Menschen bedrängt und angerempelt. Mit jedem neuen Menschen, der hinzukam, wurde das Spektakel wilder. Die Männer und Frauen tanzten sich in eine ekstatische Raserei. In ihrer willenlosen Wildheit rempelten sie die Elemente immer wieder an. Verzweifelt versuchten diese, sich weiter an den Händen zu halten. Noch gelang es ihnen und ihr Kreis blieb geschlossen. Doch je wilder das Treiben wurde, desto mehr ließen die Kräfte der Elemente nach. Bis dann von einem Augenblick auf den anderen ihr Kreis auseinanderbrach.
Die Elemente fielen zu Boden, die Trommeln verstummten und der Tanz der Menschen fand ein jähes Ende. Erwacht aus ihrer Raserei fielen diese auf die Knie und sahen, was geschehen war. Alle verharrten und hielten den Atem an. Auch Elisa.
Still und leise betrat hernach eine andere Gruppe das Geschehen: die Irratio. Große, schwarze Gestalten, die sich gemächlich, aber herrisch um die Menschen und Elemente herum stellten und warteten. Einfach warteten. Die Frauen und Männer, die vor ein paar Augenblicken noch wie wild getanzt hatten, reckten nun ihre Köpfe und zitterten. Jetzt erst merkten sie, wie sehr sie die wohlbehaltenen Elemente brauchten. Sie japsten nach Luft, doch die Luft war zu dünn, ihre Lungen mit Odem zu füllen. Sie bibberten vor Kälte, doch das Feuer glomm zu schwach, um ihre Leiber zu wärmen. Sie gierten nach Wasser, doch das Wasser war versiegt. Schließlich suchten sie Schutz im Schoß von Mutter Erde, doch an ihrer Statt gab es nur noch trockenen, spröden Staub. Die Menschen hatten den Kreis der Elemente zerstört. Doch ohne sie konnten auch die Menschen nicht mehr leben, wie sie nun bitter erkennen mussten. Männer und Frauen sanken der Reihe nach zu Boden, zappelten und zuckten. Sie starben.
Die Irratio sahen ihnen dabei zu und taten nichts. Erst als nur noch zwölf Männer und Frauen am Leben waren, lösten sie sich aus ihrer Starre. Sie traten zu den Elementen, richteten sie auf und verbanden sie wieder mit ihren Händen. Der Kreis ward wieder geschlossen und nur so blieben die restlichen Menschen am Leben. Das Trommeln setzte erneut ein und auch die Menschen begannen von neuem zu tanzen. Aus der Freude heraus, noch am Leben zu sein, tanzten die Menschen wieder so wild und unbesonnen wie zuvor, denn Menschen vergaßen recht schnell.
Anders die Irratio, die dem neuerlichen Treiben der Menschen ein baldiges Ende bereiteten. Sie drängten die Menschen zusammen, indem sie einen äußeren Kreis bildeten und ebenfalls zu tanzen begannen. Bedrohlich schwebten sie um die Frauen und Männer herum, hielten sie zusammengetrieben. Die Irratio bestimmten von nun an das Geschehen und die Frauen und Männer sahen und begriffen. Nun beendeten die Irratio ihren Tanz, gaben die Menschen frei und zogen sich zurück. Außen um die Menschen herum bildeten diese schwarzen Gestalten einen großen Kreis und ließen den Menschen in ihrer Mitte ein Stück Freiheit. Zaghaft begannen dann die Menschen wieder zu tanzen, sachte und langsam, aus Furcht vor den Irratio.
Nach einer Weile geschah es, dass wieder ein Mann und eine Frau zu den Zwölfen hinzukamen. Doch nun geschah etwas völlig anderes als vorhin. Sobald ein Mann und eine Frau hinzukamen, erhoben sich zwei Irratio, gingen zu den Menschen und zerrten einen Mann und eine Frau mit sich fort. Wie viele Männer und Frauen auch hinzukamen, die Irratio nahmen genauso viele mit sich. Es blieben von nun an immer zwölf Männer und Frauen.
Das Schauspiel näherte sich seinem Ende. Drei Kreise tanzten ineinander: Außen die Irratio, dann die Menschen und innen die Elemente. Drei Kreise tanzten im Gleichklang. Das Trommeln schwoll an, der Rhythmus wurde nochmals schneller. Die Kreise wirbelten durcheinander und schienen fast eins zu werden. Dann erlosch das Trommeln, es wurde still und das Schauspiel war vorüber.
Die Darsteller hatten sich völlig verausgabt und sanken erschöpft zu Boden. Um sie herum standen die Zuschauer und begannen zu applaudieren. Auch Elisa stimmte ein. Alle klatschten.
„Ach, wundervoll“, sagte Elisas Mutter, die neben ihrer Tochter saß.
„Ja“, antwortete Elisa. „Ein grandioses Schauspiel“.
Nun kehrte etwas Ruhe auf dem Platz ein. Alle erholten sich zunächst ein wenig von dieser mitreißenden Darstellung. Die Akteure und die Zuschauer wandten sich für einige Minuten wieder den Genüssen des Abends zu. Aber gleichzeitig warteten alle ungeduldig auf den nächsten Programmpunkt.
„Ich bin gespannt, was Jakob wohl diesmal noch so zu verkünden hat“, sagte Eva zu ihrer Tochter und stieß ihr mit dem Ellbogen in die Seite. Als nächstes nach dem Genaro war es üblich, dass Jakob die wichtigen Ankündigungen machte: Etwa, wer in diesem Jahr miteinander verheiratet werden sollte.
„Hm“, grummelte Elisa.
Auch alle anderen warteten auf Jakobs Ansprache. Aber nichts geschah. Er machte keinerlei Anstalten, noch irgendetwas sagen zu wollen. Und so gingen die Menschen nach einiger Zeit schulterzuckend zum fröhlichen Treiben über. Zu den Trommlern gesellten sich die Musiker mit ihren Instrumenten und alle zusammen spielten munter drauflos. Es wurde getanzt, gelacht und gesungen. Wie alle Menschen, so tauchte auch Elisa wieder ein in den Bann dieser Nacht. Dies waren die wenigen Nächte, in denen die Menschen ausgelassen feierten. Wo sie einmal den sehr geregelten Alltag vergaßen und ihren Gefühlen freien Lauf ließen.
Elisa genoss das tolle Treiben sichtlich. Sie liebte es vor allem, bei diesen Gelegenheiten die Menschen zu beobachten: Manche gaben sich bei diesen Festen völlig anders, als man sie sonst kannte. Viele, die sich sonst ernst und zugeknöpft zeigten, blühten hier völlig auf.
Der Hannes zum Beispiel. Sonst war er ein gestrenger, beflissener Bauer, doch heute wurde er durch den Alkohol beredsam und gab einen Witz nach dem anderen zum Besten.
Wo Elisa auch hinblickte, sie sah viele solcher Menschen. Sie betrachtete jedes Gesicht eingehend und machte sich so ihre Gedanken. Auf der anderen Seite des Platzes etwa sah sie Antonio und musste unwillkürlich lachen. Normalerweise war er ein eher schüchterner, unbeholfener junger Mann. In dieser Nacht aber benahm er sich wie ein Gockel und legte sich bei den Damen mächtig ins Zeug. Das tat er aus gutem Grund, denn er war wie auch Franz einer der nächsten, für den es einen Ehepartner zu finden galt.
In seiner Nähe begann mit einem Mal eine Frau fürchterlich zu zetern. Elisa versuchte, die Ursache dafür auszumachen und erspähte schließlich Natascha. Neben ihr stand der Franz und machte ein betröppeltes Gesicht. Offenbar hatte er nicht so ganz die richtigen Worte für Nataschas vorzüglichen Eintopf gefunden, worauf sie ihn ordentlich zurecht stutzte.
So saß Elisa lange auf der Bank in der Nähe ihrer Mutter, betrachtete aufmerksam die Leute um sie herum, aß, trank, redete und lachte. Sie durchlebte einen schönen Abend. Nicht ahnend, dass sie ebenfalls den ganzen Abend über beobachtet wurde.
Mittlerweile war es bereits weit nach Mitternacht. Das Fest war noch in vollem Gange und längst noch nicht vorüber, – vor dem Morgengrauen endeten diese Feste nie – aber Elisa war hundemüde. Die Erlebnisse des Tages hatten sie sehr mitgenommen. Sie wollte nur noch ins Bett. So verabschiedete sie sich von den Menschen um sie herum und ging allein nach Hause. Bald schon hatte sie den Platz hinter sich gelassen, das freudige Lärmen wurde leiser.
Ein, zwei Augenblicke später bog sie in die kleine Seitenstraße ein, in der das Haus und der kleine Hof ihrer Familie lag.
Der Mond war bereits aufgegangen, hinter Wolken versteckt spendete er aber nur spärlich Licht, so dass die Umrisse der Häuser kaum auszumachen waren. Aber das kümmerte Elisa wenig, denn sie kannte den Weg in- und auswendig. Der Abend hatte sie so beschwingt, dass die merkwürdigen Vorkommnisse des Tages bereits tief in ihrem Kopf schlummerten. Die junge Frau war froh und zufrieden, als sie so durch die Dunkelheit schlenderte. Sie wusste bei jedem Schritt genau wo sie war. Gerade etwa ging sie am Haus der Brannts vorbei.
Vor ihrem inneren Auge zeichnete sich das stattliche Fachwerkhaus aus alten Eichenstämmen ab. Drei Generationen lebten auf diesem Hof. Da fiel Elisa die Begegnung mit Michael, dem jüngsten Sohn der Brannts, wieder ein. So wie er dagestanden hatte, mit der komischen Maschine, erinnerte er sie nur zu sehr an ihren Freund Janos. Auch Janos war einmal so ein pfiffiger Junge gewesen. Doch vor sieben Jahren hatte er gehen müssen. Die Irratio hatten ihn zu sich gerufen. Unendlich traurig war Elisa damals gewesen. Sie war es auch heute noch.
Die junge Frau stand nun genau vor dem großen Hoftor. Die schweren Eichenbretter schützten vor jedem ungewollten Eindringling. Links und rechts vom Tor rankte sich dichter Efeu empor. Elisa blieb einen Moment stehen und lauschte in die Nacht hinein. Eine leichte Brise kam auf und spielte neckisch mit den Blättern des Efeus. Wenn Elisa das Zittern des Laubes hörte, wurde ihr immer ganz wehmütig ums Herz. Dann musste sie unweigerlich an Janos denken, daran wie sie als Kinder im Wald gelegen und über ihnen die Blätter geraschelt hatten. Ganz deutlich sah sie sein Gesicht vor sich und die Erinnerung an ihn wurde hell und klar.
Der Wind ließ nach, die Nacht wurde wieder still. Ein leises Geräusch riss Elisa aus ihren Gedanken. Etwas knirschte. Die junge Frau horchte auf. Es hörte sich an, als ob jemand versuchte, über den Kiesweg zu schleichen. Er gab sich besondere Mühe, nicht gehört zu werden. Was ihm auch gelungen wäre, hätte sich der Wind nicht gelegt. Wieder knirschte es, die Schritte kamen näher. Elisas Herz stolperte. Mit aller Macht kamen die Bilder und Erlebnisse des Tages wieder hoch. Vergangenes und Gegenwärtiges vermischten sich: In der Dunkelheit wähnte sie plötzlich den blauen Mann auf sich zukommen. Elisa stöhnte. Etwas stimmte in ihrer Welt nicht mehr. Aus Furcht presste sie sich dicht an das große Holztor, versuchte sich im Efeu zu verstecken. Vielleicht hatte sie noch einmal Glück und er ging vorüber.
„Elisa“, flüsterte plötzlich jemand.
Sie horchte auf. Was, wer rief sie da?
„Elisa“, wieder dieses Flüstern. Elisa wurde es ganz seltsam zumute. Obwohl alles so unheimlich war, obwohl ihr Herz wild pochte. Ihre Angst legte sich und wich einem ganz anderen Gefühl: Erregung.
„Elisa“, wieder dieses Flüstern. Es war ein sehnsuchtsvolles, zärtliches Flüstern direkt in ihr Ohr gehaucht. Er stand jetzt genau hinter ihr. Sie konnte seinen Atem spüren. Ihr Körper zitterte, bebte gar.
„Elisa, oh Elisa. So viele Jahre. So viele Jahre habe ich dich vermisst. Du weißt nicht, wie das ist. Von allen getrennt. Von dir getrennt.“
Sie spürte, wie seine Hände sich um ihre Hüften schlangen. Sanft, zärtlich, verlangend. Sie schmiegte sich an ihn, ließ sich fallen. Warum nur fühlte sie sich so geborgen? Was machte das für einen Sinn? Sie war vollends verwirrt. Diese Stimme. Sie hatte sie noch nie gehört und doch war sie ihr so vertraut. Elisa war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sprechen, stattdessen nahm sie nur seine Hand und hielt sie fest. So standen sie da – eine Weile, einen Augenblick. Wie im Himmel. Keiner von ihnen sagte ein Wort.
Doch ihre Zweisamkeit währte nicht lange; jemand bog mit einer Laterne in die kleine Seitenstraße ein. Eiligen Schrittes kam er auf sie zu und riss die Umschlungenen aus ihrer Vertrautheit. Sie ließen voneinander ab.
„Ich muss gehen. Aber wir werden uns wiedersehen!“, flüsterte er ihr noch ins Ohr. Dann zog er seine Hand zurück und wollte gehen, doch Elisa hielt noch für einen Moment seine Hand und bat ihn: „Versprich es mir!“
„Ich verspreche es. Wir werden uns wiedersehen“, sagte er und verschwand.
Sie war wieder alleine. Was war das heute für ein seltsamer Tag? Einerseits kannte sie den Mann nicht, der sie gerade so berührt hatte. Doch andererseits war er ihr so vertraut, als kenne sie ihn schon ein Leben lang. So vertraut wie ein alter, guter Freund. Elisas Gedanken überschlugen sich, als sie eine Ahnung beschlich. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn mit ihr. Eine Träne löste sich aus ihrer Mädchenseele und rann ihr über die gerötete Wange, als sie ihm in die dunkle Nacht hinterher flüsterte: „Komm zurück, komm zurück, mein Geliebter“.