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4. Kapitel in dem es Frühstück gibt, einen Spaziergang und eine unheilvolle Versammlung

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Kaum dass die Sonne aufgegangen war, erwachte Elisa. Ihr Schlaf war sehr unruhig gewesen. Wirre Träume hatten sie kaum zur Ruhe kommen lassen. Mal sah sie sich in einer Einöde stehend, weit und breit keine Pflanze, kein Tier, keine Menschenseele. Neben ihr stand Jakob und erzählte ihr irgendetwas von Vorfahren, Tragödie und Wandel.

In einem anderen Traum fand sie sich in einem unbekannten, fremdartigen Zimmer wieder. Alles war aus Metall und glänzte. Sie lag nackt auf einem Bett, nur von einem dünnen Laken verhüllt. Vor dem Bett stand ein junger Mann und schaute sie einfach nur an, sagte nichts, tat nichts. Als sich Elisa nun überaus lebhaft an diesen Traum erinnerte, schoss ihr das Blut ins Gesicht und prickelndes Verlangen überwältigte sie. Einen sehnsuchtsvollen Moment lang gab sie sich diesem Gefühl hin, dann schlug sie die Bettdecke zurück, stand auf und schlüpfte in ihre Kleider.

Wie jeden Morgen brachte sie ihr Bettzeug gewissenhaft in Ordnung, öffnete das Fenster und ließ ein wenig frische Morgenluft durch die kleine Öffnung ins Zimmer strömen. Dabei blickte Elisa zum Fenster hinaus und sah zu, wie das Licht des Tages heraufzog. Sie blickte über die Dächer ihres Dorfes hinweg bis hin zu den Bäumen der Allee, die sich aus ihrem nächtlichen Grau herausschälten und für den Tag herausputzten. Hier und da sah Elisa Rauch aus den Schornsteinen emporsteigen. Das Dorf erwachte.

Eines brachte dieser Morgen aber nicht mit sich: das Ende des Regens. Immer noch fiel dieser in die Kleider kriechende Regen und gar war es so, als ob er immer stärker würde. Elisa schüttelte sich, so kalt wurde es ihr plötzlich.

Schnell schloss sie das Fenster und schob die trüben Gedanken beiseite. Sie machte sich lieber daran, den Tag beginnen zu lassen. Und zwar mit einem ausgiebigen Frühstück. Elisa kletterte die schmale Stiege hinunter in die Küche und begann damit, sich um das Frühstück zu kümmern.

Das restliche Haus lag noch still und so bereitete sie eben alles ganz alleine vor. Wie abends zuvor entfachte sie zunächst das Feuer im Herd, ging dann hinaus in den Hof zum Brunnen und kehrte mit einem großen Eimer voll klarem Wasser in die Küche zurück. Das Feuer knisterte mittlerweile schon frech vor sich hin und so stellte sie das Teewasser auf. Anschließend ging sie wieder hinaus in den Hof und kümmerte sich um die Tiere des kleinen Hofes. Vor allem die Kuh musste gemolken werden. Mit dem Eimer voll frischer Milch kehrte sie zurück in die Küche, wo Elisa beinahe mit ihrer Mutter zusammenstieß, die noch ein wenig schlaftrunken herein gewankt kam.

„Morgen, Mutter“, sagte Elisa gutgelaunt.

„Morgen“, gähnte Eva mehr, als dass sie es sagte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Solch eine Laune am frühen Morgen war für ihre Tochter eher ungewöhnlich. Was mochte da wohl dahinterstecken? Eva war aber dann doch noch zu verschlafen, um schon ein mütterliches Verhör durchführen zu können. Daher ließ sie es erst mal dabei bewenden und fragte nicht weiter nach. Vorerst.

Gemeinsam arbeiteten Mutter und Tochter nun Hand in Hand. Während Elisa sich um den Tee für die Frauen und die Milch für die Männer kümmerte, mischte Eva etwas Milch und Honig unter den Getreidebrei und schnitt dann kleine Apfelstücke hinein. Für jeden eine Portion in kleinen Schalen. Die stellte sie dann auf den Tisch. Mittlerweile köchelte auch das Teewasser und Elisa goss damit den Apfeltee auf. Sie hatte großen Hunger auf Frühstück. Als alles fertig war, setzte sie sich an den Tisch und begann zu löffeln. Dabei glänzten ihre Augen träumerisch, was ihrer Mutter ganz und gar nicht entging.

Was war hier los?, fragte sich Eva verwundert. Da saß ihr Mädchen an dem großen Tisch und war mit ihren Gedanken wer weiß wo. Überhaupt benahm sich Elisa seit gestern doch überaus seltsam. Ja und was hatte sie denn mit Jakob alleine zu besprechen gehabt? Evas Neugier war geweckt; sie wetzte bereits in Gedanken die Messer für das bevorstehende mütterliche Verhör. Darin war sie eine wahre Meisterin. Eva holte beiläufig noch ein paar Tassen aus dem Schrank, nahm dann die Teekanne mit auf den Tisch und setzte sich Elisa gegenüber. Mit durchdringendem Blick sah sie ihre Tochter an.

„So, dann erzähl mal!“ Das Verhör begann.

„Was? Wie?“, fuhr Elisa erschrocken aus ihren Gedanken hoch. Sie fühlte sich ertappt und zu allem Überfluss schoss ihr auch noch eine unverkennbare Röte ins Gesicht.

Dass ihre Tochter sich so schnell verriet, überraschte selbst Eva. Aber konnte es denn möglich sein? Ihre Tochter war verliebt! So musste es wohl sein.

„Wer ist es denn, an den du dauernd denkst?“, hakte Eva nach.

„N...niemand“, stotterte Elisa.

„Ts, ts. Wegen niemand fängt man aber nicht an zu stottern“. Eva nahm sie in die Zange.

„Es ist niemand!“, protestierte Elisa zaghaft. Unter dem gestrengen Blick ihrer Mutter knickte sie jedoch schnell ein: „Niemand, den du kennst“.

„Papperlapapp. Ich kenne alle, die hier wohnen. Also kenne ich ihn auch! Wer ist es denn? Doch dieser Miguel? Ja? Hach, ein bildschönes Jüngelchen. Und bestimmt heißblütig. Aber noch so jung.“ Eva war nun richtig in Fahrt. Ihre Tochter war verliebt. Wenn das mal kein Grund zur Freude war. Die schönsten Bilder schwirrten ihr im Kopf herum: Elisas vorbildliche Hochzeit, die Enkelkinderchen auf ihrem Schoß. Daran konnte sie sich durchaus gewöhnen.

„Mutter, so einfach ist das leider nicht“, sagte Elisa nun ernst. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen und sah erschrocken, dass ihre Mutter sich gedanklich bereits irgendwelchen Fantasien hingab.

„Ach Kindchen, du brauchst doch keine Angst zu haben. Wenn du willst, dann reden wir mal über alles in Ruhe. So von Frau zu Frau. Da gibt es noch einige Dinge, die du wissen solltest. Wie das mit den Männern und den Frauen halt so ist“, meinte Eva und gab ganz die aufgeklärte Mutter.

Elisa schaute sie nur schief an. Das meinte ihre Mutter doch wohl nicht ernst?! Als Elisa sie aber eingehender betrachtete, wusste sie, dass jedes weitere Wort zwecklos war. Ihre Mutter würde sie doch nicht verstehen.

Bevor das Gespräch zwischen Mutter und Tochter weitergeführt werden konnte, kamen Elisas Vater und Bruder aus ihren Betten hervorgekrochen und setzten sich mit kleinen Augen an den Frühstückstisch. Peter blickte verwirrt von seiner Frau zu seiner Tochter. Er sah seine Frau versonnen und lächelnd ihren Brei löffeln. Auf der anderen Seite saß Elisa, die kopfschüttelnd ihren Tee trank.

Ratlos zuckte er mit den Schultern und entschied sich dafür, lieber nicht nachzufragen. Schließlich sollte man keine schlafenden Hunde wecken. Daher widmete er sich voll und ganz seinem Frühstück. Seine Erinnerungen an das abendliche Fest waren noch sehr lebendig, besonders die kulinarischen. So stellte er sich vor, statt des Breis hätte er eine Schweinshaxe vor sich. Und Peter hatte durchaus eine blühende Fantasie.

„Hm, ist das lecker“, entfuhr es ihm mit einem Mal. Eva und Elisa schauten irritiert, Matthias unterbrach sein Schmatzen.

„Hast wohl zu viel Bier getrunken?“, flachste Eva und alle mussten lachen. So saßen sie einträchtig, zweiträchtig beieinander und aßen ihren Brei. Nach dem Frühstück löste sich die Runde jedoch sehr schnell wieder auf. Peter verschwand mit Matthias im Stall. Eva räumte das Geschirr ab. Zu ihrer Tochter gewandt sagte sie mit einem unzweideutigen Augenzwinkern: „Geh nur Elisa, du hast bestimmt Wichtigeres zu tun, als mir hier in der Küche zu helfen“.

Nun war Elisa vollends genervt und zog es daher auch liebend gern vor, sich von dannen zu machen. Sie warf sich ihre dicke Wolljacke über und trat hinaus auf die Straße. Es war ein sehr stürmischer und verregneter Morgen.

Immer noch war es der gleiche Regen, der seit der vorigen Nacht unaufhörlich auf die Erde hernieder fiel und Elisa schon am zeitigen Morgen hatte frösteln lassen. Dass der Regen bedrohlich war, spürte Elisa sofort, als sie auf die Straße hinaustrat. Aber sie unterdrückte ihre Angst. Schließlich war es doch nur Regen. Und liebte sie nicht den Regen? Die Welt lag dann ganz ruhig da. Bei solchem Wetter schlenderte Elisa gerne einfach so durch die Straßen ihres Dorfes.

Außer Elisa wagte sich heute allerdings keine Menschenseele freiwillig hinaus. Daher war Elisa ganz allein und betrachtete ungestört den Himmel. Spürte den Sturm, der dunkle Wolken vor sich her trieb, fühlte die Regentropfen in ihrem Gesicht. Ihre dicke Wolljacke hielt aber so gut wie jedes Wetter von ihr ab und so machte sie einen langen Spaziergang durch Wiesen und Felder. Währenddessen dachte sie viel nach: über sich, über die Welt, über ihr verliebtes Herz.

Sie kam erst nach ein paar Stunden wieder zurück ins Dorf und ging gerade unter der Kastanie in der Mitte des Dorfplatzes hindurch, als sie gefunden wurde. Von Jakob. Er hatte sie bereits gesucht. Langsam ging er auf Elisa zu und stellte sich mit ihr unter den Baum. Die mächtige Krone der Kastanie hielt ihnen den Regen ab.

„Der Regen macht dir keine Angst. Nicht wahr?“, sagte Jakob zu seiner Nichte. „Du magst ihn sogar.“ Elisa überlegte. Zwar war der Himmel im Lauf des Morgens immer schwärzer geworden und der Regen hatte schon etwas Bedrohliches an sich, aber Angst hatte sie bisher nicht verspürt.

„Ich mag das Geräusch, wenn die Tropfen auf die Blätter fallen. Ich mag es zuzusehen, wie der Wind die Wolken vor sich her treibt. Das hat etwas Beruhigendes“, gab sie ihrem Onkel zur Antwort.

„Du bist schon ein sonderbarer Mensch“, sagte Jakob und schüttelte den Kopf. „Für die anderen hat der Regen etwas Beängstigendes. Besonders der lang anhaltende Regen wie dieser hier, der nichts Gutes verheißt. Und erst die Gewitter, die uns die Irratio in ihrem Zorn schicken. Wenn die Blitze vom Himmel zucken, wenn der Donner erdröhnt, dann wissen wir, dass wir etwas Falsches getan haben. Dass wir gegen die Regeln verstoßen und damit den Zorn der Irratio heraufbeschworen haben. Gewitter, Sturm und Regen sind die Zeichen dafür, dass sie besänftigt werden wollen. Sie fordern ihr Opfer ein. Vielleicht ein Teil der Ernte oder einen geliebten Menschen, wer weiß das schon. Das alles weißt du und trotzdem hast du keine Angst?“ Elisa wiegte den Kopf hin und her.

„Vor den Irratio habe ich Angst“, sagte sie melancholisch. „Ja, das stimmt. Aber nicht vor Donner, Sturm oder Regen. Sie sind doch ein Teil der Natur, ein Teil der Welt, in der wir leben. Und die Natur ist uns doch nicht böse gesinnt.“

„So, so. Das glaubst du also“, sagte Jakob kopfschüttelnd. Er blickte seine Nichte lange nachdenklich an. Dann nickte er und wurde ernst. „Heute ist ein trauriger Tag. Du weißt, gestern Nacht gab es einen Aufruhr. Franz und Miguel haben sich geprügelt. Wäre der Regen nicht gekommen. Wer weiß!? Vielleicht wären alle aufeinander losgegangen. Man weiß nie, was sich in den Menschen angestaut hat und einmal entfesselt, mit ungeheurer Macht hervorbricht. So etwas kann man nie wissen! Es könnte für uns alle ein böses Ende nehmen. Und das will doch wohl keiner von uns!“ Er sah seine Nichte eindringlich an.

Dann fuhr er fort: „Damit das alles kein böses Ende nimmt, gibt es unseren Codex. Immer und immer wieder habe ich versucht, den Menschen einzubläuen, dass er unsere einzige Rettung ist.“ Jakob schüttelte verständnislos den Kopf. Warum nur hielten sich die Menschen nicht an die Dinge, die er ihnen mit Engelszungen erklärte? Ein paar Gebote hier, ein paar Verbote da und alle konnten in Frieden leben. Was war daran nicht zu verstehen?

„Wir sind aber nun einmal keine Dinge, sondern Menschen“, meinte Elisa gereizt. „Darum sind uns die Regeln manchmal einfach ziemlich egal – ob nun unser Leben davon abhängt oder nicht. Regeln, Regeln, immer nur Regeln. Was ist denn mit unseren Träumen und Sehnsüchten? Wo ist denn für die Platz? Bei all den Regeln!“

Elisa mochte ihren Onkel gern, aber manchmal sprach er einfach zu viel von Codex und Regeln. Immer diese Vorwürfe, dass die Menschen sich nicht an Regeln hielten. Dass sie dumm seien und sich selbst zerstörten. Natürlich taten sie das, aber sie erschufen sich auch immer wieder neu. Elisa blickte ihren Onkel grimmig an.

Der geriet ob Elisas Worten vollends aus der Fassung. Das waren mehr oder minder die gleichen Worte, die Janos ihm schon entgegen geschleudert hatte. Waren denn hier alle verrückt geworden?

„Nichts versteht ihr! Gar nichts!“, schrie er in den Regen. „Ihr Menschen denkt doch, wenn euch das Wasser bis zum Bauch steht, dass ihr darin prima schwimmen könnt. Wenn es euch aber bis zum Hals steht, dann merkt ihr erst, dass ihr darin ersauft! Und du, dummes Fräulein, verstehst absolut gar nichts!“ Jakob sah Elisa mit weit aufgerissenen Augen an.

„Deinetwegen ist das doch alles erst passiert“, schnauzte Jakob Elisa an. „Der Franz will dich. Kapierst du das? Er will, dass du seine Frau wirst. Ganz so, wie es der Codex vorsieht. Darum ist er dir auch gestern Abend nachgelaufen und hat sich im Dunkel der Straßen versteckt. Na und was glaubst du, hat er da gesehen? Dass du da standest in den Armen eines anderen Mannes. Eines Mannes, der im Dunkeln fast genauso aussieht wie Miguel. Was sollte er da wohl anderes denken? Wütend war er! Und was tut man, wenn man wütend ist? Man lässt seine Wut am besten an jemandem aus. Und der Franz hat versucht, sein Mütchen an Miguel zu kühlen. Verstehst du jetzt?“ Jakob giftete seine Nichte regelrecht an. Er war zu sehr außer sich vor Angst, die Kontrolle über alles zu verlieren, als dass er seinen Ton hätte mäßigen können.

Elisa sah betreten zu Boden. Der Regen wurde immer stärker. Die Blätter konnten den Regen schon lange nicht mehr abhalten. Dicke Tropfen fielen von oben herab und perlten an Elisas Haaren herunter. Jakob und Elisa sahen aus wie begossene Pudel und so fühlten sie sich auch.

„Aber das ist doch nicht meine Schuld. Ich hab doch nichts getan. Plötzlich war er da. Einfach so“, protestierte Elisa kleinlaut.

Jakob biss sich auf die Lippe und beruhigte sich ein wenig. „Natürlich kannst du nichts dafür. Woher solltest du auch davon wissen.“ Jakob schlug mit der Faust gegen den Stamm der Kastanie und lehnte seine Stirn schwer gegen den stoischen Baum. Wasser tropfte ihm in den Nacken. Elisa fühlte sich elend. Wie sie ihren Onkel so sah, tat er ihr auf einmal sehr leid. Er sah so verletzlich aus, so hilflos.

„Kann ich etwas tun?“, fragte Elisa mitfühlend.

„Vielleicht“, sagte Jakob schweratmend. „Siehst du den Himmel? Siehst du, wie schwarz er ist? Du weißt, was das bedeutet!“ Der Himmel war nun pechschwarz. Das war längst kein harmloses Gewitter mehr, das sich da zusammenbraute und wieder ging. Keines der Gewitter, die von den Irratio geschickt wurden, um die Menschen daran zu erinnern, dass sie sich tugendhafter verhalten sollten.

Plötzlich empfand Elisa die kalten Tropfen auf ihrer Haut wie kleine Eisnadeln, die man ihr wie Eisennägel in die Haut rammte. Sie fröstelte – teils aus Furcht, teils wegen der Kälte. Großes Unheil drohte. Oh weh, die Ernte! Hatte ihr Onkel nicht eben noch davon gesprochen. Wenn es hagelte, konnte die ganze Ernte vernichtet werden. Was sollten sie denn dann essen, wovon sollten sie leben? Elisa sah Jakob an, sah seinen Blick und erschrak, denn sie ahnte irgendwie, was nun kommen würde.

„Ich habe zur Mittagszeit eine Versammlung einberufen. Alle werden da sein. Alle Menschen unserer drei Dörfer. Die Botschaft des Wetters ist eindeutig. Die Irratio sind erzürnt. Uns bleibt nichts übrig. Wir müssen sie besänftigen.“ Er schluckte. „Wir müssen ihnen ein Opfer bringen. Jemand von uns wird das Opfer sein. Komm Elisa. Komm!“

Er packte ihre Hand und zog sie mit sich. Sie stolperten durch den Regen. Kalter Schlamm spritzte an ihren Beinen hoch. Völlig durchnässt kamen sie am großen Haus an. Es diente zugleich als Tempel der Irratio und als Versammlungshaus aller drei Dörfer.

Jakob öffnete die Tür und zwängte sich mit seiner Nichte hinein. Sie waren die Letzten. Alle anderen waren schon dort und saßen dicht an dicht auf ihren Plätzen. An der Seitenwand befand sich ein großer Ofen, den Jakob angefeuert hatte, damit es warm wurde in diesem großen Haus. Jakob und Elisa schritten durch die Reihen nach vorne. Dann schließlich gab Jakob Elisas Hand frei und die ließ sich schüchtern und dankbar neben dem Ofen nieder. Notdürftig versuchte sie die Nässe aus ihren Kleidern zu schütteln, es gelang ihr mehr schlecht als recht. Zitternd kauerte sie sich neben den warmen Ofen und machte sich ganz klein.

Um sie herum herrschte gebannte Stille; alle schauten zu Jakob. Gespannt und voller Furcht warteten sie auf seine Worte. Selbst der Einfältigste hatte mittlerweile begriffen, dass da draußen ein Unwetter lauerte, das sie alle in ihrem Leben bedrohte. Jakob ließ sich Zeit. Sollten sie doch warten. Je mehr Angst sie hatten, desto schneller hatte er alles wieder unter Kontrolle, dachte er sich. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in die Runde. Da saßen sie alle, zitterten und bibberten. Ganz hinten saß der Franz und machte sich ebenfalls ganz klein.

„Freunde“, eröffnete Jakob die Versammlung. „Ihr seht den Himmel da draußen. Die Irratio sind wütend. Letzte Nacht haben wir gefeiert. Einige von uns aber haben sich gehen lassen. Du, Franz!“ Jakob blickte mit gestrengem Blick zu Franz hinüber. Die Augen aller waren im nächsten Moment auf den Gescholtenen gerichtet und man sah förmlich, wie der blonde Hüne unter den vorwurfsvollen Blicken in sich zusammensackte.

Dann fuhr Jakob mit seiner Rede fort und zog wieder die Blicke auf sich: „War auch der Franz derjenige, der mit dieser Prügelei begonnen hat, so habt ihr alle euch mitschuldig gemacht. Denn niemand von euch ist hinzugeeilt und hat dem Ganzen ein Ende bereitet. Ihr hättet verhindern können, dass es nun soweit kommen muss!“ Beschämt senkten die Anwesenden den Blick und stierten zu Boden. So war es recht! Jakob bekam sie zu packen.

Er sprach weiter: „Ihr alle kennt die Regeln: Maß halten, nicht über die Stränge schlagen und keine Gewalt. Um nur die zu nennen, gegen die ihr verstoßen habt. Was glaubt ihr, was nun geschehen muss, damit euer Sündenfall gesühnt werden kann?“ Die Anwesenden schwiegen.

„Ich sage es euch. Seit so vielen Jahren waren die Irratio mit uns nachsichtig gewesen. Und wie haben wir es ihnen gedankt? Mit Ungehorsam und Leichtsinn. Nun ist es vorbei mit ihrer Milde. Sie fordern unseren Gehorsam ein und als Zeichen unserer Willigkeit erwarten sie nichts geringeres, als dass wir ihnen ein Opfer darbringen“, sprach Jakob langsam und deutlich, so dass es jeder hören konnte. Bei seinen Worten ging ein Raunen der Angst durch den Raum.

„Liebe Freunde. Die Weisung der Irratio ist unmissverständlich. Es bleibt uns keine andere Wahl. Einer oder eine aus unserer Mitte wird dieses Los treffen und den Irratio als Opfer dargebracht werden. Einer von uns wird uns verlassen müssen!“ Jakob schwieg eine Weile, um die Spannung unerträglich werden zu lassen. Und die Menschen machten sich noch kleiner, als sie es ohnehin schon waren.

„Ich werde mich opfern“, sagte da plötzlich der Franz mit zitternder Stimme. Jakob schaute ihn verdutzt an und war sprachlos. Dieses Intermezzo passte Jakob so gar nicht in den Kram, daher wusste er auch erst mal gar nicht, was er sagen sollte. Der Franz aber erhielt von den anderen nun einige bewundernde Blicke, was den Jüngling noch mehr bestärkte.

„Ja, ich werde mich opfern. Ich bin es ja auch Schuld“, sagte er nun ein wenig lauter. Jakob hatte seine erste Überraschung überwunden. Wie alle im Saal, hätte er solch ein Verhalten dem Franz gar nicht zugetraut. Aber so selbstlos dieses Angebot auch war, es ging nicht. Es passte nicht ins Konzept!

„Das ist sehr selbstlos von dir, Franz“, war denn auch Jakobs Antwort, „aber leider nützt das nichts!“

„Aber wieso denn?“, fragte Franz ungläubig. „Wenn ich es doch Schuld bin, dann kann ich mich doch auch opfern!“ Die Vorstellung, als Held betrachtet zu werden, gefiel ihm.

„Es tut mir leid. Aber die Irratio haben mir einen anderen Namen genannt und nur sie bestimmen, wen sie als Opfer akzeptieren“, sagte Jakob. „Bevor du Miguel angegriffen hast, da hättest du etwas tun können, um uns allen diesen Schicksalsschlag zu ersparen. Jetzt aber kommen deine Reue und dein Angebot zu spät. Die Irratio haben entschieden. Sie wollen diesen einen bestimmten Menschen und sonst niemanden. Das müssen wir leider akzeptieren“, sagte Jakob ohne weitere Widerworte zu dulden.

Franz kroch wieder auf seinen Platz zurück. Aus der Traum, den Helden zu spielen. Nun war er doch wieder nur der Franz. Während er ganz still auf seinem Platz verharrte, brach unter den anderen ein wahrer Tumult aus. Die Anwesenden sprachen wild durcheinander.

„Wer soll es denn sein?“, fragte da der alte Erik und übertönte mit seiner rauen Stimme die Lärmenden. Er zählte fast siebzig Jahre. Ihn focht das alles nicht mehr an. Er wollte nur wieder nach Hause und seine Ruhe haben. Da wurde es wieder still im Saal. Alle warteten nun gebannt, dass Jakob den Namen des oder der Unglücklichen nannte.

„Es tut mir leid. Ich wünschte, das alles müsste nicht geschehen. Aber einer aus unserer Mitte wird uns verlassen müssen.“ Jakobs Augen suchten Elisa und fanden sie schließlich neben dem Ofen kauernd. Dort, wo sie schon die ganze Zeit mucksmäuschenstill ausgeharrt hatte. Jakob blickte ihr fest in die Augen. Elisas Herz setzte für einen Moment aus, aber sie hielt seinem Blick stand – mochte kommen, was kommen wollte!

„Die Irratio wollen“, sagte Jakob bedächtig, „sie wollen, dass Michael Brannt zu ihnen kommt.“

Ein Stöhnen ging durch den Saal. Während Michaels Mutter schrie und sein Vater mit der Faust aus lauter Ohnmacht auf die Bank hieb, wusste der Junge gar nicht recht, wie ihm geschah. Der ganze Saal war in Aufruhr. Die Frauen schluchzten, die Männer schimpften. Jakob ließ sie gewähren.

Sie sollten einige Minuten haben, um sich dem allen bewusst zu werden. Er kannte den Schmerz, den sie fühlten. Doch dieser Schmerz musste ihnen zugefügt werden, damit sie alle wieder auf den rechten Weg fanden. Jakob ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und schaute von einem zum anderen. Er hasste sich selbst dafür, ihnen das antun zu müssen. Als er dann Elisa entdeckte, die immer noch neben dem Ofen kauerte, machte er sich mit einem Mal große Sorgen um sie. Sie war kreidebleich und sah gar nicht gut aus. Da er den Menschen einige Augenblicke geben wollte, um ihren Kummer zu verarbeiten, hatte er Zeit, nach Elisa zu schauen. Besorgt ging er zu ihr hinüber.

„Was ist mit dir?“, fragte Jakob beunruhigt.

„So ein Elend! Die arme Familie! Und das nur, weil es auch meine Schuld war. Du hast mich so angesehen. Und dann trifft es diesen armen Jungen da“, antwortete Elisa stockend. Sie war völlig fertig mit sich und der Welt. Jakob trat zu ihr hin und legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter.

„Es tut mir leid. Wenn ich dir einen Schrecken eingejagt haben sollte, dann war das bestimmt nicht meine Absicht. All die Aufregungen der letzten beiden Tage. Der wenige Schlaf. Im Augenblick geht mir das ein oder andere nicht leicht von der Hand“, gab Jakob ehrlich zu.

„Der arme Junge. Ich bin daran mit Schuld“, sagte Elisa nur.

„Es ist nicht deine Schuld. Dass Michael zu den Irratio gerufen wird, ist nicht erst heute entschieden worden. Michael ist ein besonderer Mensch, er hat besondere Fähigkeiten. Deshalb haben wir ihn ausgewählt. Mach dir keine Gedanken. Michael wird nichts geschehen, er wird nur an einen anderen Ort gehen“, erklärte Jakob und versuchte, Elisa ihre Schuldgefühle auszureden. Elisa nickte benommen. Dann aber sah man förmlich, wie sich ihre Stirn in Falten legte. Ihr Verstand arbeitete noch.

„Was meinst du denn damit, dass ihr ihn ausgewählt habt?“, fragte sie stirnrunzelnd.

„Wie? Was? Nein, natürlich die Irratio!“, stotterte Jakob auf ihre Frage hin. Einen Wimpernschlag später hatte er sich wieder im Griff und blickte seine Nichte ernst an: „Es wird Zeit, dass ich dich mitnehme und dir einmal die Dinge zeige, so wie sie sind, denn ich brauche dich als meine Nachfolgerin. Ich hätte es längst schon tun sollen, aber im Augenblick überschlagen sich die Ereignisse. Du siehst es ja selbst.“ Ohne ein weiteres Wort des Erklärens, ließ er seine Nichte nun noch ratloser als zuvor zurück und ging wieder nach vorne zum Podest, um die Versammelten zur Ordnung zu rufen.

Mittlerweile hatten die Anwesenden den ersten Schock überwunden. Bei den meisten stellte sich nun die Erleichterung darüber ein, dass der Kelch an ihnen vorübergegangen war. Nur Familie Brannt, der es nicht zu verdenken war, saß nach wie vor völlig aufgelöst da. Michael hockte einfach nur zwischen seinen Eltern und konnte nicht begreifen, was um ihn herum vorging. Seine Mutter schluchzte herzzerreißend. An ihren Rockzipfel klammerte sich die kleine Maria und vergrub ihr Gesicht ängstlich im Schoß ihrer Mutter. Michaels Vater stierte nur noch mit leerem Blick vor sich hin.

„Freunde“, übertönte Jakob das Jammern der armen Frau. „Einer von uns muss gehen, damit wir anderen weiterleben können. Michael, mein Junge, hab keine Angst! Du wirst zwar fortgerufen von uns, aber glaube mir, du brauchst keine Angst zu haben.“ Michael sah ihn jedoch nur mit großen Augen an und verstand nicht.

Der Anblick der weinenden Mutter ging Jakob an die Nieren. Er hasste es, dies tun zu müssen. Warum hatte es überhaupt so weit kommen müssen? Oh, er hatte alles so satt. Schließlich hatte auch er es sich nicht ausgesucht, immer wieder dort vorne zu stehen und Hiobsbotschaften verkünden zu müssen. Sollten sie ihn doch alle mal kreuzweise! Sein Blick glitt über die Menschen, die da vor ihm saßen und auf ihn vertrauten. Er sah ihre Blicke, die auf ihn gerichtet waren. Manche schauten zornig, manche traurig, manche teilnahmslos, manche ängstlich. Wie sie auch fühlten, niemand zweifelte an Jakob. Sie alle vertrauten ihm blind. Was für eine Bürde!

„Morgen früh wird es soweit sein. Morgen früh wird Michael auf die Reise geschickt. Er wird seinen Teil tun, um unser aller Leben zu retten. Morgen früh auf dem Pfad des Vergessens.“ Damit hatte Jakob das gesagt, was er sagen musste. Er verließ den Raum. Betretenes Schweigen machte sich breit.

Ganz hinten auf dem Sünderbänkchen saß der Franz völlig in sich zusammengesunken. Tief in seinem Inneren war er froh, dass er nun nicht an Michaels Stelle war. Denn wenn es wirklich ernst wurde, dann war es mit seinem Mut doch nicht allzu weit her. Er konnte es nicht mehr länger ertragen und machte sich daher aus dem Staub – still und heimlich. Auch die meisten der anderen gingen, der Saal leerte sich, übrig blieben allein die Brannts und Elisa.

Nach einer Weile verließ die junge Frau ihren Platz am Ofen und ging zögerlich zu der wehklagenden Familie hinüber. Elisa setzte sich einfach neben die dort Kauernden und wartete. Viel konnte sie ja nicht tun, aber sie wollte der Familie wenigstens Trost spenden in ihrem Kummer.

„Ist das nicht ein Unglück, das da über uns hereinbricht? Warum nur trifft es uns? Warum nur meinen Michael?“, schluchzte die Mutter eines Kindes.

Elisa fühlte mit ihr. Sie wusste nicht warum oder weshalb gerade Michael dieses Los getroffen hatte. Überhaupt wusste sie gar nichts mehr. Warum war sie überhaupt geblieben und saß nun hier neben diesen Leuten? Im Grunde ging es sie ja gar nichts an, war es doch die Aufgabe ihres Onkels, die Dinge zu erklären!

„Ich weiß es nicht“, sagte Elisa nach einiger Zeit des Überlegens und meinte es ehrlich. „Mir sind in den letzten Tagen sehr viele merkwürdige Dinge geschehen. Vieles von dem, was ich erlebt habe, ergibt nicht wirklich einen Sinn. Auch ich bin der Verzweiflung nahe und niemand ist willens, mir Antworten zu geben. Aber da ist etwas in mir, eine Gewissheit, die ich nicht beschreiben kann, dass die Dinge aus einem tieferen Grund heraus geschehen. Nichts ist willkürlich, sondern alles erfüllt seinen Zweck. So ist es auch mit Michael. Dass er auserwählt wurde, sich für uns opfern zu müssen, reißt euch als Eltern schier das Herz aus dem Leib. Aber es geschieht nicht ohne Sinn. Er hilft uns damit. Er hilft uns am Leben zu bleiben.“

„Was soll denn unser Leben noch für einen Sinn haben, wenn unser Michael nicht mehr da ist?“, klagte die Mutter, die in Elisas Worten keinen Trost fand.

„Ihr habt ja auch noch eure Tochter, die Maria. Ist es nicht ein Segen, dass die Maria und all die anderen Kinder unbekümmert aufwachsen können. Ich weiß, Michael hätte das genauso verdient! Aber er wurde auserwählt. Er ist es, dem die Kinder und wir das verdanken können!“ Elisa ergriff die Hand von Frau Brannt und sah sie dabei mitfühlend an. Dabei war sie von sich selbst überrascht. Sie verhielt sich mit einem Male so seltsam, so erwachsen. Die Unbekümmertheit, die sie noch vor wenigen Tagen besessen hatte, war dahin. Nun stand sie hier und fühlte, was für eine riesige Aufgabe vor ihr lag. Sie konnte sich ihr nicht verweigern, sich ihr nicht entziehen. So tat sie einfach das, was ihr Bauch ihr riet: Sie versuchte, diese armen Eltern zu trösten.

„Ich weiß, du meinst es gut. Aber es fällt mir schwer, schon jetzt daran zu glauben. Zu groß ist mein Schmerz“, sagte die Mutter. Der Vater sagte nichts; er schaute nur bitter drein.

„Ja, ich weiß. Doch ihr werdet loslassen und der Schmerz wird vergehen. Ihr werdet nach vorne schauen und euren Michael in euch weiterleben lassen“, sagte Elisa zum Schluss und ließ die Familie allein im großen Haus zurück. Die junge Frau trat hinaus ins Freie und wunderte sich über sich selbst. Warum sagte sie plötzlich solche Dinge?

Die Farben im Paradies

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