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3. Kapitel in dem Regen fällt, der nicht fallen sollte, es aber trotzdem tut
ОглавлениеAber der geheimnisvolle Fremde kam nicht zurück. An seiner Statt kam jemand anderes. Der Mann mit der Laterne – Elisas Onkel Jakob. Er fand seine Nichte an das große Tor der Brannts gelehnt und war sichtlich erleichtert, sie alleine vorzufinden.
Als Jakob bemerkt hatte, dass Elisa das Fest vorzeitig und ganz alleine verlassen hatte, war er ihr mit einer Laterne nachgeeilt. Wer wusste schon, wer oder was ihr im fahlen Mondlicht nicht alles begegnen konnte. Jakob hielt die Laterne hoch, um Elisas Gesicht betrachten zu können. Das, was er sah, gefiel ihm gar nicht. Ihre Gesichtszüge waren merkwürdig verschlossen und ihr Blick bohrte sich geradezu in seine Augen.
„Du solltest nicht alleine nach Hause gehen“, sagte Jakob ein wenig vorwurfsvoll.
„Ich bin schon so oft alleine nach Hause gegangen. Warum also nicht auch heute?“, gab sie ihm schroff zur Antwort.
„Nun, du solltest nicht so alleine sein. Manchmal ist das gar nicht ratsam“, wand sich Jakob.
„Ach ja? Was könnte denn deiner Meinung nach geschehen?“, fragte Elisa angriffslustig. Jakob sah auf einmal ein Glitzern in ihren Augen. Er wusste nun, dass er zu spät gekommen war. Sie waren sich begegnet. Der Stein war ins Rollen geraten und nicht mehr aufzuhalten. Er musste sie nun einweihen, ob er wollte oder nicht. Daran führte kein Weg vorbei. Aber er wollte es behutsam und langsam tun, sonst könnte Elisa daran zerbrechen. Jakob hätte gerne mehr Zeit gehabt.
„In der Dunkelheit kann sich vieles verbergen. Längst Vergangenes und Vergessenes vermag aus der Nacht hervorzukommen und in dein Leben einzutreten “, sagte er ausweichend. Er schaute ihr in die Augen. Sie musste ihm vertrauen, sonst war alles in Gefahr, einfach alles. So viel hing von ihr ab. Davon, dass sie ihm folgte.
„Aber heißt vergangen nicht auch, dass etwas unwiederbringlich vorüber ist. Wie aber kann etwas, das seit langen Jahren auch vergessen war, wieder in mein Leben treten?“, entgegnete Elisa spitz. In ihrer Stimme lag eine unverkennbare Schärfe. Sie gab ihre sonst übliche Höflichkeit auf. Zu viel war heute geschehen. Sie verlangte nach Antworten. Und zwar sofort. Darauf hatte sie ein Anrecht!
„Das meiste, was vorbei ist, ist auch vorbei. Aber es gibt Dinge, die sind nicht vorüber, sondern nur verborgen. Verborgen vor den Menschen, weil sie sie nicht verstehen würden.“ Jakob stockte. Es war kein Gespräch, das er hier im Dunkeln führen wollte.
„Komm, lass uns zu euch nach Hause gehen. Am Feuer redet es sich besser als hier auf der Straße. Die Nacht hat zu viele Ohren, wie du wohl selbst schon erfahren hast“, schlug Jakob vor. Elisa nickte bestätigend und ging voraus. Jakob folgte ihr mit der Laterne in der Hand.
Das Mondlicht ergriff wieder Besitz von Straße und Häusern. Aus der Schwärze des Seitenweges trat nun ein Mann ins fahle Mondlicht. Er hatte die ganze Zeit dort gestanden und alles mitverfolgt, so gut er konnte. Jakobs Auftauchen mit der Laterne, aber mehr noch Elisas zärtliche Umarmung mit diesem Fremden. Ihr Flüstern miteinander. Zu gerne hätte er gewusst, was sie einander zugeraunt hatten.
Er ballte die Fäuste in seiner Tasche. Leider war er nicht nahe genug herangekommen, um etwas zu erkennen. Aber er war ihnen nahe genug gewesen, um sich so einiges zusammenzureimen. Der blonde Jüngling kochte vor Wut. Elisa war doch ihm versprochen und niemand anderem! Sie war sein. Hatte Jakob nicht noch vorhin diese unmissverständliche Andeutung gemacht?
Den ganzen Abend hatte er darauf gewartet, dass ihre Verlobung bekanntgegeben würde. War es denn nicht so bestimmt? Hatte er nicht ein Recht darauf? Der Franz ballte die Fäuste in der Tasche nun noch fester. Ihr Onkel, der hielt sich nicht an den Codex. War er es nicht immer, der sagte, man müsse sich an den Codex halten? Und eine seiner Regeln besagte, dass ein junger Mann und eine junge Frau sobald sie älter als einundzwanzig waren, heiraten sollten. Auch der Franz konnte eins und eins zusammenzählen. Und er wusste, dass Elisa daher seine Frau zu werden hatte!
Nun war der blonde Hüne vollends in Rage. Wer war überhaupt dieser Kerl im Dunkeln? Er hatte ihn nicht erkannt, dafür war es zu finster gewesen. Aber von der Größe und Statur her könnte es dieser heißblütige Miguel aus Esperanza gewesen sein. Er war erst achtzehn, aber schon ein ganz lüsternes Bürschchen. Franz schnaubte. Na, der konnte sich mal auf etwas gefasst machen! Bebend vor Zorn stapfte Franz in Richtung Festplatz davon.
Derweil hatten Jakob und Elisa den elterlichen Hof erreicht. Die junge Frau öffnete das Tor. Knarzend bewegte es sich. Sodann betraten Jakob und Elisa den dahinter liegenden Hof. Rechterhand lag das Wohngebäude, nach hinten schlossen sich der kleine Stall, ein Schuppen und der Gemüsegarten an. Vor fast einhundert Jahren hatten Elisas Urgroßeltern gemeinsam mit den anderen Menschen diesen Hof und all die anderen Höfe des Dorfes gebaut.
Alle sahen nahezu gleich aus. Der Keller und das Erdgeschoss der Wohnhäuser waren aus Bruchstein gemauert. Grauer Basaltstein trug die Lasten über den Türen und Fenstern. Die Etage darüber war in Fachwerkbauweise errichtet. Starke Eichenbalken formten den Rahmen. Die Gefache waren mit Flechtwerk und Lehm gefüllt. Grazil, aber dauerhaft. Die Dächer waren mit Schiefer eingedeckt und trotzten jedem Sturm und Regen. Solche Häuser hielten ewiglich, zumindest länger als viele Menschenleben.
„Komm rein“, sagte Elisa zu Jakob, als sie die kleine Treppe zur Haustür hinaufgegangen war, das Schloss geöffnet und den Riegel der Tür zur Seite geschoben hatte.
„Ja“, antwortete Jakob und folgte ihr.
Sie gingen in die Küche, dem Lebensmittelpunkt der Familie. Sie war einfach, aber praktisch eingerichtet. Ein eiserner Küchenherd, ein Spülstein, Schränke, ein Tisch, ein paar Stühle, eine große Bank. Auf dem Boden lagen schwere Schieferplatten, die zwar kalt, dafür aber leicht sauber zu halten waren.
Elisa fröstelte. Es war kalt im Haus. Das Feuer war schon seit Stunden erloschen. Unversehens machte sich Elisa daran, es wieder in Gang zu bringen. Jakob setzte sich in der Zwischenzeit auf die Bank. Die Laterne stellte er auf den Tisch, so dass sie die Küche leidlich erleuchtete.
„Es ist kalt. Ich mache erst mal Feuer“, sagte Elisa, der doch ein wenig unbehaglich zumute war.
„Ist recht“, gab Jakob müde zur Antwort.
Elisa öffnete die Ofentür und kehrte zunächst die Asche ein wenig zur Seite. Dann nahm sie etwas von dem Reisig und legte es auf den Ofenrost. In der Holzkiste neben dem Ofen fand sie die Feuersteine, hielt sie an den Zunder zwischen dem Reisig und schlug die Steine gegeneinander. Funken sprühten. Nach ein paar Versuchen hatten Zunder und Reisig Feuer gefangen und loderten auf. Elisa nahm nun ein paar kleinere Holzstücke und legte sie vorsichtig auf das brennende Reisig. Die Flammen züngelten immer gefräßiger und verschlangen alsbald auch diese Holzstücke. Nun legte Elisa zwei Holzscheite nach und wartete bis das Feuer richtig brannte.
Jakob schaute ihr dabei stumm zu. Mit einem Mal sah er die Frau in ihr und nicht mehr das kleine Mädchen, das ihm als Kind so viele Löcher in den Bauch gefragt hatte. Sie war erwachsen geworden. Und er selbst? Mit einem Mal fühlte sich Jakob ziemlich alt.
Da endlich loderte das Feuer im Ofen. Langsam wurde es in der Küche wärmer. Zufrieden schloss Elisa die eiserne Klappe des Ofens, wischte sich die Hände an einem Tuch ab und setzte sich zu Jakob.
„Manchmal“, sagte sie. „Manchmal wünschte ich mir, dass das mit dem Feuer viel einfacher wäre. Wenn man einfach zum Ofen gehen könnte, irgendwo draufdrückt und schon hätte man es warm. Verrückt, nicht wahr?“ Elisa lachte. Jakob sah sie an und seufzte.
„Nein, keinesfalls“, antwortete er. „Das ist nicht verrückt. Das gibt es. Das und noch viel mehr.“
„Wie?“, fragte Elisa irritiert. Jakob seufzte noch einmal. Sie war kein Kind mehr, also durfte er auch mit ihr nicht mehr wie mit einem Kind reden. Nur, wie sollte er ihr etwas erklären, was für sie so unvorstellbar war?
„Ich weiß, dass das alles für dich, wenn überhaupt, nur schwer zu verstehen ist. Aber im Laufe der Zeit will ich dir alles zeigen und erklären, so dass du die Zusammenhänge dahinter erkennen wirst. Diese unsere Welt, in der du, ich und all die anderen Menschen unserer drei Dörfer leben, ist nur eine kleine Welt. Wir leben hier in Ruhe und Frieden unter den wachsamen Augen der Irratio. Was aber, wenn ich dir sage, dass es da jenseits des verbotenen Waldes, dem Reich der Irratio, noch eine andere Welt gibt? Eine Welt, in der wir Menschen früher gelebt haben.“ Jakob schaute Elisa in die Augen.
„Ich verstehe nicht recht“, sagte Elisa und runzelte die Stirn.
„Na ja“, meinte Jakob. „Es gibt die Welt, so wie du und die anderen sie kennen. Und es gibt da noch eine andere Welt jenseits der Grenze zu den Irratio. Früher, haben unsere Vorfahren schon einmal so gelebt wie wir heute. Erst waren sie Jäger und Sammler. Dann lebten sie als Bauern in Dörfern. Aber, nun ja. Sie fingen an, immer neue Dinge zu erfinden. Wie Michael da mit seiner Maschine. Sie haben sich Dinge einfallen lassen, die das Leben leichter machten. Öfen, bei denen man nur noch drehen musste und es wurde warm. Karren, die ohne Pferde von alleine fuhren. Toiletten mit Wasserspülung. Oder Staubsauger. Sie erfanden immer mehr Dinge. Alles wurde immer schneller und schneller und schneller. Und dann eines Tages.“
Jakob stockte. Sein Blick wurde glasig. Das einzige, was zu hören war, war das Knistern des Feuers. Elisa saß neben ihrem Onkel. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, aber so gut wie nichts verstanden. Für sie war das nur wirres Zeug. Staubsauger?! Was um alles in der Welt sollte das denn sein? Elisa fragte sich ernsthaft, ob Jakob krank war. So seltsam, wie er sich heute benahm. Vorsichtig fühlte sie mir ihrer Hand auf seiner Stirn, ob er Fieber hatte. Doch seine Stirn war kalt.
„Geht es dir gut?“, fragte Elisa.
„Wieso?“, fragte Jakob irritiert. „Ach so“. Er lachte. „Nein, mir geht es gut. Es muss auf dich so wirken, als ob ich verrückt geworden sei. Aber glaub mir. Da draußen gibt es noch so einiges. Es ist nur so schwer, es dir zu erklären. Auch hätte ich gerne mehr Zeit dazu gehabt. Aber gewisse Dinge lassen mir keine Wahl.“ Jakob verstummte wiederum.
„Und weiter?“, fragte Elisa ungeduldig, nachdem er eine Weile nichts gesagt hatte. Sie hasste diese Eigenart Jakobs. Da war er nicht anders als sein Bruder, Elisas Vater Peter. Beide konnten so gut wie nie auch nur ansatzweise zur Sache kommen.
„Wie? Ach so, ja“, stammelte Jakob und blies seine Backen auf. Elisa schüttelte den Kopf. In das Knistern des Feuers mischte sich nun noch ein anderes Geräusch: das Prasseln des Regens auf das Dach.
„Es regnet“, stellte Elisa fest.
„Hm“, machte Jakob gedankenversunken. Doch dann war er plötzlich hellwach. „Wie? Es regnet? Das kann doch nicht sein!“, sagte er sichtlich entsetzt.
„Doch. Hör doch!“ Elisa und Jakob lauschten. In der Tat, Jakob hörte ebenfalls ganz deutlich, wie der Regen auf das Schieferdach prasselte. Ein ungewöhnlich starker Frühlingsregen. Während Elisa dem Prasseln der Regentropfen lauschte, wuchs bei Jakob die Besorgnis. Was mochte da draußen vorgefallen sein? Normalerweise hatten diese Festtage mild und trocken zu sein. Doch wenn es derart regnete, musste sich auf dem Fest irgendetwas ereignet haben. Bevor er noch seinen Gedankengang beendet hatte, wurde die Tür aufgestoßen. Herein traten Elisas Eltern und ihr etwas jüngerer Bruder Matthias.
„Was für ein Sauwetter“, waren die ersten Worte von Elisas Mutter. „Los rein und dann stracks raus aus den Klamotten“.
Durchnässt bis auf die Knochen hatte sich die komplette Familie nun in der Küche eingefunden. Elisas Vater Peter kauerte sich über den Ofen, um sich aufzuwärmen. Elisas Mutter griff nach einem Handtuch und rubbelte damit ihrem Sohn Matthias die Haare trocken. Jakob räusperte sich.
„Hallo Peter. Eva. Sagt, was ist denn passiert?“, fragte er besorgt. Peter rieb sich die Hände über dem Feuer und blickte Jakob an. In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz.
„Hach, es war ein schönes Fest. So ein schönes Fest. So viel Bier und Fleisch“, sagte Peter verträumt. Er schwelgte in seinen kulinarischen Erinnerungen.
„Ja, ja“, unterbrach ihn Jakob. Sein Bruder kam nie zur Sache.
„Aber was ist denn nun passiert?“, fragte Jakob nochmals und wandte sich dabei an Eva.
Elisas Mutter Eva hatte ihrem Sohn in der Zwischenzeit Jacke und Hose ausgezogen und sie zum Trocknen aufgehängt.
„Der Franz. Der dumme Kerl“, berichtete Eva. „Er war zwischenzeitlich mal vom Festplatz verschwunden. Ich glaube, so kurz nachdem du gegangen warst, Elisa. Dann kam er nach einer Weile wieder zurück. Er muss wohl hier in der Nähe gewesen sein, zumindest kam er aus dieser Richtung. Mit einer Leichenbittermiene ist er über den Festplatz gestampft, geradewegs auf diesen hübschen Miguel aus Esperanza zu. Ich hab ja alles leider nur aus der Ferne sehen können, aber es schien, als habe der Franz den Jungen heftig angeschrien. Der arme Miguel wusste wohl gar nicht, wie ihm geschah. Das hat den Franz dann nur noch wilder gemacht und am Ende hat er dem Jungen eins auf die Nase gegeben. Einfach so. Stellt euch das mal vor?! Schon war die schönste Keilerei im Gange. Na, die anderen aus Esperanza haben natürlich Miguel geholfen so gut es ging. Aber gegen den Franz, diesen Bullen, war das gar nicht so einfach. Eine Weile ging das wild hin und her, die Kerle haben ganz schön aus ihren Nasen geblutet, kann ich euch sagen. Tja und dann fing es plötzlich an zu regnen. Hättet mal sehen sollen, was die alle ganz schnell die Beine in die Hand genommen haben. Das glaubt ihr nicht, wie schnell der Franz plötzlich ab durch die Mitte war. Genau wie alle anderen sind auch wir dann nix wie ab nach Hause, denn solch ein Regen verheißt nichts Gutes, oder?“
Damit beendete Eva ihre kurze Zusammenfassung der Ereignisse und schaute ihren Schwager fragend an.
Jakob fluchte innerlich. Irgendetwas musste Franz wohl gesehen haben?! Er blickte seine Nichte an und ihm kam ein Gedanke. Was, wenn der Franz Elisa nachgeschlichen war. Was wenn er ihr in der Gasse aufgelauert hätte? Was, wenn er da jemanden gesehen hätte. Ja, das passte! Die beiden hatten eine ähnliche Gestalt. Was war bloß in diesen Kerl gefahren? Jakob seufzte. Nun galt es, zu retten, was zu retten war. Keine Zeit mehr für weitere Erklärungen. Jakob stand hastig auf.
„Was ist los? Musst du schon weg?“, fragte Elisa aufgewühlt.
„Ja, denn gewisse Dinge sind anders gelaufen, als ich gedacht habe. Darum muss ich mich jetzt kümmern. Keine Sorge Elisa, wir werden noch miteinander reden, aber nicht mehr heute“, sagte Jakob abschließend. Elisa war sichtlich enttäuscht ob des überhasteten Aufbruchs ihres Onkels, hatte sie doch gehofft, noch mehr, vor allem Erhellendes, von ihm zu erfahren.
„Machts gut. Peter. Eva“. Jakob nickte kurz, dann war er schon im Regen verschwunden. Von den Zurückgebliebenen ging ein jeder von nun an seiner eigenen Wege. Eva brachte ihren Sohn in dessen kleine Schlafkammer neben der Küche, zog ihm trockene Sachen an und stopfte ihn ins Bett. Ihr Mann, Peter, ging ebenfalls zu Bett, ein Lächeln umspielte seinen Mund. Er würde selig in den Schlaf sinken und sicher gute Träume haben – so voller tanzender, gebratener Spanferkel.
Elisa blieb allein in der Küche zurück und kümmerte sich noch um die restlichen Arbeiten. Sie schürte ein letztes Mal das Feuer, bereitete den Getreidebrei für das Frühstück vor und lauschte dabei verträumt dem Regen. Die Ereignisse des Tages spukten ihr im Kopf herum. Wie unglaublich das alles war. Auch fühlte sie ein heftiges Verlangen – eine Sehnsucht nach dem geheimnisvollen jungen Mann.
Sie hatte so eine Ahnung, wer er war. Dass er es war, das konnte eigentlich gar nicht sein, sagte ihr Verstand. Dass er es sehr wohl sein konnte, sagte ihr Herz. Elisa entschied sich dafür, ihrem Herzen zu glauben und das pochte, polterte, überschlug sich und ward traurig. Traurig darüber, dass alles wohl ganz anders war, als sie immer gedacht hatte.
„Ach Janos, mein Janos“, flüsterte sie in die halbdunkle Küche. Nun war es auch für Elisa Zeit, ins Bett zu gehen. Sie löschte das Kerzenlicht in der Küche, stieg im Dunkeln die kleine Treppe hinauf zu ihrer kleinen, aber eigenen Kammer im Obergeschoss. Müde, von den Strapazen des Tages ermattet, legte sie sich ins Bett und kuschelte sich eng in das Laken ein. Nur wenig später schon sank die junge Frau in einen sehnsuchtsvollen Schlaf.
Draußen prasselte der Regen nach wie vor auf die Dächer. Es war kein Regen, der einfach so kam und wieder ging. Dieser Regen war anders, doch das wollten die Menschen noch nicht ahnen, als sie durchnässt und fröstelnd vom Fest in ihre Heime zurückkehrten. Ein jeder von ihnen begab sich bald zu Bett, schickte ein paar fromme Gedanken gen Himmel und hoffte, dass am nächsten Morgen die Sonne wohl wieder scheinen würde.
Als Jakob all seine ihm anvertrauten Schäfchen endlich friedlich in ihren Betten schlummern sah, löste er seinen Blick einigermaßen beruhigt vom Bildschirm. Erschöpft sank er in seinen Stuhl. Doch zur Ruhe kam er nicht, denn es brodelte in ihm. Schwungvoll drehte er sich mit seinem Stuhl herum und blickte in die Runde. Da standen sie alle in seinem Büro; es waren etwa zwanzig Gestalten, die nervös auf das warteten, was nun kommen mochte.
„Seid ihr völlig übergeschnappt?“, blaffte Jakob sie an. „Ist euch klar, wie knapp das alles war? Dann wäre uns das ganze Ding hier um die Ohren geflogen!“ Er machte eine Pause und schaute grimmig von einem zum anderen. Auch der blaue Mann war unter ihnen. Auf ihm ließ Jakob dann seinen Blick verharren. Der blaue Mann schwitzte noch mehr, als er es sowieso schon tat.
„Stefan!“ Jakob schüttelte den Kopf. „Was hattest du denn auf der Lichtung zu suchen? Du weißt doch, dass Elisa immer wieder dorthin geht. Gerade an Tagen wie heute!“
„Ich. Äh“, stammelte der Angesprochene und zuckte dann nur müde mit den Schultern.
„Ich hätte Elisa gerne langsam und behutsam darauf vorbereitet, meine Nachfolgerin zu werden. Aber nein, jetzt muss alles hoppladihopp gehen.“ Jakob hielt kurz inne und blickte vorwurfsvoll zu Janos.
„Und du hast nichts besseres zu tun, als Elisa heimlich aufzulauern und ihr noch mehr den Kopf zu verdrehen?!“ Jakob schüttelte den Kopf.
„Na und, sie wird doch sowieso bald von all dem hier erfahren. Also warum soll ich sie nicht jetzt schon sehen dürfen?“, entgegnete Janos schroff. In seinen Augen lag der Trotz eines kleinen Jungen.
„Weil es nicht geht!“, donnerte Jakob. „Das ist gegen jede Regel. Und darum hat es auch keine Zukunft. Sei doch nicht so dumm!“ Im Grunde konnte Jakob dem jungen Mann, der ihn gerade so trotzig anschnauzte, nicht wirklich böse sein. In gewisser Weise verstand er ihn besser, als Janos wohl ahnte. Er kannte die Gefühle und Beweggründe eines jungen, vor Kraft strotzenden Mannes nur zu gut. Aber diese Verbindung zwischen Janos und Elisa war aberwitzig und würde am Ende den Codex sprengen. Und wenn das geschah, dann waren sie alle verloren; alle mit Mann und Maus. Restlos. So viel Einsicht konnte Jakob aber von Janos beileibe noch nicht erwarten.
„Regeln. Regeln“, ereiferte Janos sich nun weiter. „Zum Teufel mit den Regeln! Wo bleiben denn wir? Tag für Tag schuften wir hier brav für alle. Ohne zu murren, ohne zu jammern. Wer dankt es uns? Niemand. Die da drinnen wissen ja gar nicht mal, dass es uns gibt. Warum sollen wir denn auf alles verzichten, nur damit die da“, Janos zeigte auf den Bildschirm hinter Jakob, „in Ruhe und Frieden leben können? Ich hab auch meine Träume und Sehnsüchte. Und verdammt nochmal, ich will auch etwas von meinem Leben haben. Wie wir alle!“
Als er dies sagte, blickte Janos in die Runde und erhielt nickende Zustimmung von den anderen, die solche Worte gar nie in den Mund genommen hätten.
Jakob seufzte. Bis vor kurzem hatte er noch geglaubt, es wäre alles halb so schlimm und die kleinen Missgeschicke ließen sich schon wieder ausbügeln. Doch nun stellte er bedrückt fest, dass dem nicht so war. Ihr aller Leben war in Aufruhr geraten. Weshalb bloß? Was hatte er falsch gemacht? Da standen sie nun – die paar Leutchen – sahen ihn unverhohlen an und warteten auf seine Antwort. Was sollte das werden? Eine Meuterei? Das wiederum belustigte den Mann mit den wehenden, grauen Haaren.
Er überlegte sorgfältig, ehe er ihnen etwas antwortete: „Da sagst du etwas Wahres, Janos. Ihr dürft aber nicht vergessen, dass ich selbst nur einer von euch bin. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin zwar der, der zwischen unseren Welten hier hin und her wandelt. Aber das macht mich eher zu einem Außenseiter auf beiden Seiten. Glaubt ihr, ich hätte nicht selbst Träume und Wünsche so wie ihr hier. Niemand von euch weiß, wie viele Stunden ich darüber schon abgrundtief traurig war. Doch was soll ich, was sollen wir tun? Ihr kennt alle so gut wie ich das Gebilde, in dem wir leben. Ihr wisst, wie es funktioniert. Wir wissen alle, dass es nur noch existiert, weil wir zusammenhalten. Wir sind nunmehr die Letzten. Regeln hin. Regeln her. Es ist eine Frage des Überlebens. Sein oder Nichtsein, das ist die Frage, vor der wir stehen. Und ich, ich will leben!“ Jakob hatte reihum jedem einzeln in die Augen geblickt, als er seine wohlüberlegten Worte sprach. Er fühlte den Zwiespalt, das Verlangen jedes Einzelnen.
„Aber das ist doch kein Leben!“, haderte Janos noch immer, aber schon merklich leiser.
„Nein, das ist es wahrhaftig nicht. Aber die, die daran die Schuld tragen, können wir leider nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Die sind längst zu Staub zerfallen.“ Jakob legte Janos tröstend die Hand auf die Schultern.
„Ich weiß, wie hart es ist, sich jeden Morgen von neuem aufzurichten und weiterzumachen. Kommt, lasst uns noch einmal unsere Vorfahren heraufbeschwören, damit sie uns ihre Botschaft, unseren Codex, vermitteln. Nur wegen dieser Regeln sind wir noch am Leben. Und wegen des Codex sind auch noch all die Menschen am Leben, die wir am meisten lieben. Das dürft ihr nie vergessen.“
Der letzte Satz verfehlte seine Wirkung nicht. Hatte doch ein jeder Eltern und Geschwister dort drinnen. So brach Janos Widerstand und der der Gruppe in sich zusammen. Müde und zermürbt suchten sich alle einen Sitzplatz. Jakob drückte ein paar Knöpfe und setzte sich mitten unter sie. Sie alle hatten dies schon unzählige Male erlebt. Die Tür ging auf und ein großer, erhaben aussehender Mann trat ein. Ihm folgten noch zwölf weitere Männer, die sich jedoch still im Hintergrund hielten. Tamron, so hieß der Anführer, begann zu sprechen. Er fand immer wieder die richtigen Worte, die es vermochten, sie auf wundersame Weise auf den rechten Pfad zurückzuführen und ihnen neue Kraft zu geben. Worte, die unmittelbar ihre Herzen berührten.