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Was verstehen wir unter Prozesspsychologie?

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Eine Untersuchung von Macy & Izumi (1993; hier dargestellt nach Nerdinger et al. 2008, S. 165) macht deutlich, welche Maßnahmen auf welcher Organisationsebene die stärksten Effekte haben:

• Wird die gesamte Organisation in die Veränderung einbezogen (Prozesse und Struktur), so hat dies den deutlichsten Einfluss auf betriebswirtschaftliche Ergebnisse.

• Teamentwicklung und andere Interventionen auf Gruppen- bzw. Abteilungsebene entfalten ihre stärkste Wirkung in Bezug auf das Verhalten der Mitarbeiter.

• Interveniert man auf individueller Ebene, bleibt dies meist ohne Effekt, sowohl in Bezug auf betriebswirtschaftliche Ergebnisse als auch in Bezug auf das Verhalten oder die Einstellung von Mitarbeitern. Selbst hoch spezifisch angepasste Maßnahmen erzielen nur eine geringe messbare Wirkung.

Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zu der in der Praxis häufig anzutreffenden Vermutung, auftretende Probleme seien in erster Linie an einzelnen Personen festzumachen. Dementsprechend werden Maßnahmen zur Behebung der Probleme zunächst auf der individuellen Ebene angesiedelt – und damit falsch verortet. In der Hoffnung, die Erweiterung von Kompetenzen trage zur Verbesserung bei, werden die betreffenden Mitarbeiter und Führungskräfte zu Schulungen oder Trainings geschickt. Der Transfer des dort Gelernten in die Unternehmenspraxis ist jedoch schwierig, weshalb solche Interventionen oft ergebnislos bleiben. Die Ursachen für den »Kurzschluss«, die Verantwortung für Problemlagen auf der individuellen Ebene zu suchen, liegen in der Unterschätzung des Einflusses, der von der Gruppen- und Organisationsebene ausgeht. Fehlerhaftes Verhalten ist mehr eine Frage des das Verhalten bedingenden Systems denn des handelnden Individuums (vgl. Zimbardo 2007, S. 208). Hinzu kommt, dass durch die Eigenheiten des menschlichen Denkens vielschichtige Problemlagen auf einzelne Ursachen bzw. Personen reduziert werden, wodurch die Lage handhabbarer und weniger komplex erscheint, es aber in keiner Weise ist (vgl. Dörner 2007). Organisationaler Wandel gelingt im Sinne der Verbesserung betriebswirtschaftlicher Ergebnisse insbesondere dann, wenn die gesamte Organisation in das Veränderungsvorhaben einbezogen wird (vgl. Macy & Izumi 1993). Stark vereinfachte Vorstellungen über die Steuerbarkeit von Wandel sind deshalb fehl am Platz. Mit Morgan (1997, S. 473 f.) plädieren wir deshalb dafür, die vielfältige Realität in Organisationen durch mehrere Perspektiven zu betrachten. Die vorhandenen Organisationsentwicklungsansätze – und unter diesen insbesondere der systemische als der gegenwärtig populärste – sind bei genauerer Betrachtung den gegenwärtigen Entwicklungen als Einzelmodelle nicht gewachsen. Es scheint uns geboten, die organisationsentwicklerischen – oder um einen aus unserer Sicht treffenderen Begriff zu verwenden: organisationsanalytischen – Konzepte und Methoden wieder stärker an die technisch-betriebswirtschaftliche Perspektive ›rückzubinden‹. Wir versuchen, dieser Maßgabe gerecht zu werden, indem wir unsere psychologisch fundierte und auf den Veränderungsprozess selbst orientierte Auffassung von Wandel mit Konzepten und Methoden des Prozessmanagements als technischbetriebswirtschaftlich orientiertem Denkmodell zur Veränderung bzw. Weiterentwicklung von Unternehmensabläufen verbinden.

Veränderungen sind keine Wechsel von einem Zustand in einen anderen, und sie tragen auch nicht den Charakter von Prozessmusterwechseln mit klarem Anfang und Ende. Vielmehr findet Entwicklung dauernd statt, und zwar im Sinne eines zukunftsoffenen Evolutionsprozesses. Innovationen folgen einem Muster aus bewussten Überlegungen einerseits und Trial and Error andererseits (vgl. Sennett 2008, S. 73). Erfolg kann kaum geplant werden (vgl. Chia & Holt 2011; Harford 2011), wenn er aber auftritt, dann wird er mittels Organisation dauerhaft und effizient gemacht. Veränderungen, insbesondere aber Innovationen, können demzufolge nicht im Sinne des Managementbegriffes gesteuert werden, denn Management setzt voraus, dass sich die anstehenden Aufgaben steuern lassen. Doch gerade in Situationen des Wandels wird deutlich: Management kann lediglich steuern bzw. optimieren, was es schon gibt (vgl. Hinterhuber 2007, S. 20 ff.). Die Ausgangssituationen, die den Einsatz von externen oder internen Veränderungs- bzw. Innovationsakteuren nahelegen, sind zu komplex, als dass man sie mit einfachen Modellen und einer gehörigen Portion Entscheidungsfreude zur Lösung führen könnte.

Unter ›Prozesspsychologie‹ verstehen wir einen Ansatz, der sowohl das Phänomen Organisation mit seinen menschlichen Faktoren als auch die organisationalen Abläufe selbst umfasst. Wir stellen dabei weniger auf Organisationsstrukturen ab, sondern vor allem auf Prozesse, indem wir

1. die Veränderung von Organisationen als zukunftsoffenen Entwicklungsprozess begreifen, und

2. Modelle zum Verständnis der menschlichen Faktoren in Veränderungsprozessen auf den drei Interventionsebenen Personal, Gruppe und Organisation zu einer prozessualen Innensicht von Veränderungen integrieren, um damit

3. die klassischen Prozessmanagementkonzepte um wichtige methodische Elemente zu erweitern mit dem Ziel, einen interdisziplinären Ansatz zu schaffen, der die organisationsentwicklerische und die betriebswirtschaftlichen Denkweisen einander annähert und so der komplexen Realität in vielen Unternehmen und Organisationen gerechter wird.

Darüber hinaus begreifen wir die Beziehungen zwischen Organisationsanalytikern bzw. -beratern und Organisationen bzw. Führungskräften als Prozess im Sinne Scheins (2010c): Es ist schlicht unmöglich, die Belange einer Organisation so zu verstehen, dass man mithilfe einiger Modelle ›richtige‹ Rezepte anwenden könnte. Vielmehr geht es darum, auf der Grundlage einer »helfenden Beziehung«, wie Schein (ebd.) das Verhältnis zwischen Beratern und den Akteuren in Organisationen genannt hat, den Entwicklungsprozess der Organisation konstruktiv zu begleiten.

Das vorliegende Buch befasst sich mit einer prozessualen Innensicht von Veränderungen. Diesen zunächst noch nicht näher definierten Begriff klären wir im Zuge unserer interdisziplinären Betrachtungen, wofür wir zunächst die möglichen Grundhaltungen bzw. Rollen von Organisationsberatern auf der Grundlage von Schein (2010c) darstellen (Kapitel 2), um dann brauchbare und praxiserprobte Konzepte aus den Perspektiven Organisationspsychologie und Organisationskultur (Kapitel 2) sowie Prozessmanagement (Kapitel 3) und Wissen (Kapitel 4) miteinander zu verbinden.

Was bisher beschrieben wurde, hat zwingend auch eine ethische Dimension (Kapitel 5). Auf der ›offiziellen‹ Ebene werden zumeist gute Absichten postuliert, auf der ›inoffiziellen‹ Ebene geht es aber – oftmals unbewusst – um Gewinnen oder Verlieren (Argyris 1999). Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dieser Diskrepanz um evolutionäre Rudimente handelt, aber solche biologischen Erklärungsmodelle sind für die Praxis der Unternehmensveränderung kaum von Wert. Es geht vielmehr um die Frage, wie die ›inoffizielle‹ Ebene versteh- und verhandelbar gemacht werden kann, ohne dass Abwehrmechanismen (Lazar 2004, Mucchielli 1980) und defensive Routinen (Argyris 1985, 1999) doch wieder zu Kämpfen und Verzerrungen führen. Es soll deshalb hier auch um die Frage gehen, welche Konzepte, Haltungen und Methoden aus unternehmensethischer Sicht zu einer ›guten‹ – will heißen: im Interesse humanistischer Werte und einer nachhaltigen Entwicklung gelingenden – Beratung in Veränderungsprozessen beitragen. Beratung entfaltet ihre Wirkung durch bereits erwähnte helfende Beziehung zwischen Beratern und Führungskräften (Schein 2010c). Dabei kommt es vor allem auf die Werte und Überzeugungen auf beiden Seiten an. Insofern stellt die Ethik ein alle Dimensionen des prozesspsychologischen Ansatzes verbindendes Element und den Maßstab beraterischen Handelns dar.

Prozesspsychologie

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